Kabarett-Gott ?!

Mit welcher Vorstellung beginne ich, die Bibel zu lesen: jenes schöne Kapitel, mit den Sonne und Mond und den sieben Tagen?

Mit welcher Vorstellung beginne ich, die Bibel zu lesen: jenes schöne Kapitel, mit den Sonne und Mond und den sieben Tagen?

Die Frage ist halt, welches Bild von Gott wir haben wollen:
Ist er eher der Bio- und Erdkundelehrer, der unbedingt die Naturkunde im ersten Kapitel der Bibel unterbringen wollte?
Oder der Sowilehrer?

Oder kann man sich Gott als Kabarett-Texter denken, der einen genialen Text für eine Aufführung in Babylon geschrieben hat?
Und ich sehe die Juden mit trappelnden Füßen vor mir, wie der Vers mit den beiden großen Lampen am Himmel kommt, und sie denken sich in den Applaus hinein, dass es förmlich laut hallt: „Und du, König von Babylon, der du dich für das Ebenbild von Gott Sonne hältst und Schiss hast vor Gott Mond in der Nacht: Du fürchtest dich nur vor einer kleinen Lampe am Himmel. Und Ebenbild bist du … von einer großen Lampe. Herzlichen Glückwunsc h, Du Ebenbild der großen Lampe….“
Und dann kommt die Stelle mit dem „Gott schuf den Menschen zu seinem Ebenbild, männlich ebenso wie weiblich.“
Und den Zuhörerinnen und Zuhörern läuft es erregt den Rücken rauf und runter: Nicht nur der da oben, nein jeder Mensch soll als Ebenbild Gottes gelten.

Und so wurde der Erdkundelehrergott für mich völlig bedeutungslos.

Aber Jesus später, der mit dem „was ihr dem Geringsten (nicht) getan habt, habt ihr mir (nicht) getan“, der von sich als dem „ben Adam“, dem Menschen sprach und vielleicht doch nicht einen Würdetitel im Blick hatte, sondern Gen 1 , dass doch jeder Mensch Ebenbild Gottes sei, eben Mensch, der brachte das wieder in Erinnerung.
Lebt als Ebenbilder Gottes. Mensch sein und Mensch sein lassen…

Ich mag Gott, der Spaß hat an Literatur, an Kabarett, an Humor, an Gedichten und Liebestexten. Der anleitet, zu seinen Gefühlen zu stehen und zu Hasspsalmen. Weil, wenn man es artikulieren kann, vielleicht doch nicht umsetzt.
Weil der Feind doch auch nur ein Ebenbild Gottes ist…
Und so haben wir eine wunderbare Bibel bekommen.
Und kein Bio- oder Erdkundebuch.

Gottgewollte Diversivität

Wie vielfältig dürfen wir Gottes Schöpfung denken?
Wie vielfältig auch im Blick auf Konfessionen und Religionen?

Kurz gesagt bedeutet „Diversivität“: „Vielfalt“.Wir neigen dazu, Dinge oder Menschen in Schubladen zu stecken. Das betrifft nicht nur das Geschlecht, sondern auch die Auffassungen, Religionen, Parteien, Nationalitäten.

Wenn alle immer nur in dieselbe Richtung denken, ist das zwar irgendwie bequem, aber im Laufe der Zeit auch sehr gefährlich: Man verpasst möglicherweise wichtige Entwicklungen. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“
Darum entdecken immer mehr Firmen den Vorteil, einer vielfältig zusammen gesetzten Belegschaft. Die Vielfalt ist manchmal anstrengend, aber sie befruchtet auch. Man muss sich mit ganz unterschiedlichen Meinungen auseinander setzen, aber man lernt auch neue Perspektiven kennen: Auch Lösungsansätze, an die man im ersten Moment gar nicht gedacht hätte.

Neu ist das alles nicht.

Im 1. Petrusbrief 4,10 findet sich der Vers:
„Dient einander als gute Verwalter der vielfältigen Gnade Gottes, jeder mit der Gabe, die er empfangen hat.“

Wir sind alle unterschiedlich. Jeder und jede kann etwas besser als andere und ist dafür an anderer Stelle weniger begabt. Man kann an seinen Begabungen arbeiten und sie verbessern.

Alle aber können wir uns mit unserer Vielfalt gegenseitig bereichern:

Männer und Frauen,
Kinder und Erwachsene,
Junge, Mittlere und Alte,
Protestanten, Katholiken, Freikirchlicher,
Gläubige, Ungläubige und Andersgläubige,
Menschen aller Religionen und Länder,
Flüchtlinge und Geborgene,
Heterosexuelle, Homosexuelle, Transgeschlechtliche, wie immer auch wir fühlen und denken,
Konservative und Progressive.

Jede (m/w/d) ist ganz individuell anders.

Wir bereichern uns gegenseitig.
Das ist gut so.
Gottgewollt oder natürlich.
Denn Natur ist Vielfalt.
Und jede und jeder hat seine eigenen Fähigkeiten, mit wir alle uns einbringen können.

Bernd Kehren

Was glauben wir denn?

Die Diskussion um Kirchenaustritte ist wichtig, klammert aber den Kern der Frage aus: Unseren Glauben. Was glauben wir? Was ist Glauben? Was unterscheidet ihn vom Wissen? Und wie predigen wir unseren Glauben? Und wie gehen wir mit Zweifel um?

Die Diskussion um Kirchenaustritte ist wichtig, klammert aber oft den Kern der Frage aus: unseren Glauben. Was glauben wir? Was ist Glauben? Was unterscheidet ihn vom Wissen? Und wie predigen wir unseren Glauben? Und wie gehen wir mit Zweifel um?

Was mir fehlt, ist ein ehrlicher Umgang mit den Inhalten unseres Glaubens und Wissens.

  1. Wir unterscheiden zu wenig Glauben und Wissen.
  2. Wir sind nicht ehrlich in dem Bereich, in dem es um das Wissen und Wissenschaft geht.
  3. Und wir tragen zu oft das Wissen in Bereiche, in denen wir „nur“ glauben können.

Immer noch herrscht der Irrglaube vor, in der Wissenschaft würde irgendetwas bewiesen. Richtig ist hingegen: In der Wissenschaft werden Theorien aufgestellt, die die Realität möglichst gut beschreiben. Und in der Tat beschreiben viele Theorien die Realität in einer sehr guten und sehr exakten Weise. Aber es bleiben Theorien. Denn zur Wissenschaft gehört untrennbar der wissenschaftliche Zweifel: Richard P. Feynman nannte Wissenschaft ohne diesen Zweifel Cargo-Kult-Wissenschaft, Scheinwissenschaft. Sieht aus wie Wissenschaft, ist es aber nicht. Zu dieser Problematik gehört eine Krise der Wissenschaft hinzu. Wird heute eine wissenschaftliche Untersuchung in Auftrag gegeben, traut ihr so gut wie niemand mehr zu, dass sie im Sinne Feynmans ehrliche Resultate (gute realitätsnahe Theorien) zustande bringt, sondern nur noch, dass sie die Interessen des Auftraggebers darstellt.

Was hat das mit dem Glauben zu tun? Viele Menschen behaupten, nur noch das glauben zu wollen, was bewiesen sei. Man schaue sich allein Wirksamkeitsstudien in der Medizin an, deren „Erweis“ rein statistisch ist. Wenn in Doppelblindstudien eine signifikant höhere Erfolgsquote erzielt wird, gilt die Medizin als wirksam. Bittesehr: Was ist da genau „bewiesen“?

Wir sollten das auch in unseren Predigten und Bibelarbeiten immer deutlich herausarbeiten: Wissenschaft gibt es nicht ohne den wissenschaftlichen Zweifel – oder es ist keine Wissenschaft mehr.

Richard P. Feynman steht zu diesem Zweifel und bewundert an dieser Stelle den Glauben, der Gewissheit habe. Genau da möchte ich ihm widersprechen. Denn auch zum Glauben gehört der Zweifel. Dabei hat es der Glaube noch schwerer als die Wissenschaft. Denn die Wissenschaft arbeitet „immanent“: mit den Dingen und Zusammenhängen, die man sehen oder messen kann. Wenn wir vom Glauben sprechen, kommt die Transzendenz hinzu. Ich kann mir einen Gott nicht denken, der (nur) immanent ist. Einen immanenten Gott kann ich untersuchen und Theorien bilden, wie es in der Wissenschaft üblich ist. Einen wissenschaftlichen Gegenstand kann ich im Rahmen der Untersuchung manipulieren, vielleicht sogar in Scheibchen schneiden, einfärben, Theorien bilden: Was sollte daran sein, was die Bezeichnung „Gott“ verdient?

„Gott“ ergibt für mich nur dann einen Sinn, wenn damit Transzendenz verbunden ist. Und damit ist Gott der Sphäre des Wissens grundsätzlich entzogen.

Und da liegt ein grundsätzliches Problem der Theologie. Solange sie sich dies nicht klar macht, versucht sie Gott in ihren Dogmen möglichst genau und immer genauer zu beschreiben. Insbesondere die katholische Kirche hat sich auf diese Weise in ein Glaubenssystem eingemauert, das immer stärker im Widerspruch zur erlebten Welt steht, dass dem zurecht immer weniger Menschen Glauben schenken.

Aber auch in der protestantischen Welt wird Glaube zu oft in dieser Weise gepredigt. Im fundamentalistischen Bereich ist man darauf sogar stolz. Man versucht, den transzendenten Gott mit immanenten Mitteln beweisbar oder zumindest plausibel zu machen. Während die Evolutionstheorie ja „nur“ Theorie sei, habe man mit dem Gottglauben etwas Sicheres in der Hand und sei der Wissenschaft überlegen.

Erstens nimmt man dabei die Wissenschaft nicht ernst und zweiten nicht den Glauben.

Was soll das sein, ein sicherer Glaube? Wenn es diesen sicheren Glauben gäbe, gäbe es irgendwo einen immanenten Punkt, an dem ich meinen Glauben aufhängen oder festmachen kann. Aber dann hätte ich immanente Möglichkeiten, Gott zu bewerten oder zu beweisen und ich hätte immanente Fähigkeiten, diese Möglichkeiten zu unterscheiden und ihrerseits zu bewerten, ob sie denn auch wirklich das tun, was sie vorgeben. Im Ergebnis stünde ich „über“ Gott. Was soll das für ein Gott sein, den ich auf diese Weise immanent „bewiesen“ hätte?

Theologisch gedacht: Unser christlicher Glaube führt über das Kreuz. Und nach immanenten Kriterien ist dies die größte Niederlage und der größte Grund zu zweifeln.

Predigen wir das? Treten wir offensiv für diese Erkenntnis ein, sowohl, was den Zweifel in der Wissenschaft betrifft, als auch was den Zweifel im Glauben betrifft?

Angesichts jüngst geäußerter Zweifel von bekannten Musikern aus der Lobpreisszene kam im Gegenteil sofort der zweifelhafte Rat, über Glaubenszweifel möglichst nicht öffentlich zu sprechen. Was soll das?

Für viele Menschen ist der Glaube an die Auferstehung die Lösung. Auch dazu muss man ehrlich sagen: Die Auferstehung ist „unglaublich“. Doch, ich glaube auch daran. Aber es gibt im Bereich der Immanenz nichts, aber auch gar nichts, was dafür spricht. Als Notfallseelsorger habe ich immer wieder mit Notärzten zu tun, die sich die allergrößte Mühe geben, Menschen nach einen Herzstillstand zu reanimieren. Fragt doch mal einen solchen Notarzt, was er davon hält, dass jemand nach drei Tagen ohne Herztätigkeit wieder ins Leben erweckt wird. Nichts.

Nach zweitausend Jahren Christenheit ist manchem Christen die Rede von der Auferstehung so normal geworden, dass uns das Bewusstsein dafür verloren gegangen ist, wie wenig normal Auferstehung ist, wie unglaublich und unbegreiflich.

Ich kann mich Fälle von plötzlichem Kindstod oder von Unfällen mit Kindern erinnern, wo ich so gerne vor den Eltern gesagt hätte: „Im Namen Jesu Christi, steht auf, sei gesund, lebe!“ Aber ich kann es nicht. Trotz allen Glaubens.

Und wir wissen, dass deswegen die Auferstehung in der Bibel auch so „verschwommen“ beschrieben wird. Der Auferstandene wird nicht erkannt. Oder er wird an Dingen wie dem Brotbrechen erkannt, was doch nun wirklich keinen direkten Beweiswert hat.

Für mich persönlich hat dies zur Erkenntnis geführt, gläubiger Agnostiker zu sein. Und ich glaube, dass dies die einzige ehrliche Möglichkeit zu glauben ist. Auf der Ebene all dessen, was ich wissen kann, kann ich bei allen transzendenten Aussagen nur sagen: Ich weiß es nicht. Und ich muss damit leben, dass ich es nicht weiß.

Aber ich glaube. Ich kann trotz allem wissenschaftlichen und glaubensmäßigen Zweifel nicht vom Glauben lassen. Glaube gilt in der Theologie als ein Geschenk. Und ich weiß nicht, warum ich ihn geschenkt bekommen habe. Damals, als ich konfirmiert wurde, war ich mir meines Glaubens nicht sicher und habe mich nur nicht getraut, darüber zu sprechen. Inzwischen bin ich dankbar, dass ich mich damals habe konfirmieren lassen. Denn es hätte niemals in meinem Leben den Punkt gegeben, an dem ich nach immanenten Kriterien sicher gewesen wäre.

Aber dann kam das Theologiestudium. Da habe ich eine Menge gelernt, was man wissen kann. Zum Beispiel, wie diskursiv das Judentum ist. Wie intensiv im Talmud über den Glauben diskutiert wurde, im Pro und Kontra. Wie man sich im Judentum weigert, über Eigenschaften Gottes zu diskutieren und an dieser Stelle schweigt. Und wie weise diese Entscheidung war, damals oft angesichts von figürlichen Gottesdarstellungen und -statuen.

Da habe ich auch gelernt, wie vielschichtig die Bibel ist, widersprüchlich, nicht perfekt.

Gerade sehr fromme Menschen weisen auf Bibelverse hin, in denen vor der Philosophie gewarnt wird, menschliche Klugheit könne gegen Gott und den Glauben nichts ausrichten (Kol 2,8). Aber wenn es um die Unfehlbarkeit der Bibel geht, merken sie nicht, wie sie philosophischem Denken auf den Leim gegangen sind nach dem Motto: Gott muss als unfehlbar und allmächtig gedacht werden. Wenn Gott so ist, muss auch ein Buch, das er herausgibt, unfehlbar und widerspruchsfrei sein. Und so machen sie sich die Bibel dann passend. Keiner hat Gott gefragt, ob er die Bibel unfehlbar und widerspruchsfrei herausgeben wollte.

Wenn ich mir die Bibel anschaue, und wenn ich davon ausgehe, dass es Gott irgendwie gibt, dann hat er allem Anschein nach nicht die Absicht gehabt, die Bibel unfehlbar und widerspruchsfrei herauszugeben.

In der Theologie habe ich dann den Slogan vom „Gotteswort im Menschenwort“ kennengelernt. Und ich habe die kritische Theologie lange Zeit so kennen gelernt, dass sie versuchte, aus all dem Menschenwort das Gotteswort „herauszudestillieren“. Aber heraus kam immer nur das, was der jeweiligen Destillationstemperatur entsprach: Stellte man die „Temperatur“ auf „revolutionär“, bekam man einen revolutionären Jesus und einen revolutionären Gott. Man konnte die Temperatur auch auf „sozialkritisch“ stellen, als „Wanderprediger“ oder sonst irgendwas. Was unbequem war, konnte man schnell als „zeitbedingt“ abtun oder als „Gemeindebildung“. Übrig blieben dann echte Gottesworte, mit denen man Schöpfungstheologie oder sonst Wichtiges begründen konnte. Und selbst jetzt noch soll es NT-Programme geben, in denen Neutestamentler mit Mehrheitsentscheidung beschließen, welche Verse auf Jesus zurückgehen und welche nicht. Darum bin ich sehr empfindlich, wenn ich diesen Slogan vom „Gotteswort im Menschenwort“ höre.

Dabei kann man ihn auch so verstehen, dass wir Gottes Wort nur so haben, wie wir es haben: Ohne Urschriften. Nur in divergierenden Abschriften. In unterschiedlichem Umfang (mit oder ohne biblische Apokryphen). In unterschiedlichen Übersetzungen unterschiedlicher Qualität. Von Menschen gemacht. In unterschiedlichen Auslegungen. All das ist als Bibel Wort Gottes und Richtschnur für unser Leben. Aber nicht als eine Art Pfadfinderhandbuch (da schlägt man für eine bestimmte Lebenssituation die richtige Seite auf. Wenn man dann genau nach Anleitung verfährt, hat man sich sicher richtig verhalten), sondern als ein Buch, das zu Freiheit und Verantwortung anleitet und manchmal sogar zum Widerspruch. Wie bei Abraham: „Lieber Gott, wenn es 50 Gerechte in der Stadt gibt, kannst Du sie doch nicht im Ernst vernichten wollen!“ Oder: „Auch die Hunde essen doch von dem, was vom Tisch fällt!“

Und wenn es hundert Bibelverse gibt, die ein bestimmtes Verhalten nahe legen: Wenn das Verhalten jetzt in dieser Situation falsch ist, dann ist es dennoch falsch. Gott, wenn es ihn gibt, wird es mir unter die Nase reiben. Und wenn ich dann sage, „aber es gab doch all diese Verse“, dann wird er mich an den alten Elternspruch erinnern: „Und wenn dein Freund sagt, spring von der Brücke, springst Du dann auch von der Brücke?“ Na also!

Ich kann das jetzt nicht ausführen, was mir an meinem Glauben so gefällt: Gott, der Niederlagen kennt. Und von dem ich leidenden Eltern, wenn sie mich fragen sollten, sagen kann: Gott weiß, was Sie empfinden, denn er hat es auch erlebt.

Ich kann einen Glauben predigen, der keine Garantie vor Schicksalsschlägen bietet, aber davon spricht, dass wir trotzdem getragen sind. Beweisen kann ich es nicht. Ich weiß nicht mal, ob ich dann noch glauben kann, wenn meinen eigenen Kindern etwas von dem passiert, bei dem ich als Notfallseelsorger anderen Eltern beistehe. Und ich hoffe, dass mein Glaube niemals auf diese Weise auf die Probe gestellt wird. Auch um meiner Kinder willen.

Aber ich weiß, was vielen Menschen den Glauben verleidet: dass „wir“ ihn zu oft mit Sollbruchstellen predigen. Ich zucke in Kindergottesdiensten zusammen, wenn der sinkende Petrus mit einer Inbrunst so gepredigt wird, dass er mit dem richtigen Glauben nicht untergegangen wäre. Ist uns klar, dass wir mit solcher Predigt Sollbruchstellen in den Glauben unserer Kinder einbauen? Und dass das irgendwann einmal Einfluss auf Kirchenaustrittszahlen haben wird?

Wie vielen von den älteren Christen ist beigebracht worden, dass das Christentum in der Evolution der Religionen die beste und moralischste und höchste sei? Kein Wunder, dass die Austrittszahlen hochspringen angesichts von sexuellem Missbrauch!

Wie oft haben wir davon gepredigt oder noch Predigten gehört, wie toll es damals in der Urgemeinde war? Und dann ging es nur noch bergab. Aber wenn wir wieder so toll wären wie in der Urgemeinde und deren Glauben hätten, dann …! Haben wir die Bibel nicht gelesen, wie die gezankt haben wie die Kesselflicker, auch in zentralen Glaubensfragen? Und was für windige Gesellen die zwölf Apostel waren?

Warum predigen wir so wenig davon, wie sehr und wie sich die Gemeinden des Alten und Neuen Testaments mit dem Glauben der Umwelt auseinandergesetzt haben? Warum z.B. Sonne und Mond in der Urgeschichte nur „das große Licht und das kleine Licht“ genannt werden? Warum nicht nur der König Ebenbild Gottes ist, sondern jeder Mensch, gleichberechtigt männlich wie weiblich (und dass damit keine abschließende Aufzählung verbunden ist, sondern eher eine inklusive Aufzählung)?
Es gibt in der Bibel im Gespräch mit ihr so viel zu entdecken. Wenn man mich fragt: so viel Freiheit und so viel Aufruf zu eigener und gesellschaftlicher Verantwortung. Soviel Aufruf, auch mit Gott zu ringen – und sich zugleich demütig auf ihn einzulassen.

Und sich auf den Zweifel einzulassen, vielleicht wie Dietrich Bonhoeffer in jenem bekannten Text „Wer bin ich?
Die vielen soziologischen Diskussionen darüber, wie man auf die Kirchenaustritte reagiert, sind sicher wichtig. Aber wir dürfen auch den Kern nicht vergessen: unseren (bibeltreuen) Glauben.
Lassen wir uns auf die Bibel ein – so wie sie ist? Predigen wir im Gespräch mit der Bibel – so wie sie ist? Und was bedeutet das für unseren Glauben? Oder haben wir eine Dogmatik im Hinterkopf, wie man auch „schon immer“ gepredigt hat, dass die Bibel sein müsste, und predigen wir diese Dogmatik? Und wehe dem, der davon abweicht?

Wo lassen wir uns jeweils auf diese Dogmatik ein, ohne uns dessen noch bewusst zu sein? Wo bauen wir darum die Sollbruchstellen im Glauben unserer Gemeindeglieder ein? Und in unseren eigenen Glauben? Wo stehen wir zu Zweifel und wo sind wir Vorbild, mit diesem Zweifel umzugehen?

Manchmal sage ich: „Wenn ich nicht mehr zweifele, dann bin ich tot.“ Solange ich lebe, werde ich zweifeln. Aber möglichst lange werde ich von meinem Glauben erzählen, der mir bisher trotz des Zweifels geschenkt ist. Und ich habe das Gefühl, dass dieses Erzählen weniger Sollbruchstellen hervorruft.
Wenn wir über Kirchenaustritte reden, lasst uns auch über Glauben und Zweifeln und solche Sollbruchstellen reden und lasst uns ehrlich bleiben angesichts dessen, was jedem von uns im Leben passieren kann.

Einmütigkeit trotz schwerster Differenzen

Predigt zum 3. Advent 2018 (Röm 15,4-13), Bad Münstereifel

Bevor ich zum eigentlichen Predigttext aus dem letzten Kapitel des Römerbriefes komme, benötigt es heute einige Vorbemerkungen über über Martin Luther und das Verhältnis von Juden und Christen.
Vielleicht wissen Sie noch davon: für Martin Luther ist die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium besonders wichtig.

Das Gesetz hatte er als Mönch gelebt. Er wollte vor Gott gut dastehen. Im Bibellesen. In den Gebeten. In dem, was er an Bußübungen tat. So sehr, dass sein Prior ihm sagen musste: „Martin Luther, wenn du so weiter machst, treibst du uns alle in den Wahnsinn. Wir können nicht mehr. Du möchtest möglichst gut bei Gott dastehen, indem du alle mönchischen Regeln erfüllst. Du zwingst uns auch, alle diese Regeln zu halten. Aber wir können es nicht in dieser Intensität.“

Und dann entdeckt Luther die Verheißung, dass Gott gnädig ist – aus sich heraus: einfach weil er ein barmherziger Gott ist. Wir können nichts tun, um Gott gnädig zu stimmen. Gott ist schon immer ein barmherziger Gott.

Und nun sieht er sich im Konflikt mit der katholischen Kirche. Für ihn ist die katholische Kirche eine Kirche, die viele Regeln aufstellt, die man alle einhalten muss.

Und davon distanziert sich Martin Luther.

Gott ist gnädig aus sich heraus. Den Himmel bekommen wir geschenkt. Es gibt nichts, was man dafür tun kann, um in den Himmel zu kommen. Wer etwas tun möchte, um in den Himmel zu kommen, wird den Himmel verfehlen.

Und nun passiert folgendes: Luther identifiziert sich selber mit Paulus, von dem er diese Erkenntnis hat. Und Luther glaubt, dass Paulus gegenüber dem Judentum in dem selben Konflikt gestanden hat wie er, Luther, im Konflikt mit dem Katholizismus steht.

Egal was in der Bibel steht: Martin Luther ist davon überzeugt, dass Juden aus Werkgerechtigkeit in den Himmel kommen wollen.

Dass auch die Juden eine solche Werkgerechtigkeit ablehnen könnten und schon immer an einen gnädigen Gott glauben, kommt für Martin Luther überhaupt nicht in den Sinn.

Luther ist in seiner Auseinandersetzung mit dem Katholizismus so gefangen, dass er selbst dann, wenn es ganz anders in der Bibel steht, trotzdem daran festhält: Juden halten das Gesetz nicht aus Liebe zu Gott, sondern um Gott dazu zu bringen dass sie in den Himmel kommen. Darum sind die Juden für Luther die allerschlimmsten Sünder. Und darum hat er auch noch in seinen allerletzten Lebenstagen dafür gesorgt, dass die letzten noch verbliebenen Juden aus dieser Umgebung vertrieben werden.

Im Blick auf die Juden hat Martin Luther die Bibel völlig falsch gelesen und falsch interpretiert. Und das schlimme ist: in der deutschen Theologie setzt sich das noch fast bis heute immer weiter fort.
Auf diese Weise gilt Paulus als der, der sich vom Juden Saulus zum Christen Paulus gewandelt hat.

Wenn man aber die Bibel ganz genau liest, fällt einem auf, dass Paulus Zeit seines Lebens Jude geblieben ist. Er hat die Synagoge besucht, wo immer er in einen neuen Ort gegangen ist.

Generell muss man festhalten, dass sich die Jünger und Schüler von Jesus niemals selber als Christen bezeichnet haben, sondern eben immer z.B. als Schüler bzw. wie wir heute noch gewohnt sind zu sagen:: als Jünger. Und sie haben nie aufgehört, sich als Juden zu empfinden.
In der englischsprachigen Theologie gibt es schon seit den 70er Jahren die sogenannte „neue Perspektive auf Paulus“, die nach intensivem Bibelstudium genau das festhalten hat:
Wir verstehen Paulus nur dann richtig, wenn wir auf die vielen Indizien achten, dass er Zeit seines Lebens Jude geblieben ist, wie im übrigen auch alle andere der ersten Schülerinnen und Schüler Jesu.

Das vorweggenommen, möchte ich nun den Predigttext vorlesen – in der Übersetzung meines alten Neutestament-Professors Klaus Wengst.

Römer 15,4-13 (Klaus Wengst)

4Alles nämlich, was zuvor geschrieben worden ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben worden, damit wir mit Beharrlichkeit und unter Ermutigung vonseiten der Schriften Hoffnung haben. 5Gott, die Quelle von Beharrlichkeit und Ermutigung, gebe es, dass ihr untereinander einmütig seid entsprechend dem Maßstab, den der Gesalbte vorgibt, 6damit ihr übereinstimmend aus einem Mund Gott loben können, den Vater Jesu, des Gesalbten, unseres Herrn. 7Deswegen: Nehmt einander auf, wie auch der Gesalbte euch aufgenommen hat – zum Lobe Gottes. 8 Ich sage ja: Der Gesalbte ist Diener des Volks der Beschneidung geworden zum Erweis der Treue Gottes, um die den Vorfahren gegebenen Verheißungen zu bestätigen; 9und die Völker loben Gott für sein Erbarmen. Wie geschrieben steht: „Deshalb will ich Dich bekennen unter den Völkern und Deinem Namen lobsingen“ (Ps 18,50). 10und wiederum sagt die Schrift: „Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk!“ (Dtn 32,43) 11und wiederum: „Preist, all ihr Völker, Adonaj! Loben sollen ihn alle Nationen!“ (Ps117,1) 12Und wiederum sagt Jesaja: „Bestand haben wird die Wurzel Isais; und der aufsteht, über Völker zu herrschen – auf ihn werden die Völker hoffen“ (Jes 11,10). 13Gott, die Quelle der Hoffnung, erfülle euch im Vertrauen auf ihn ganz und gar mit Freude und Frieden, damit ihr Kraft des Heiligen Geistes voller Hoffnung seid.

(Aus: Klaus Wengst, „Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk!“ Israel und die Völker als Thema des Paulus – ein Gang durch den Römerbrief, Stuttgart, 2008)

Worum geht es in diesen Versen?

Ein wichtiges Wort ist die Einmütigkeit. Wir sollen einmütig sein.

Darüber könnte man nachdenken, völlig ohne einen Bezug auf das Judentum. In der katholischen Kirche wird damit die Ablehnung des gemeinsamen Abendmahl begründet. Wir stimmen in der Lehre nicht über ein. D. h. wir sind nicht einmütig. Deswegen dürfen wir nicht zusammen Abendmahl feiern.

Wenn man sich allerdings anschaut, um was es im Römerbrief in den Versen zuvor, kommt man zu einer völlig anderen Auffassung.

In den Versen zuvor setzt sich Paulus mit folgendem Problem auseinander: wie können Nichtjuden und Juden, die gemeinsam an Jesus glauben, zusammenleben?

Müssen Nichtjuden, die an Jesus glauben, erst Juden werden? Dürfen Juden mit diesen Nichtjuden zusammen essen, wenn die Nichtjuden sich nicht an die Reinheitsgebot erhalten?

Das spannende daran ist: Paulus findet keine klare Regel, an die sich alle halten müssen.

Sondern Paulus sagt: wer glaubt, sich an die Regeln halten zu müssen, der möge sie einhalten.

Wer glaubt, er kann an Christus glauben, ohne die Regeln einzuhalten, der kann das tun. Aber keiner von beiden soll sich dem anderen überlegen fühlen.

Beide sollen zusammen an den Gesalbten, also an Christus glauben können.

Und sie sollen Rücksicht aufeinander nehmen.

Diejenigen, die größere Freiheit empfinden, sollen nicht auf die hinab schauen, die sich strengeren Regeln verpflichtet fühlen. Und die sollen sich so verhalten, dass die anderen trotzdem kommen können ohne sich ausgeschlossen zu fühlen.

Die ersten Verse aus unserem Predigttext sind der Schluss dieser Passage.

Nichtjüdische und jüdische Schüler von Jesus sollen jeweils nach ihrer Auffassung leben und die Gesetze einhalten oder auch nicht einhalten, aber sie sollen das aus Liebe zu Jesus tun, und sie sollen trotzdem einmütig bleiben.

Einmütigkeit hat also nichts damit zu tun, ob alle einer Meinung sind. Ganz im Gegenteil: Einmütigkeit sollen gerade diese sein, die völlig unterschiedlicher Meinung sind.

Einmütigkeit sollen sie im Gotteslob zeigen.

Und Gott soll gelobt werden, weil er ein barmherziger Gott ist. Gott ist nicht erst mit Jesus barmherzig. Sondern Gott ist schon das ganze Alte Testament von der ersten Seite an ein barmherziger Gott. Dafür loben ihn die Juden. Und dafür sollen ihn auch alle anderen Völker loben. Weil Gott ein barmherziger Gott ist. Und weil Gott ein barmherziger Gott ist sind wir voller Hoffnung.

Aber das bedeutet eben nicht – wie Christen so lange gepredigt haben -, dass die Juden davon ausgeschlossen sind. Oder dass Juden nicht an den barmherzigen Gott glauben.

Sondern: schon Jesaja hat hat an den barmherzigen Gott geglaubt. Ganz Israel hat an den barmherzigen Gott geglaubt. Unter diesen barmherzigen Gott werden auch die Völker glauben. Und wir heute glauben auch an diesen barmherzigen Gott und deswegen sollen wir einstimmen in das große Gotteslob: preist ihr Völker den Herren. Hört nicht auf Gott zu loben. Alle Nationen sollen ihn loben. Gott ist treu. Er verlässt sein Volk nicht. Und er wird auch uns nicht verlassen, die wir zu seinem Volk hinzugekommen sind.

Wie anders würde die Welt aussehen, wenn Christen das immer ernst genommen hätten.

Wie anders würde die Welt aussehen, wenn Christen immer den barmherzigen Gott gepredigt hätten.
Stattdessen haben Christen gerne den Richter Gott gepredigt-und dann gleich selber den Richter gespielt. Sie selber, die Christen, waren dann immer die guten. Und die anderen waren die bösen. Die Juden waren die, die als besonders böse galten.

Und die lutherische Auslegung hat dazu erheblich beigetragen.

Was haben wir Christen an dieser Stelle für Schuld auf uns geladen!

Wie konnte man Paulus nur so schrecklich missverstehen!

Paulus predigt von der Barmherzigkeit und der Einmütigkeit – gerade auch zwischen Juden und Nichtjuden in der Nachfolge Jesu. Und Christen hatten nichts besseres zu tun, als Juden aus der Gemeinschaft auszuschließen und zu verfolgen.

Wenn wir jetzt auf Weihnachten zu gehen und uns darauf freuen, sollten wir immer wissen: wir freuen uns auf die Geburt des Juden Jesus.

Wir glauben an einen Jesus, der zeitlebens Jude geblieben ist.

Und wir, die Menschen aus den Völkern, dürfen auch an diesen barmherzigen Gott glauben, an den Jesus geglaubt hat.

Weihnachten nimmt uns hinein in den Glauben an den barmherzigen Gott.
Wir dürfen uns gegeneinander annehmen.
Das betrifft uns in unserem Verhältnis zum Judentum.
Aber mit Juden haben wir hier weniger zu tun. Es betrifft auch uns im Verhältnis zum Katholizismus.

Darum können wir z.B. andere Konfessionen gar nicht vom Abendmahl ausschließen. Wir sind gehalten, sie einzuladen.
5Gott, die Quelle von Beharrlichkeit und Ermutigung, gebe es, dass ihr untereinander einmütig seid entsprechend dem Maßstab, den der Gesalbte vorgibt, 6damit ihr übereinstimmend aus einem Mund Gott loben können

Hier steht, dass wir gemeinsam Gott loben sollen. Und in den Versen direkt vor unserem Predigttext finden wir, dass wir auch zu den Mahlfeiern einmütig kommen sollen.

Dieser Gott ist es, dem wir unsere Lieder singen, den wir rühmen, den wir loben: wegen seiner Barmherzigkeit.

Darum sind die Lieder, die wir noch in diesem Gottesdienst singen werden, auch im tiefsten Sinne Adventslieder. Auch wenn die Melodie möglicherweise sich gar nicht so adventlich oder weihnachtlich anhört.
Aber es ist das Lob des barmherzigen Gottes, der seine Barmherzigkeit im Gesicht des Kindes in der Krippe zeigt und auf diese Weise seinen Frieden zu uns bringen möchte.

Bernd Kehren

Gottes Bibel – Inspiration und Widersprüche

Gottes Bibel – Inspiration und Widersprüche

Die Abfrage

Ich würde gerne einmal abfragen:

  • Wer glaubt, dass die (ganze) Bibel Gottes Wort ist?
  • Wer glaubt, dass die Bibel völlig ohne Widersprüche ist?
  • Wer glaubt, dass die Bibel von Menschen gemacht und daher Widersprüche enthält?
  • Und wer glaubt, dass sich in diesem Menschenwort Gottes Wort wiederfindet?
  • Und dieses Gotteswort, dass man dann findet: Wer glaubt, dass das ohne Widersprüche ist und unmittelbar befolgt werden muss?

Wie denken wir über Gott?

In “Kurz gefragt” (Chrismon 02/2008) fragt ein Leser danach, warum Gott die bösen Menschen in der Sintflut mit dem Tode bestraft und sich damit selber nicht an das Tötungsverbot hält, dass er nun selber erlässt.

Burkhard Weitz beginnt seine Antwort darauf mit den Worten:

„Die Bibel ist voller Widersprüche. Sie ist eben nicht verbal inspiriert, sondern von Menschen geschrieben.“

Dieser Satz hat eine Voraussetzung: Gott ist ohne Widersprüche. Widersprüchliches muss dann vom Menschen kommen.

Was wäre eigentlich, wenn wir erkennen, dass Gott sehr wohl widersprüchlich sein kann? Unfassbar? Rätselhaft? Manchmal auch brutal?

Darum hat Karl Barth von Gott als dem „ganz anderen“ gesprochen. Dietrich Bonhoeffer sagte: „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“

Wer über Gott spricht, musste sich schon immer darauf einlassen, wie rätselhaft und unfassbar Gott ist. Gibt es Gott überhaupt? Wie gehen Menschen mit ihrem Zweifel um?
Ist die Bibel wirklich Gottes Wort?

Gottesbeweise

Als im Judentum die (hebräische) Bibel ins Griechische übersetzt werden musste, sagte die Legende, dass 70 Gelehrte in sieben Monaten die ganze (hebräische) Bibel übersetzte hätten – und Gottes Geist habe dafür gesorgt, dass alle diese Übersetzungen aufs Wort übereinstimmten. Auf diese Weise greifen Gottesbeweis und Bibelbeweis ineinander: Menschen machen Fehler, daher kann eine perfekte Bibel nur von Gott kommen. Diese Übersetzung ist zumindest im Blick auf die Übereinstimmung perfekt, also gibt es Gott.

Auch später wurde immer wieder versucht, nach bestimmten logischen Regeln einen Gott zu konstruieren, der in sich widerspruchsfrei ist und als „bewiesen“ gelten kann. Spätestens bei Kant mussten wir aber anerkennen, dass Gott sich der Beweisbarkeit entzieht.

Ich finde das auch unmittelbar einleuchtend. Nehmen wir einmal an, wir könnten Gott beweisen. Die logische Folge ist: Wir wären mehr als Gott. Wir könnten nicht nur den Beweise an sich führen, wir wären sogar in der Lage zu beurteilen, ob diese Beweisführung stimmig ist. Wer einen solchen Beweise führen kann, steht über Gott. Gott wäre dieser Beweisführung unterworfen. In der Konsequenz hätten wir bewiesen, dass wir über Gott stehen. Wir hätten bewiesen: Gott ist nicht Gott.

Darum würde ich zugespitzt sogar sagen: Jeder Versuch, Gott in irgendeiner Weise zu beweisen, ist Gotteslästerung. Gott erweist sich selber. Oder gar nicht. Aber wir können ihn nicht beweisen.

Frühere Auffassungen über Bibel und Welt

Lange Zeit war man tatsächlich der Auffassung, dass die Bibel die Realität in allen Punkten richtig und widerspruchsfrei darstellt – und dass man die Bibel jeweils auch richtig interpretiert. Falls Beobachtungen in der Natur dieser Auffassung widersprachen, gab man der Auffassung der Bibel den Vorrang.

Auch wenn wir heute wissen, dass die Babylonier zu der Zeit, in der die jüdische Gelehrtenschicht dort im Exil war, Planetengeschwindigkeiten messen und grafisch darstellen konnte (darüber gibt es Keilschriftentexte, die dies dokumentieren), war man lange Zeit der Auffassung, die Bibel würde die Erde als eine Scheibe beschreiben. So interpretiertem an etwa Bibelverse, in denen von den vier Enden der Erde die Rede ist.

Dabei merken wir: Ob das wirklich so in der Bibel steht und wirklich so verstanden werden muss, steht gar nicht fest. Dennoch war man der festen Überzeugung, die Erde sei eine Scheibe – weil es doch (angeblich) so in der Bibel steht.

Kritische Bibelmethoden

Irgendwann war diese Sichtweise nicht mehr wirklich zu halten. Mit Methoden der Literaturwissenschaft erkannte man Wachstumsprozesse. Man begann die alten Handschriften der Bibel zu erforschen, entdeckte unterschiedliche Textfassungen und begann, die Bibelhandschriften zu sammeln, auszuwerten, zu sortieren. Der Forschungszweig, der sich mit der Analyse und dem Vergleich der erhaltenen Abschriften befasst, nennt sich Textkritik.

Im Rahmen dieser Methoden wurden Regeln erarbeitet, an denen man sich orientieren kann, welche von unterschiedlichen Textfassungen wohl die ursprünglichere war. Da man beim Abschreiben eher vereinfacht, gelten kompliziertere Textformen als wahrscheinlich ursprünglicher.

Dann werden immer wieder bestimmte Begebenheiten an mehreren Stellen überliefert. Das Leben und Wirken Jesu wird in vier Evangelien dargestellt, die sich auf charakteristische Weise unterscheiden. Es begann eine Forschung, die aus diesen unterschiedlichen Darstellungen Theorien entwickelte, wie sozusagen eine Urfassung des Evangeliums ausgesehen haben könnte. Auch wenn diese Theorien immer hypothetischer wurden, hatte man das Gefühl, auf diese Weise näher an eine göttliche Urfassung heran zu kommen. Fehler, Widersprüche und Ähnliches wurden dann dem menschlichen Entstehungsprozess zugeordnet. Unhinterfragt galt aber immer noch der Grundsatz: Wenn Gott der Urheber ist, dass ist dieser Text wahr und beschreibt auch die Realität richtig.

Die Kurzformel dazu lautet: Gottes Wort im Menschenwort. Wenn man ganz ehrlich ist, war das auch ein bewährtes Mittel, um sich von unliebsamen oder schwer verständlichen Texten zu trennen. Böse ausgedrückt: Was einem nicht passte, galt als zeitbedingt, von Menschen jener Zeit verfasst – und hat heute keinerlei Gültigkeit mehr.

Wissenschaft

Auch die Naturwissenschaften begannen sich neu zu entwickeln. Immer genauer konnten Naturphänomene beschrieben und genutzt werden. Dampfmaschine, elektrischer Strom, Raumfahrt: Die Kosmonauten im Himmel fanden nichts, was auch nur entfernt zu den Vorstellungen eines göttlichen Himmels über den Wolken passte. Immer wieder traf man auf Behauptungen, die Wissenschaft habe Gott widerlegt.

Widerstand

Damit war für viele Christen eine Grenze überschritten. In der Opposition gegen solche Auffassungen wurde als Gegenüber zum Deutschen evangelischen Kirchentag der Gemeindetag unter dem Wort gegründet. Bis heute legen Vertreter dieser Richtung Wert darauf, dass die ganze Bibel Gottes Wort sei.

Eine neue Auffassung

Dem würde ich gerne eine neue Auffassung von Inspiration entgegenstellen:

Ich halte die ganze Bibel für inspiriert. Aber nicht so, wie man die Bibel gerne hätte, sondern genau so, wie wir sie haben: Ohne ein einziges Original. Zahlreiche Handschriften, die immer wieder voneinander abweichen. Vier Evangelien, die in wichtigen Details unvereinbar sind. Dazu gehören die beiden Abstammungslisten für Jesus, aber auch der Zeitpunkt der Kreuzigung. Dazu gehört die Erzählung von Noah und der Arche, in der merkwürdigerweise fast alles irgendwie doppelt vorkommt. Und vieles mehr.

Einige Beispiele würde ich Ihnen vorstellen ….

Dazu gehören für mich auch die unterschiedlichen Bibelfassungen und Übersetzungen. Die Biblia Hebraica und das NT Graece ebenso wie die Einheitsübersetzung, den Luthertext in den unterschiedlichen Ausgaben oder die Bibel in gerechter Sprache, um nur einige zu nennen.

Gott spricht zu uns durch die Bibel. Die Bibel ist sein Buch.

Aber hat irgendjemand Gott mal gefragt, ob er sein Buch wirklich ohne Widersprüche geplant hatte? Als eine vollständige Beschreibung der Realität? Die Bibel ist zugegeben ziemlich dick – aber dafür ist sie nicht dick genug.

Philosophie?

Menschen, die die Widerspruchsfreiheit der Bibel behaupten, verweisen gegenüber der Wissenschaft gerne auf Kolosser 2,8: „Seht zu, dass euch niemand einfange durch die Philosophie und leeren Trug, die der Überlieferung der Menschen und den Elementen der Welt folgen und nicht Christus.“

In der Regel setzen sie sich damit von der Evolutionstheorie ab, von kritischer Bibelwissenschaft und vielem mehr. Was ihnen aber in der Regel nicht auffällt: Wie sie selber philosophischen Auffassungen folgen, die sich so oder so einfach nicht in der Bibel selber finden, sondern der (Viel-) Gestalt, in der sich die Bibel präsentiert, widersprechen.

Eine solche Auffassung ist die Konstruktion Gottes als eines höchsten Gutes. Gott muss dann als allmächtig gedacht werden. Was er erschafft, ist nicht nur gut, sondern perfekt. Wenn Gott ein Buch herausgibt, dann muss es notwendig ohne Widersprüche sein und die Realität möglichst genau abbilden. Gott erscheint in dieser Vorstellung wie ein seelenloser historischer Bürokrat. Aber ist es demgegenüber so völlig abwegig, sich Gott als jemanden vorzustellen mit Fantasie, der gute Dichtung mag, vielleicht sogar Kabarett? Es ist eine philosophische Annahme, dass die Welt genau so erschaffen wurde, wie es im ersten Kapitel der Bibel beschrieben ist. Wer genau hinschaut, und sich ein wenig über die Hintergründe informiert, wird feststellen, dass sich das Judentum in einem wunderschön gefassten Text mit der babylonischen Mythologie, ihrem hohen Grad an Wissenschaftlichkeit und dennoch einem faszinierenden Hang zum Aberglauben auseinander setzt. Kern dieser Behauptung ist die Beobachtung, dass dieses Kapitel am vierten Schöpfungstag die Gottesnamen „Sonne“ und „Mond“ vermeidet und sie als „großes Licht und kleine Laterne“ bezeichnet. Uns fällt das nicht direkt auf, aber die ersten Zuhörer dieses Textes in Babylon wussten natürlich, dass der babylonische König sich als einzige Ebenbild von Gott Sonne ansah und Angst hatte vor Gott Mond. Nichts da, sagt das erste Kapitel der Bibel, Sonne und Mond sind keine Götter, sondern so etwas wie Lampen am Himmel. Und Ebenbilder sind wir alle. Und zwar gleichberechtigt Männer wie Frauen.

Das hat mindestens an diesen beiden Stellen Szenenapplaus oder wenigstens ein deutliches Schmunzeln gegeben, so stelle ich mir das jedenfalls vor.

Und für mein Empfinden sind wir damit wesentlich näher am Bibeltext als wenn wir ihn zu einer Offensive gegen die Evolutionstheorie missbrauchen.

Er erinnert uns an unsere Verantwortung, jede und jeder an seiner Stelle. Denn Ebenbilder Gottes sind wir nun alle. Wie der König steht jeder Mensch in einer besonderen Verantwortung für das, was er tut und wie er oder sie anderen Menschen begegnet. Falls dabei bei Ihnen sofort Assoziation zum großen Weltgericht in Matthäus 25 entsteht („was ihr diesem Geringsten (nicht) getan habt, habt ihr mir (nicht) getan“), so ist das durchaus beabsichtigt. Aber wie nehmen wir diese Verantwortung wahr?

Kein Pfadfinderhandbuch

Sind Tick, Trick und Truck noch ein Begriff? Immer, wenn sie mal nicht weiter wissen, können sie zu ihrem Pfadfinderhandbuch greifen. Sie müssen nur die richtige Seite aufschlagen und den Algorithmus abarbeiten, der dort beschrieben ist. Dann verhalten sie sich richtig und keiner kann ihnen etwas anhaben. Verantwortung brauchen sie dazu nicht. Sie müssen nur wissen, wo die Anleitung steht. Dann ist alles gut. Tick, Trick und Track sind in diesem Sinne irgendwie Diener, die Befehle ausführen, aber sie tragen keine eigene Verantwortung.

Manche verwechseln die Bibel mit einem solchen Pfadfinderhandbuch. Wenn sie einen Vers nennen können, der zu ihrem Verhalten passt, dann ist ihr Verhalten damit legitimiert.

Demgegenüber mutet uns Jesus Verantwortung zu: Wenn Ihr ein Ebenbild Gottes seht, dann behandelt es so. Und wenn es ein Bettler oder ein Gefangener wäre.

Wenn ein bestimmtes Verhalten richtig und vernünftig ist, dann ist es richtig und vernünftig, auch wenn es nicht in der Bibel steht. Und wenn ein Verhalten nicht richtig ist, dann wird es nicht besser, wenn es durch einen Bibelvers legitimiert werden könnte. Und wenn es Tausend Verse gäbe, die ein bestimmtes Verhalten gut heißen, aber jetzt, in dieser Situation ist es falsch, dann bliebe es in dieser Situation auch dann falsch, wenn es zweitausend Verse dazu gäbe.
Und die Verantwortung tragen jeweils wir selber. „Aber der Peter hat doch gesagt!“, haben wir uns herauszureden versucht. Und die Mutter oder der Lehrer oder… holte uns dann oftmals mit den Worten : „Und wenn Peter sagt, ‚du springst aus dem fünfte Stock‘, dann machst Du das auch?!“

Die Bibel ist dialogisch

Das haben wir Christen vom Judentum lernen dürfen.  In der jüdischen Bibelauslegung wissen wir, dass im Talmud ganz unterschiedliche Toraauslegungen überliefert werden konnten. Rabbi A hat gesagt, und Rabbi B hat gesagt. Und die Leserinnen und Leser der Talmudauslegung dürfen sich ein eigenes Bild machen. „Ihr habt gehört, dass gesagt ist, ich aber sage euch…“ ist die entsprechende Sprachfigur, die sich dazu im Neuen Testament erhalten hat. Es geht nicht um ein Überbieten, sondern darum, in einen Traditionsprozess neu einzutreten, in dem in der jeweiligen Gegenwart neue Entscheidungen getroffen werden müssen.

In diesem Sinne ist und bleibt die Bibel verbindliche Richtschnur für unseren Glauben und unser Leben. Aber wir sind nicht gedacht als seelenlose Befehlsempfänger, sondern als Gottes Ebenbilder, die Verantwortung übernehmen und mit Gott und anderen Ebenbildern Gottes im Gespräch sind.

Die Liebe

Ein Kriterium nennt die Bibel selber. Das Hohelied der Liebe endet in 1. Kor 13,13 mit den Worten: „… aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Wenn Glaube, Liebe und Hoffnung in Konkurrenz geraten, ist die Liebe das Kriterium, nicht der Glaube und nicht die Hoffnung.

Und nun?

Wir diskutieren (ggf. in Kleingruppen),

  • wie wir unter diesen Umständen unserer Verantwortung gerecht werden, wenn wir etwa auf Röm 1,26 und 27 treffen,
  • ob diese Auffassung von Inspiration genügend überzeugend ist, um im Dialog mit „Bibeltreuen“ hilfreich zu sein,
  • wie sinnvoll diese Überlegungen im Blick auf das Gottbild sind,
  • Hat sich in Bezug auf die Anfangsfragen etwas verändert hat?

Was fehlt noch?

  • Anknüpfungspunkte an die Theologie von Ulrich Bach.
  • Konkrete Hinweise auf aktuelle Exegese (vgl. Klaus Wengst)
  • ggf. Musik nach dem aktuellen Kirchentagsliederbuch.

Bernd Kehren

Sola Scriptura: Allein die Schrift – das Wort Gottes

Die ganze Bibel ist Wort Gottes. Aber nicht so, wie wir sie gerne hätten, sondern so, wie wir sie haben.

Predigt am 15.10.2017
in der ev. Kirche zu Bad Münstereifel
Predigt am 8.10.2017
in der ev. Kirche zu Flamersheim

Liebe Gemeinde,

das Reformationsjubiläum biegt gerade auf die Ziellinie ein. Zehn Jahre lang gab es besondere Schwerpunktthemen.
Und jetzt denken die Oberlandgemeinden (des Kirchenkreises Bad Godesberg-Voreifel: Flamersheim, Euskirchen, Zülpich, Bad Münstereifel, Weilerswist) in vier Gottesdiensten über vier der zentralen Slogans der Reformation nach, über die „vier Soli“.
„Soli“, das ist heute kein Solidaritätsbeitrag, sondern es sind eine Art Kampfaussagen:

„Sola Gratia – allein aus Gnade.“
„Sola Fide“ – allein aus Glauben.“
„Solus Christus – Christus allein.
„Sola Sriptura – Allein die Schrift.“

Und daran wird bereits deutlich, dass keine dieser Aussagen für sich allein steht, sondern jeweils für einen Gegensatz.

Nicht wahr? Wenn jede dieser Aussagen absolut gelten würde, würden sie sich sofort widersprechen. Dann müsste man sich entscheiden: Entweder aus Gnade oder aus Glaube oder nur die Schrift oder nur Christus.

Aber die Wirklichkeit ist nicht nur schwarz-weiß. In Wirklichkeit ist die Wirklichkeit ziemlich komplex. Und so sind diese „soli“s, diese „alleins“ nicht absolut, sondern im Kontrast mit etwas anderem:

„Allein aus Gnade – nicht aus eigenem Verdienst“
„Allein aus Glaube – nicht aus guten Werken“
„Allein Christus – so wie sich Gott in diesem Menschen geoffenbart hat“
„Allein die Schrift – nicht die Tradition“

Und doch sind Werke nicht verboten, wir müssen die Vernunft nicht ausschalten, Tradition kennen wir auch im Protestantismus, und Gott hatte auch vor dem Neuen Testament schon Beziehungen zu seinen Ebenbildern, als die von Christus noch gar nichts wussten.

Heute wollen nachdenken über das „sola scriptura – allein die Schrift – und nicht die Tradition.
Wenn Christen um den Glauben ringen, dann hat die Bibel einen ganz besonderen Stellenwert. Glaubensaussagen sollten sich auf die Schrift berufen können, auf das Alte und auf das Neue Testament. Und mag eine Tradition noch so eingebürgert sein, wenn sie vor der Bibel keinen Bestand hat, geht die Bibel vor. Sola scriptura.

Damit wäre jetzt alles gesagt und wir könnten das nächste Lied singen, wenn es so einfach wäre.
Aber so einfach ist es nicht. Und wenn man genau hinschaut, dann erkennt man sehr schnell auch die Fehler, die z.B. Luther dabei gemacht hat.

Was war genau das Kernanliegen, warum war dieses sola scriptura unserem Reformator so wichtig?

Ein bisschen ist es wie die berühmte Stille Post. Der eine sagt etwas, der andere hört etwas. Aber draußen war es laut, und er hat nicht alles zu Hundertprozent verstanden.  Und er sagt das weiter, was er verstanden hat, und der Nächste hört irgendetwas heraus, und irgendwann wird das komplette Gegenteil dessen überliefert, was ursprünglich mal gesagt worden war.

Darum sollte man immer kontrollieren, was jemand ursprünglich gesagt oder geschrieben hat.

Ein Beispiel innerhalb der Reformation: Jetzt zum Reformationsjubiläum kann man immer wieder einmal die Klage hören, niemand mehr frage wie Luther: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“

Und wenn man dies so klagt, dann denken ganz viele: „Aha – der meint also, wir sollten wieder alle mehr Sorgen darum machen, wie wir Gott gnädig stimmen können!“

Und man hat dabei schlicht vergessen, dass doch diese Frage gerade Luthers großer Fehler war. Er hat an dieser Frage gelitten! Und die große reformatorische Erkenntnis war doch: „sola gratia!“ „Allein aus Gnade!“ – Ich kann und muss nichts tun, um Gott gnädig zu stimmen. Gott ist von sich aus ein gnädiger Gott. Die Frage ist schlicht falsch gestellt.
Wenn wir also auf den Zusammenhang schauen, in dem Martin Luther diese Frage gestellt hat und zu welcher Antwort er kam, dann kommt in diesem Fall genau das Gegenteil dessen heraus, was heute viele Menschen ausdrücken wollen.

Aber wir haben ja das Thema heute: „Sola scriptura“ – „Allein die Schrift!“ Bei dieser theologischen stillen Post ist es leider auch immer wieder so gewesen, dass sich Auffassungen eingeschlichen haben, die mit der ursprünglichen Bibel nichts mehr zu tun hatten.
Aber diese Auffassungen haben sich zu einer gewissen Tradition verfestigt, und diese Tradition galt nun mehr als das, was ursprünglich in der Bibel stand.
Hatte Jesus noch den reichen Jüngling zurück gewiesen und ihm klar gemacht, dass er sich den Himmel oder Gottes Gnade nicht erkaufen kann, so kamen zu Luthers Zeiten auf einmal Ablassbriefe in den Handel, die genau dies möglich machen sollten: Je mehr man zahlte, desto sicherer hatte man einen Platz im Himmel.

Und die Menschen waren arm, bitterarm. Aber der Platz im Himmel war ihnen so wichtig, dass sie nahezu jeden Preis zahlten. Für sich selber, aber auch für Freunde und Familienangehörige, die schon gestorben waren.

Eine ganz üble Tradition.
Und das sola scriptura sagte nun: Nein: In der Bibel gibt es so viele Verse vom gnädigen Gott, dass da der Bibel der Vorrang zu geben ist. Wir müssen unsere Tradition immer an der Bibel überprüfen.

Aber an welcher Bibel?

Es gibt ja keine einzige Original-Handschrift!

Wir haben immer nur Abschriften von Abschriften. Papier ist leicht vergänglich, und so hat sich kein einziges Original erhalten.

Immerhin wurde zur Zeit Luthers die Tradition des Humanismus gerade modern. Einer der Slogans lautete (und das ist heute angesichts von vielen Pseudonachrichten so wichtig wie eh und je): Zurück zu den Quellen.

Aber auch das ist nicht so einfach.
Wir alle wissen: das Alte Testament ist auf Hebräisch und das Neue Testament auf Griechisch verfasst.
Es gab zwar eine jüdische Übersetzung des Alten Testaments, in der mehr Texte überliefert waren, die schon lange im Christentum im Gebrauch war, aber Luther richtete sich nach dem inzwischen festen jüdischen Kanon.
So kam es zu den alttestamentlichen Apokryphen.

Ich erkläre das noch einmal: Die katholische Einheitsübersetzung ist etwas umfangreicher als etwa die Lutherbibel. In der Lutherbibel fehlen etwa 300 Jahre Geschichte. Erinnern Sie sich an den alten Lernvers? „333-Issos Keilerei.“ Alexander der Große gewinnt bei Issos die Schlacht gegen Darius III. Seitdem wird im Orient Griechisch die Amtssprache. Deswegen hat das Judentum während dieser Zeit zwischen 300 vor Christus bis zum Neuen Testament nicht nur die hebräische Bibel ins Griechische übersetzt, sondern deswegen sind einige Schriften des Alten Testaments auch nur noch auf Griechisch erschienen. Das Judentum hat später seinen Kanon in der Auseinandersetzung mit dem Christentum enger abgegrenzt. Man kann die Entscheidung Luthers verstehen, aber er hätte sie auch anders treffen können. Gut 300 Jahre Bibelgeschichte fielen auf diese Weise heraus. Darum sind heute unsere Bibeln unterschiedlich.

Also: Auch mit dem Slogan „Allein die Schrift“ kann man ins Stolpern kommen.

Aber Luther war dabei nicht der einzige.

Lange Zeit hatte man damit nur wenig Probleme. Wenn in der Bibel steht, dass der Hase wiederkaut, dann gibt es halt irgendwo auf der Welt wiederkauende Hasen.

Wenn man das Gefühl hat, die Schöpfungsgeschichte beschreibt die Erde als eine Scheibe, dann ist die Erde eben eine Scheibe.

Aber dann konnte man mit Segelschiffen über den Rand dieser Erde hinaus fahren und stellte fest: Wir fallen da nicht runter. Die Erde gleicht irgendwie eine Kugel.
(Klammer auf: Das wussten die Babylonier, die die jüdische Oberschicht nach Babylon verschleppt hatten, übrigens auch schon. Und die Juden in Babylon wussten das auch. Wenn im Mittelalter Menschen die Erde für eine Scheibe hielten, war das deren Fehler. Aber es war nicht der Fehler der Schöpfungsgeschichte, denn die funktioniert auch als Kugel ganz gut.)

Also: Die Menschen und auch Luther glaubten gerne, dass ein allmächtiger Gott sicherlich keine Bibel mit Fehlern heraus geben würde. Im Gegenteil: Die alten Geschichten nahmen es geradezu als Beweis dafür, dass die Bibel direkt von Gott kam, dass es darinnen keinerlei Fehler gab.

So soll z.B. die Septuaginta, also die griechische Übersetzung des Alten Testaments von 70 Gelehrten in sieben Wochen übersetzt worden sein, und alle 70 Gelehrten sollen sollen exakt denselben Text erstellt haben. Und darum soll diese Septuaginta göttlichen Ursprungs gewesen sein!

Zu allen Zeiten haben Menschen versucht, ihren religiösen Schriften besonderes Gewicht zu geben, dass man sie für fehlerfrei und irrtumslos und widerspruchsfrei erklärte.
„Allein die Schrift“ – muss das nicht heißen, dass dann die Schrift immer Recht hat?

Aber die Erde ist nun einmal eine Kugel, die Hasen sind keine Wiederkäuer, die Evangelien widersprechen sich darin, wann Jesus gekreuzigt wurde, es gibt das Evangelium nicht nur von einem Beobachter sondern von gleich vier ganz unterschiedlichen Theologen mit unterschiedlichen Sichtweisen.

„Allein die Schrift“, das gilt. Aber so, wie wir die Bibel haben – und nicht, wie wir sie gerne hätten.

Wie ist denn die Schrift? Fehlerfrei und ohne Widersprüche?

„Früher“ wurde die Realität passend gemacht.

Seit der Aufklärung setzte sich die Erkenntnis durch, dass es Menschen waren mit ihren Glaubenserfahrungen, die die Bibel geschrieben haben. Die Bibel galt nun nicht mehr als Gotteswort, sondern nur als Menschenwort. Und die Theologie versuchte, mit einer Art theologischem Destillationsverfahren Gottes Wort aus dem Menschenwort heraus zu destillieren.

Gottes Wort ist dann immer noch fehlerfrei und irrtumslos. Für die Fehler und Irrtümer sind dann halt die Menschen verantwortlich.

Und dann kam etwas, was bei vielen Gläubigen für viele Irritationen sorgte und manchmal auch noch sorgt.
Die Theologen untersuchten die Unterschiede der Bibeltexte und stellten fest, dass es Brüche und Unterschiede in den Texten gibt, die auf einen Überlieferungsprozess zurück gehen könnten. Die Texte wurden erst mündlich in der Gemeinde überliefert und dabei auch interpretiert und ergänzt. Und dann konnte man immer wieder hören: (Etwas zugespitzt) Das ist ja nur eine Gemeindebildung. Jedenfalls ist es nicht mehr so richtig Gottes Wort.

Wobei auch schon Luther sein Kriterium hatte: Auch für Luther war nicht jedes Wort der Bibel gleich wichtig, sondern nur nur dann, wenn es „christum treibet“. Also dann, wenn die frohe Botschaft sich von Gottes freiem Liebeshandeln darin spiegelt. Wenn etwa der Jakobusbrief gegen diese freie Gnade Gottes auch Werke der Menschen einforderte, dann nannte Luther diesen Brief gerne eine „stroherne Epistel“ und setzte ihn in der Bibelübersetzung so weit nach hinten, wie es irgendwie ging.
Andere Theologen suchen nach dem „Kanon im Kanon“: Damit ist gemeint: Gibt es typische Bibelaussagen, die zentral und unverzichtbar sind und denen gegenüber andere halt auch zurücktreten und weniger wichtig sind?

Das Problem ist: Bei dem Destillat kommt immer nur das heraus, was bei dieser Destillationstemperatur heraus kommt. Nehme ich eine andere Temperatur, kommt auch etwas anderes heraus.

Will ich in Jesus einen Sozialreformer sehen, dann finde ich plötzlich nur noch Bibelstellen, die diesen Aspekt betonen.
Will ich im Alten Testament unbedingt den Rachegott finden, dann sehe ich nur noch Bibelverse, die diesen Aspekt betonen.

„Sola scriptura – allein die Schrift“: Was wäre eigentlich, wenn ich darauf verzichte, solche Kriterien an die Bibel anzulegen? Was wäre eigentlich, wenn die ganze Bibel, so wie wir sie haben, von Gott gegeben wäre?

Aber wirklich so, wie wir sie haben!
Ohne ein einziges Original. Dafür mit vielen Handschriften, die sich immer wieder unterscheiden. Mit Evangelien, die sich unterscheiden. Mit Übersetzungen, die sich unterscheiden…
Mit Fehlern und Widersprüchen.

Was wäre, wenn uns Gott damit sogar etwas sagen will?
Vielleicht: „Ihr versucht so gerne (und die Bibel fordert auch dazu auf), möglichst perfekt zu sein. Aber zu viel Perfektionismus ist ungesund. Deshalb bekommt ihr eine in gewissem Sinn unperfekte Bibel. Damit ihr wisst, wie sehr ich euch liebe. Damit ihr wisst, ich werde Euch wegen Eurer Unperfektheit nicht den Kopf abreißen!“

Je länger ich drüber nachdenke, desto mehr gefällt mir dieser Gedanke.
Denn ich kann wieder die ganze Bibel als Gottes Wort nehmen. Sola scriptura.
Aber zugleich gebe ich dann meine Verantwortung nicht mehr an die Bibel ab.

Viele sehr fromme Menschen versuchen, ihr Verhalten dadurch abzusichern, dass sie es aus der Bibel herleiten. Richtiges Verhalten muss dann mit der Bibel begründet werden.

Die Bibel soll Richtschnur und Leitfaden für unser Leben sein. Dazu stehe ich.

Aber muss alles mit der Bibel begründet werden?
Dafür, das 2+2=4 ist, brauche ich keine Bibel.
Aber dafür, dass ich „Fünfe auch mal gerade sein lassen kann!“

Um die Schöpfung zu bewahren, brauche ich keine Bibel. Aber sie ermuntert mich, dafür den Hintern einmal hoch zu bekommen.

Und sie sagt z.B. beim Gleichnis vom bermherzigen Samariter: Du sollst den Nächsten lieben, selbst wenn es dich vom Gottesdienst abhält. Der Priester und der Levit konnten sich damit rechtfertigen, dass sie für den Dienst an Gott nicht mit Blut in Berührung kommen durften. Aber auch der unter die Räuber gefallene ist Gottes Ebenbild – und das geht vor.

Und vor allem: Wir dürfen der Bibel auch widersprechen, wo es nötig ist. Darum habe ich als alttestamentliche Lesung die Abrahamsgeschichte aus 1. Mose 18, 16-33 gewählt. Abraham ringt mit Gott um die Zahl der Frommen und lässt nicht locker. Diese Geschichte sagt doch überdeutlich: Gottes Wort ist nicht einfach unumstößlich, sondern wir können mit Gott ringen und ihm widersprechen. Bei aller Ehrfurcht.

Abraham handelt mit Gott. Die Syrophönizierin widerspricht Jesus. Und aus der Geschichte der Opferung des Isaak lese ich heraus: Niemand darf mehr einem Gotteswort vertrauen, in dem sein Kind als Gottesprüfung geopfert werden soll. Hier lädt Gott als Rettung selber zum Widerspruch gegen diesen Auftrag ein.

Sola scriptura. Nur die Bibel. Aber die Bibel ist vielschichtig. Derselbe Text kann zu mir sprechen und zu einem anderen nicht.

Sola Scriptura: Wir sind Gottes GesprächspartnerInnen. Die Bibel gibt es nicht absolut, sondern immer in einer Beziehung zwischen Mensch und Gott. Dabei kann ich irren – wie in jeder Beziehung. Aber Gott tröstet mich. Manchmal richtet er auch. Aber immer so, dass er bei mir bleibt und mich auf-richtet.

Sola Scriptura. Allein die Schrift. Ich finde es spannend, wie Jesus mit der Bibel umgeht. Er kann nämlich einzelne Verse auch aus dem Zusammenhang reißen, wenn er seinen allzu (un)frommen Gesprächspartnern anders nicht mehr beikommt: Ehescheidung: Was sagt man Männern, die sich von (sozial nicht abgesicherten) Frauen zugunsten einer Jüngeren scheiden lassen wollen? Jesus sagt: „Gott schuf den Menschen als Mann und Frau.“ In Wirklichkeit steht da: Gott schuf den Menschen als Ebenbild, männlich genau wie auch weiblich“ … Und in dieser Diskussion sagt Jesus: „Was Gott zusammen gefügt hat, soll der Mensch nicht trennen.“

Und was sagt das Buch des Predigers? „abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit;“

Nein, ich will nicht für die Ehescheidung reden. Ich werde immer für nicht nur einen Rettungsversuch eintreten. Aber ich kenne Fälle, da ging es wirklich nicht anders. Da musste jemand die Reißleine ziehen. Das Leben ist manchmal so.

Sola Sciptura: Die Bibel ist sehr realistisch. Die Welt ist nicht ideal. Das Gottesvolk ist nicht ideal. Die Heilige Familie ist nicht ideal. Die Urgemeinde ist nicht ideal. Die Kirche ist nicht ideal. Wir sind nicht ideal.

Wir haben alle unsere Grenzen. Und damit müssen wir leben. Und die Bibel lehrt uns: Gott ist dennoch bei uns. Trotz der Krebserkrankung der Nachbarin. Trotz des Autounfalls des Sohnes. Trotz…

Auch wenn wir alle sterben müssen.
Gott ist bei uns, und wir werden mit ihm und der Bibel immer wieder Überraschungen erleben.
Und doch gebe ich zu, dass ich auch meine Lieblingstexte habe: Wenn Paulus in 1. Kor 13 die Liebe für wichtiger hält als den Glauben.

Nicht der perfekte unfehlbare Glaube, sondern die Liebe sind entscheidend. Nicht die perfekte Bibel, sondern eine Bibel, die uns lehrt, zu unseren Fehlern und Widersprüchen zu stehen, und die darum widersprüchlich ist. Wir dürfen die Dinge von zwei Seiten sehen, manchmal auch von drei oder mehr Seiten.

Dabei wird die Bibel nicht beliebig. Immer sind wir gebunden an Gottes Gnade, an Christus, an den Glauben, und auch an die Schrift. Aber nicht als perfekte Besserwisser, die der Welt und den Gläubigen der anderen Religionen machtvoll zeigen, wo es lang geht. Sondern als unperfekte Menschen, die sich in den Widersprüchen der Welt immer wieder dazu verleiten lassen, die Widersprüche aus den Augen eines liebenden Gottes zu sehen. Mal müssen Grenzen gezogen werden. Und mal müssen Grenzen abgerissen werden.

Sola scriptura:

Dazu ist die Bibel kein Rezeptbuch „Man nehme“ – und wenn wir uns genau so verhalten , wird alles wird gut. Die Verantwortung für unser Verhalten können wir nicht an die Bibel abgeben. Und wenn es tausendmal eine Stelle geben sollte, die ein bestimmtes Verhalten fordert: Die Verantwortung, dass es auch diesmal richtig ist, wenn ich mich so verhalte, die bleibt immer bei mir.

So ist die Bibel ein Buch für das Leben, in dem wir auch ratlos und verzweifelt vor Gott stehen dürfen.

Und gerade darin dürfen wir immer wieder lesen und begreifen, wie sehr Gott uns liebt und mit uns leidet und einmal alles zu einem guten Ende führen wird.

Aufstehen gegen die Trolle?

Aufstehen gegen die Trolle?!

In www.evangelisch.de fällt mir ein Hinweis auf einen Blogeintrag ins Auge: Die Kirche und ihre Trolle und dort den Versuch einer Auseinandersetzung mit einem aktuellen evangelikalen Dokument, das Christen zum “Aufstehen” auffordert.

Warum es trotzdem besser ist, sitzen zu bleiben und nicht zu unterschreiben…

Ja, es gibt auch Trolle. Ob man die Initiatoren dieses Aufrufes so bezeichnen kann?

Ein kleiner Umweg. Es gibt einen exzellenten Aufsatz von Klaus Wengst über den Geburtsfehler der Reformation: Luthers Antijudaismus nämlich.
Kurz gesagt: Oft nimmt man den „späten Luther“ mit seinen drastischen Äußerungen mit dem „frühen Luther“ in Schutz, der sich doch so positiv über die Juden geäußert habe.
Wengst zeigt überzeugend, dass Luther die Juden niemals als ernsthaften Gesprächspartner in den Blick genommen hat, sondern immer nur als Missionsobjekt. Entsprechend sei es nur konsequent, dass Luther radikal umschaltete, als die Juden sich nicht so eben missionieren lassen wollte. War Luther ein Troll?

Ich befürchte, jener Aufruf steht vor einem ähnlichen Problem.

Der Anfang liest sich ja gar nicht mal schlecht:

Allein Christus, Allein aus Gnade, Allein durch Glauben. Allein die Schrift.

Und dann das Bekenntnis: Wir genügen dem nicht.
Und dennoch wollen wir für die Menschenwürde aufstehen und für die Religionsfreiheit.

Ja. Ja. Ja.

Aber dann wird es spannend. Dann kommt ein Zungenschlag, den ich nicht verstehe:

„Allein an ihm (Jesus) entscheidet sich das Heil aller Menschen.“
Wie meinen sie das?
Ich meine: In Jesus ist das Heil aller Menschen entschieden. Umfassend. Einmalig.

Warum muss man aufstehen dann „gegen alle Lehren, die die Versöhnung durch seinen Tod am Kreuz infrage stellen und seine leibliche Auferstehung leugnen“?

Ich verstehe es nicht! Das ist auch nicht biblisch. Mir scheint, hier tappen die Autoren in eine vergleichbare Falle, in die auch Luther schon getappt ist.

Was steht denn in der Bibel? Ist Jesus „aufgestanden“ gegen alle Lehren, die seine leibliche Auferstehung leugneten? Oder sagte er zu Thomas: „Lege Deinen Finger in meine Seite.“
Thomas hat es dann nicht getan, sondern er sagte: Mein Herr und mein Gott.

Warum meinen die Initiatoren dieses Aufrufes, sie müssten härter und konsequenter sein als der Herr selbst? Aus der Bibel können sie das so nicht haben. Sie werfen den „linken“ Kritikern vor, diese würden die Bibel verfälschen, aber letztlich machen sie es hier selber.

Warum bezeugen sie nicht einfach, dass sie selbst das so glauben? Warum sind sie unbarmherziger mit den Menschen, die sich mit der leiblichen Auferstehung schwer tun, als Jesus es war? Wer zwingst sie dazu?
Sie versuchen, die Versöhnung zu verteidigen – und werden unversöhnlich. Passt das zusammen?

Wer kann die Auferstehung verstehen? Ich kann es nicht. Man frage einen Intensivmediziner, ob jemand nach drei Tagen Herz-Kreislaufstillstand ohne schwerste Hirnschädigungen auferstehen kann. Das spricht nicht dagegen, dass Gott das nicht irgendwie hinbekommen kann. Aber es spricht gegen die Selbstverständlichkeit, mit der das Unverständnis des Unverstehbaren als „Leugnung“ diffamiert wird. Jesus ist mit Thomas anders umgegangen. Und darum wäre es besser, wenn die Autoren des Aufrufes von Jesus lernen und dem Text hier die Schärfe nehmen.

Für mich ist klar, dass die Botschaft vom Kreuz das Ausrufezeichen unter die Aussage von Gottes Versöhnung mit den Menschen ist. Kain erschlägt Abel. Und Gott schützt ihn mit dem Kainszeichen. Bereits das Kainszeichen macht deutlich, dass Gott ein versöhnender Gott ist. Auch wenn Kain sein Leben lang nicht abschütteln kann, was er getan hat. Er steht unter Gottes Schutz. Davon gibt es so viele Geschichten im Alten Testament, dass für mich völlig klar ist: Gott ist und bleibt ein gnädiger Gott. Auch wenn sich ihm immer wieder sein Magen umdreht angesichts dessen, was seine Gläubigen auf der Erde veranstalten. Warum soll er nicht auch mal aus der Haut fahren? Und trotzdem: Seine Güte währet ewiglich. Wie oft wird das in den Psalmen wörtlich so betont!

Nein, Gott ist nicht erst durch das Kreuz versöhnt, sondern das Kreuz zeigt unmissverständlich, dass Gott schon immer ein versöhnter Gott war.
Weil Gott ein versöhnter Gott war, „musste das so geschehen“.

Es ist ein grandioser Irrtum der Autoren, dass sie diesem alten philosophischen Konstrukt auf den Leim gehen, dass ein gerechter Gott nur durch das Kreuz versöhnt werden kann. Es ist ein grandioser Irrtum, wenn sie nun meinen, der Glaube werde zerstört, wenn jemand dieses Konstrukt infrage stellt, das sich eben nicht unmittelbar aus der Bibel ablesen lässt.

Sie stehen auf für Jesus Christus – und merken nicht, dass sie gegen ihn aufstehen.
Warum müssen sie aufstehen für Jesus Christus? Noch höher, als er ans Kreuz gegangen ist, können sie doch gar nicht aufstehen! Der erhöhte Christus am Kreuz zeigt, wie tief Gott zu uns herab kommt. Vielleicht sollte man dies einfach an sich geschehen lassen. Dieses „wir stehen auf“: Es klingt hochmütig wie Petrus. Kurz bevor er seinen Herrn verleugnete.

Und auch der zweite Punkt ist klasse. Jeder Mensch hat als sein Ebenbild eine unverlierbare Würde.
Ja. Ja. Ja.
Aber aus welcher Position heraus schreiben sie das?
Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie es aus der Position des geborenen, starken, gesunden, jungen, reichen Menschen schreiben, der alle Rechte und seine Heimat hat. Aber ist das nicht ein Irrglaube? Ulrich Bach (www.ulrich-bach.de) betont zu Recht, dass dies eine Selbsttäuschung ist. Erst wenn man zugibt, dass man eben selber auch schwach, krank, unperfekt, hilfebedürftig ist, kann man m.E. für die Würde der Menschen eintreten. Und wenn man das zugibt, dann wird man anders mit Menschen umgehen, die „anders“ sind. Aus der Position der vermeintlichen Stärke glaubt man, sich für die Schwachen einzusetzen, und man merkt nicht, wie sehr man gegen sie arbeitet.

Zu Punkt drei: Wer behauptet das eigentlich, dieses: „Menschen bräuchten keine Erlösung“? Ich kenne niemanden! Wen haben die Autoren im Blick? Was für ein Feindbild bauen sie mit diesem Satz auf?

So kommen wir zu Punkt vier. Es geht um die Bibel. Ich behaupte: Die Autoren glauben nicht das, was sie da schreiben. Und sie wissen nicht, was sie da schreiben.

Welche Bibel meinen sie? Es gibt kein einziges Original! Alle Handschriften, die wir haben, weichen irgendwo voneinander ab.
Nach welchen Kriterien wählen wir nun die Handschriften aus?

Die Bibel fordert uns heraus, sich mit ihr auseinander zu setzen!
Die Bibel fordert uns heraus, kritisch zu sein!
Die Bibel konfrontiert uns mit ganz unterschiedlichen Sichtweisen.
Man kann über den guten alten Bultmann sagen, was man will, in dem einen hat er sicher Recht: Die Bibel fordert uns zur Entscheidung heraus. Das nimmt sie uns nicht ab!

Wir lesen den Text, und wir lesen die Ansprüche, und dann ist nicht einfach alles klar, sondern es ist oft alles unklar. Und wir sind gefordert, das Richtige herauszufinden. Ist das „Kritik an der Bibel“? Die Bibel selbst fordert uns dazu heraus!
„Die Bibel ist immer aktueller als der jeweilige Zeitgeist.“ Was für ein richtiger Satz! Und dennoch zugleich: Was für ein himmelschreiender Blödsinn!

Die Bibel ist immer aktuell! Den Satz unterschreibe ich sofort! Aber trotzdem entbindet er mich nicht meiner Verantwortung, mich selbst zu entscheiden, was nun richtig ist oder falsch. Es entbindet mich nicht vom Bewusstsein darüber, dass ich mit meiner Entscheidung auch falsch liegen kann. Es nutzt überhaupt nicht, die Bibel gegen den Zeitgeist auszuspielen! Richtig wäre allein, die Bibel mit dem Zeitgeist ins Gespräch zu bringen. Dann erst zeigt sich ihre Autorität. Und dafür muss dann auch niemand „aufstehen“. Das braucht die Bibel doch gar nicht! Sie ist auch so Autorität! Heißt es nicht, dass Gott gerade in unserer Schwachheit mächtig ist? Was soll dann diese Aufsteherei?

Gott stellt uns in die Zeit. Also müssen wir uns mit der Zeit auseinander setzen. Also müssen wir in der Gegenwart Lösungen für die Gegenwart finden. Wer das ignoriert und als „Zeitgeist“ diffamiert, nimmt weder die Bibel ernst noch die Zeit, noch Gott, der uns in diese Zeit gestellt hat.

Punkt 5 enthält einen weit verbreiteten Fehler. Nein, in der Bibel steht nicht, dass der Mensch „als Mann oder Frau“ geschaffen wurde.

In der Bibel steht, dass der Mensch, egal ob männlich oder weiblich, als Gottes Ebenbild geschaffen wurde. Jeder Mensch. Man muss wissen, dass viele der antiken Herrscher glaubten, nur sie wären Gottes Ebenbild. Gott wäre die Sonne. Und der König ist Gottes Ebenbild. Die restlichen Menschen rangieren irgendwo weit darunter und müssen sich daher auch in den Staub werfen, wenn das selbstangemaßte Ebenbild Gottes vorbei geht.

Diese Voraussetzung muss man kennen, um die Bibel an dieser Stelle zu verstehen.

Erst sagt die Bibel: Sonne und Mond sind keine Götter. Sie sind einfach „das große und das kleine Licht“. Sie sind von Gott geschaffene Gegenstände. Und dann sagt die Bibel: (Nicht nur der König, sondern) jeder Mensch ist Gottes Ebenbild. Und zwar nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen. Gleichberechtigt. Damit ist nicht gesagt, wie die Rollenaufteilung funktioniert. Und damit ist nicht gesagt, wie die biologische Abstufung zwischen den Geschlechtern genau aussieht. Biologisch gibt es leider nicht nur „Mann“ oder „Frau“, sondern viele Abstufungen. Das hat etwas mit der frühen unterschiedlichen hormonellen Ausstattung zu tun. In der frühkindlichen Entwicklung werden die Gene unterschiedlich an- und abgeschaltet. Das führt dazu, dass man bei den meisten Menschen eindeutig „Mann“ oder „Frau“ sagen kann. Bei vielen aber nicht. Und bei manchen Menschen gibt es ein paar Gene zu viel oder zu wenig, so dass das auch durch die verbleibenden genetischen Schalter nicht mehr eindeutig umgeschaltet werden kann. Ist Gott nur der Schöpfer von denen, bei denen man das Geschlecht eindeutig feststellen kann? Sind die anderen dann nicht seine Ebenbilder? Selbstverständlich ist jeder Mensch Gottes Ebenbild, männlich wie weiblich und auch alle, die man irgendwie „dazwischen“ ansiedeln muss. Jeder Mensch hat seine Würde. Jeder Mensch ist auf ein Gegenüber hin angelegt. Darum wollen so viele Menschen auch unbekümmert in einer dauerhaften Partnerschaft leben. Manche entscheiden sich relativ früh dazu – und bekommen auch Kinder. Andere heiraten erst in einem Alter, in dem sie keine Kinder mehr bekommen können. Dürfen sie nicht mehr heiraten? Nicht mehr „Familie“ sein? Manche davon nehmen Pflegekinder auf. Sorgen für sie wie für die eigenen Kinder, weil die leiblichen Eltern das nicht können…

Andere empfinden gleichgeschlechtlich. Von ihnen zu verlangen, sie müssten sich einen gegengeschlechtlichen Partner, eine gegengeschlechtliche Partnerin suchen, wäre Blödsinn. Auch sie sind auf ein Gegenüber angewiesen. Suchen danach. Mit denselben Schwierigkeiten und Irrtümern wie alle anderen Menschen. Und finden sich dann doch. Wollen es miteinander versuchen. Versprechen sich die Treue, bis dass der Tod sie scheidet. Wird die Ehe in irgendeiner Weise entwertet, wenn man sagt: Diese Liebe verdient denselben Schutz wie jede andere Liebe zwischen gleichberechtigten Partnerinnen und Partnern, die sich die „ewige Treue“ versprechen?

Es gibt kinderlose Ehepaare, die Kinder adoptieren oder als Pflegekinder aufnehmen. Das ist ihre Weise, sich an den gesellschaftlichen Aufgaben zu beteiligen. Manches schwule oder lesbische Pärchen möchte das auch. Nicht, weil sie unbedingt ein eigenes Kind haben wollen. Sondern weil sie einem Kind gute Eltern sein können. Weil es immer noch Kinder gibt, bei denen die leiblichen Eltern dazu nicht in der Lage sind.
Mit welchem Recht soll manchen Kindern verwehrt werden, in einer Familie zu leben, nur weil die, die sie aufnehmen könnten, schwul oder lesbisch sind?

Wenn wir sehen, dass es in der Schöpfung real ein größeres Spektrum als „nur Mann“ und „nur Frau“ gibt, wenn wir feststellen, dass auch diese Menschen Gottes Ebenbilder sind: Mit welchem Recht dürfen sich Christen anmaßen, diese Menschen zu diskriminieren und abzuwerten und ihnen das vorzuenthalten, was sie für sich selbst in Anspruch nehmen?

Wenn in der Bibel ein Paar keine Kinder bekommen konnte und der Ehemann stirbt, war der Bruder dieses Mannes verpflichtet, mit seiner Schwägerin ein Kind zu zeugen. Was hat eigentlich seine Ehefrau zu dieser Art göttlich verordneten Ehebruchs gesagt? Was hat die betroffene Schwägerin gesagt, die um ihrer Altersabsicherung wegen mit dem Bruder ihres verstorbenen Mannes schlafen musste? Was hat dieser Bruder gedacht, der mit seiner Schwägerin schlafen musste? Macht die Bibel hier nicht selber deutlich, dass es Situationen geben kann, in denen es weder unsittlich noch unmoralisch sondern geradezu geboten ist, von der Regel abzuweichen und neue Regeln aufzustellen, damit das Leben in der menschlichen Gemeinschaft gelingen kann? Punkt 5 in dieser Art „Bekenntnis“ ist in seinen biblischen Voraussetzungen falsch, er ignoriert die Bibel an wesentlichen Stellen, und er ignoriert die Schöpfung, in die Gott selber uns gestellt hat.

Das heißt nicht, dass nicht die Ehe in besonderer Weise geschützt und gestärkt werden sollte. Aber es heißt, dass Christen mit offenen Augen durch die Welt laufen müssen, ob es nicht weitere Menschen und weitere Beziehungen gibt, die genau solchen Schutz nötig haben. Jesus stellt an einer einschlägigen Stelle infrage, ob es richtig ist, die Gebote zu halten. Der Priester und der Levit waren verpflichtet, sich nicht rituell zu verunreinigen. Sie waren auf dem Weg zum Tempel und mussten dort rituell rein ankommen. Sonst konnten sie den Dienst nicht aufnehmen, zu dem sie sich verpflichtet hatten. Sonst konnten sie ihre Kollegen am Tempel nicht ablösen. Sonst konnten sie Gott nicht dienen! Es war absolut ehrenhaft, was sie getan hatten. Der unter die Räuber Gefallene tat ihnen sicherlich leid. Und ganz bestimmt würde auch ein Nicht-Priester und ein Nicht-Levit kommen, der dem armen Kerl helfen kann.
Und trotzdem haben sie sich falsch verhalten.

Und genauso falsch verhalten sich Menschen, die aufgrund einer verkehrten Auslegung der Bibel anderen Menschen – nur weil sie nicht „klassisch gegengeschlechtlich“ empfinden können – elementare menschliche Beziehungen abwerten und vorenthalten.
Für manche Menschen ist eben auch ein gleichgeschlechtliches Gegenüber Gottes Schöpfungsgabe.

(Und mancher gegengeschlechtliche Ehepartner stellt irgendwann schmerzhaft fest, dass er oder sie sich offenbar geirrt hat und jemandem die Treue versprochen hat, den Gott offenbar doch nicht als Partner vorgesehen hat. Was nichts ausschließt, dass man in der Ehe oder einer eheähnlichen Beziehung gravierende Fehler machen kann, die jede auch von Gott so gewollte Partnerschaft gründlich zerstören können. Was also auch nicht ausschließt, dass man eine solche Partnerschaft retten kann, wenn man an diesen Fehlern arbeitet und sie in Zukunft vermeidet. Nicht jede Ehekrise ist ein Zeichen dafür, den falschen Partner gewählt zu haben.)

Zu Punkt 6 kann ich nur sagen: Ja, ja, ja. Darum also auch „Ja“ dazu, dass Muslime hier in Deutschland Moscheen bauen dürfen. Darum ein deutliches „Nein“ gegenüber Äußerungen von Christen, die gegen andere Religionen polemisieren, die sie lieblos abwerten. Wer für die Religionsfreiheit eintritt, der tritt auch für ein partnerschaftliches Gegenüber der Religionen ein. Damit verraten Christen auch nicht ihren eigenen Glauben. Das bedeutet auch nicht, auf Mission zu verzichten. Aber es bedeutet, fair zu bleiben. Es bedeutet, in jedem Menschen Gottes Ebenbild zu sehen.

Das schließt Spott nicht aus. Was müssen die Juden in Babylon gelacht haben, als ihnen zum ersten Mal 1. Mose 1,1 vorgetragen wurde. An der Stelle mit dem „großen und dem kleinen Licht“ gab es sicherlich Applaus, mindestens aber ein raunenden Schmunzeln. Jeder wusste, wieviel Angst der babylonische König vor dem Mond hatte, dass er wegen des Phasenwechsels regelmäßig die Regierungsgeschäfte unterbrach, und dass er sich selbst für das einzige Ebenbild von “Gott Sonne” hielt.  „Großes und kleines Licht“ spottet über den fremden Glauben und macht sich darüber lustig. Und dann die Stelle mit „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde“. Jeden Menschen: Das ist biblisch-politisch-religiöses Kabarett von seiner schärfsten und schönsten Seite. Es spricht eine wichtige Wahrheit aus und spottet zugleich scharf über religiöse Auffassungen, die zu einer Abwertung von anderen Menschen führt.
Vielleicht ist es sogar eine Rechtfertigung der Themenstellung, ob man auch manche christliche Diskussionspartner nicht zu Recht als „Troll“ bezeichnen darf und muss. Was nichts davon wegnimmt, dass wir für Religionsfreiheit eintreten. Ohne Wenn und Aber. Auch der babylonische König war in seiner ganzen persönlichen und religiösen Selbstanmaßung Gottes Ebenbild.

Punkt sieben: Was für eine Anmaßung: „Wir stehen ein für die biblische Verheißung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde.“ Wie großkotzig. Jesus hat sich immerhin dafür ans Kreuz nageln lassen. Hier ist nur noch eine Unterschrift unter ein theologisch zweifelhaftes Dokument nötig.
„Wir stehen ein für ein Leben in Hoffnung und gegen jede Form der Resignation…“: Erst vor kurzem war ich bei einer Autofahrerin, die kurz zuvor nicht gemerkt hatte, dass die Ampel schon lange auf Rot umgesprungen ist, und ein anderes Auto rammte. Der Fahrer war sofort tot. Und diese Fahrerin war fassungslos über das, was sie da getan hatte. Das war Hoffnungslosigkeit und Resignation pur. Doch: Ich habe diese Situation ausgehalten. Doch: Ich habe versucht, diesem Menschen nach diesem schrecklichen Irrtum Hoffnung und Mut zu machen. Ich habe von Kain erzählt, den Gott selber unter seinen göttlichen Schutz genommen hat. Trotz allem, was er getan hat.
Ich halte es für richtig, Hoffnung und Mut zu machen.
Und trotzdem kann ich diese Anmaßung nur schwer ertragen, die aus diesem Punkt sieben dieser Erklärung herausquillt. Ich kann den Unfallgegner nicht mehr lebendig machen. Für seine Angehörigen und für die Unfallverursacherin kann ich allenfalls Zeugnis davon ablegen, dass Gott zu ihnen hält. Aber kann ich für etwas einstehen, für das nur Gott selber einstehen kann? Ich kann meinen Glauben bekennen. Aber kann ich nachempfinden, was dieser Mensch empfindet? Kann ich nachempfinden, was jene Eltern und Angehörigen empfinden? Kann ich ihnen gegenüber die Hoffnung so unbarmherzig und großkotzig um die Ohren hauen, wie es in der siebten These formuliert ist?
Diese These basiert auf einer riesigen Niederlage am Kreuz. Noch weiter in die Tiefe geht es nicht. Gott hat sich dieser Tiefe ausgesetzt. Dass aus dieser Tiefe ein Sieg erwachsen sein soll, bleibt für menschliches Empfinden völlig unverständlich – und für manchen Menschen anderen Glaubens auch völlig unglaubwürdig.
Wer diese großartige Hoffnung dennoch bezeugt, sollte die Bescheidenheit nicht vernachlässigen, die das Kreuz und die Katastrophen des menschlichen Lebens nahelegen.

Ja, ich bin dafür, dass Christen aufstehen. Ich bin dafür, dass sie zusammen mit Menschen anderen Glaubens aufstehen und Gottes Liebe weitertragen.

Auf diesem Weg können wir auch ins Gespräch kommen. Über die Religion und über unseren eigenen Glauben.

Wir dürfen aber auch sitzen bleiben. Wir dürfen auch bekennen, dass wir gerade Probleme haben mit unserem Glauben. Wir dürfen bekennen, dass wir gerade glauben wollen – und es nicht können. Wir dürfen Menschen eines anderen Glaubens die Hand reichen und gemeinsam trauern, dass wir darunter leiden, dass wir im Blick auf unsere Religion getrennt bleiben. Und wir dürfen uns ermutigen, trotzdem menschlich zu bleiben.

Wenn Religion großkotzig wird, wenn Christen im Blick auf ihren eigenen Glauben gegenüber Zweiflern und Andersgläubigen großkotzig werden, dann – das behaupte ich hier – haben sie weder Kreuz noch Auferstehung begriffen. Dann verraten sie die Bibel. Dann reden sie von Gottes Liebe und bringen den Hass. Und merken es nicht.

Ich bekenne voller Trauer: Wer dieses Dokument unterschreibt, merkt es nicht. Leider.

Bernd Kehren
9.5.2014

Gott widersprüchlich?

In “Kurz gefragt” (Chrismon 02/2008) fragt ein Leser danach, warum Gott die bösen Menschen in der Sintflut mit dem Tode bestraft und sich damit selber nicht an das Tötungsverbot hält, dass er nun selber erlässt.

Burkhard Weitz beginnt seine Antwort darauf mit den Worten:

„Die Bibel ist voller Widersprüche. Sie ist eben nicht verbal inspiriert, sondern von Menschen geschrieben.“

Dieser Satz hat eine Voraussetzung: Gott ist ohne Widersprüche. Widersprüchliches muss dann vom Menschen kommen.

Was wäre eigentlich, wenn wir erkennen, dass Gott sehr wohl widersprüchlich sein kann? Unfassbar? Rätselhaft? Manchmal auch brutal?

Könnte diese Erkenntnis uns Menschen nicht vielleicht sogar entlasten, weil wir auch widersprüchlich sein dürfen? Eben: Von Gott geliebte Sünder?

Was wäre eigentlich, wenn in diesem Sinne die widersprüchliche, von Menschen geschriebene Bibel tatsächlich „verbal inspiriert“ ist, damit wir Menschen bescheiden werden, unserem Perfektheitswahn (an dem wohl jeder hin und wieder leidet) den Abschied geben und erkennen, wir können nur als Gemeinschaft der Unperfekten leben und lieben?

Du sollst dir von Gott kein Bildnis machen. Auch nicht das Bild des unfehlbaren und widerspruchsfreien Gottes. Glaube ich.

Bernd Kehren
03.02.2008

Schuld zu Gnade: 3 zu 1000

1000 zu 3
So gewichtet Gott Gnade und Schuld.
Mit Gedanken zu Abgrenzung und Öffnung der Völker

Gottesdienst am 26.10.2014
Evangelische Kirchengemeinde Swisttal
Predigteihe VI

19. Sonntag nach Trinitatis
2. Mose 34,4-10

Wochenspruch für den 19. Sonntag nach Trinitatis:

Heile du mich, HERR, so werde ich heil;
hilf du mir, so ist mir geholfen.
Jeremia 17,14

Begrüßung

Herzlich willkommen zu diesem Gottesdienst. Ich bin Pastor Kehren und freue mich, dass ich wieder zu Ihnen in den Gottesdienst eingeladen wurde.
Im Evangelium heute werden wir von der Heilung des Gelähmten hören – und von der Sündenvergebung. Heil und Heilung, Sündervergebung und Gesundung. Und das eingebettet in eine Mosegeschichte, die es in sich hat. – Dazu gleich mehr.

Zum ersten Lied aber möchte ich jetzt einen Hinweis geben. Das Lied ist jetzt 40 Jahre alt und wurde einem alten hebräischen Lied nach Hoheslied 2,8 nachempfunden. Kommt herbei, singt dem Herrn, er ist der, der uns befreit.
Der ursprüngliche Text aus dem Hohenlied ist ein Liebeslied. „Horch, die Stimme meines Geliebten, er hüpft über die Berge, er springt über die Hügel“.
Und man wundert sich, dass sich solche hocherotischen Liebeslieder in der Bibel finden.
Aber genau darum geht es: Nachzuspüren, was für ein Freund Gott ist, wie er immer wieder zu uns kommt – auch wenn wir es nicht mehr verdient hätten.
Darum machen wir uns auf und kommen zu ihm …

EG RWL 577,1-6 Kommt herbei, singt dem Herrn

Liturgische Begrüßung

Psalm EG 716 RWL 716 Psalm 32

Gemeinde: Ehr sei dem Vater und dem Sohn

Sündenbekenntnis

Guter Gott, wie ein Geliebter kümmerst Du Dich um uns.
Kein Berg ist Dir zu hoch, kein Hügel zu weit, als dass Du nicht den Weg zu uns findest.
Und wir?
Wir zeigen Dir so oft die kalte Schulter.
Wir tanzen um unsere goldenen Kälber, denken vor allem an uns selbst und so wenig an Dich oder unsere Nächsten.
Wir vertrauen dem Fortschritt, oder vertrauen darauf, dass es doch schon immer gut gegangen ist.
Guter Gott, wir brauchen Dein Erbarmen.

Kyrie-Gesang

Zuspruch

Gott hat uns erwählt, wir gehören nun zu seinem Volk, damit wir seine Barmherzigkeit erlangen.

EG RWL 580 Gloria

Kollektengebet

Guter Gott, du willst heilen, was zerbrochen ist,
du willst zusammenbringen, was zertrennt,
du willst aufrichten, was zerstört ist.
Sei du jetzt mitten unter uns mit deiner heilenden Kraft.
Gib uns Geduld und Ausdauer zu warten –
und mitzuarbeiten, wo du am Werk bist.
Berühre uns mit deiner Gegenwart durch Jesus Christus.
(nach ev Gottesdienstbuch)

Lesung
Mk 2,1-12 (nach: Bibel in gerechter Sprache)

1 Als Jesus Tage später wieder nach Kafarnaum kam, sprach sich herum, dass er im Haus sei.
2 Es versammelten sich so viele, dass auch vor der Tür nicht genug Platz war. Er verkündigte ihnen das Wort Gottes.
3 Da schleppten vier Leute eine gelähmte Person herbei, die sie zu ihm tragen wollten.
4 Doch sie kamen nicht an ihn heran, weil so viele andere da waren. Da deckten sie das Dach des Hauses ab, in dem er sich aufhielt. Sie rissen das Dach auf uns ließen die Schlafmatte herab, auf der die gelähmte Person lag.
5 Als Jesu ihr Vertrauen sah, sagte er zu dem kranken Menschen: „Kind, Gott hat dir dein ungerechtes Tun vergeben.“
6 Einige toragelehrte Frauen und Männer saßen dabei und dachten in ihrem Herzen:
7 „Wie kann der so reden? Er lästert Gott! Nur eine Macht kann unrechtes Tun vergeben, Gott allein.“
8 Sogleich merkte Jesus, in welche Richtung ihre Gedanken gingen, und sagte zu ihnen: „Wie könnt ihr so etwas bei euch denken?
9 Was ist leichter – zu einer gelähmten Person zu sagen: ‚Gott hat dir dein unrechtes Tun vergeben‘, oder ‚Steht auf, nimm deine Schlafmatte und geh?’
10 Damit ihr erfahrt, dass Menschen die Vollmacht haben, auf der Erde unrechtes Tun zu vergeben“ – so sprach Jesus zur gelähmten Person -,
11 sagte ich Dir: Steht auf, nimm diene Schlafmatte und geh nach Hause.“
12 Sie stand auf, nahm sogleich die Schlafmatte und ging vor aller Augen davon. Da gerieten alle außer sich, lobten Gott, und riefen: „So etwas haben wir noch nie gesehen!“

Halleluja

Halleluja.
HERR, deine Güte ist ewig. *
Das Werk deiner Hände wollest du nicht lassen.
Psalm 138,8b

EG RWL 579 Halleluja.

Glaubensbekenntnis

Lied EG 320,1+2+6-8 Nun lasst uns Gott

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus!

Liebe Gemeinde,

der Predigttext heute finde sich im 2. Buch Mose 34,4-10. Gott will Mose zwei neue Steintafeln mit den Geboten geben und nach dem Tanz ums Goldene Kalb den Bund mit seinem Volk neu schließen. Ein halsstarriges Volk, so heißt es, und trotzdem will Gott immer wieder vergeben.

Ein wunderbarer Text – und trotzdem habe ich heute Probleme. Damit die Situation etwas klarer wird, setze ich drei Verse vorher ein. Und meine Probleme werden Sie sofort erkennen, wenn ich noch einige Verse weiter lese. Ich lese nach der Bibel in gerechter Sprache.

Ex 34,4-10 (nach: Bibel in gerechter Sprache)

[1 Der Herr sprach zu Mose: „Haue dir zwei neue Steintafeln zurecht genau wie die vorigen. Ich schreibe darauf die Worte, die auf den ersten Tafeln gestanden haben, welche du zerbrochen hast.
2 Sei bereit, morgen früh auf den Berg Sinai zu steigen und mir auf dem Gipfel gegenüber zutreten.
3 Niemand darf dich begleiten, auf dem ganzen Berg soll sich kein Mensch blicken lassen, und weder Schaf noch Rind dürfen auf ihn zu weiden.“]
4 Mose richtet die beiden Steintafeln wie die vorigen her und machte sich frühmorgens auf den Weg. Wie der Ewige es ihm aufgetragen hatte, stieg er auf den Berg Sinai; die beiden Steintafeln trug er bei sich.
5 Da kam der Ewige in einer Wolke herunter, stellte sich zu Mose und rief seinen Namen aus: [Der] „ICH-BIN-DA“.
6. Dann ging der Ewige an Mose vorbei und rief erneut: „ICH-BIN-DA. ICH, der EWIGE.
7 Ich sorge für 1000 Generationen und bin bereit, Schuld, Verirrung und Verfehlung zu vergeben. Doch ich lasse nicht alles durchgehen, ich ahnde auch Schuld der Eltern an Kindern, Enkeln und Urenkeln.“
8 Mose warf sich schnell zur Erde und nahm die Gebetshaltung ein .
9 Er sagte: „Mein Herr, wenn du mir wohl willst, dann gehe doch mit uns, Herr, es ist ein starrköpfiges Volk, doch du kannst uns unsere Schuld und Verfehlungen vergeben. Nimm uns doch als dein Eigentum an.“
10 Gott erwiderte; „Gut, ich will einen Bund mit euch schließen. Vor dem ganzen Volk werde ich Erstaunliches tun, wie es auf der ganzen Erde und unter allen Nationen noch nie geschehen ist. Alle Menschen der Gemeinde, in der du lebst, sollen meine Taten miterleben; gewaltig ist, was ich für euch tun werde.
[11 Beachte sorgfältig, was ich dir heute auftrage. Ich werde die anderen Völker vor euch vertreiben, die amoritischen, kanaanäischen, hetitischen, perisitischen, hiwitischen und jebusitischen Stämme.
12 schließt nur ja keine Verträge mit diesen Menschen, die du dort antriffst. Das würde euch ins Verderben stürzen.
13 Ihr sollt vielmehr ihre Altäre zerstören, ihre Mazzeben zerschlagen, ihre heiligen Bäume fällen.
14 Denn ihr dürft einfach keine andere Gottheit verehren. Ich bin der ICH-BIN-DA, voll Leidenschaft, eine verzehrende Liebe ist in mir.
15 Ihr dürft keinen Bund mit Landesbevölkerung eingehen. Sonst passiert Folgendes: Sie laufen hinter ihren Gottheiten her, opfern ihnen und laden euch eventuell zu ihren Mahlzeiten ein.
16 Oder ihr sucht euch unter ihnen Frauen für eure Söhne, und dann laufen die Schwiegertöchter hinter deren Gottheiten her und verführen eure söhne zu fremdem Gottesdienst.“
17 Du darfst Dir keine Gottesstatuen gießen. …
[Es folgen eine Reihe von Einzelgeboten über die Erstgeborenen und Opfer. Und dann heißt es noch: ]
26 … das Böckchen dürft ihr nicht in der Milch seiner Mutter zubereiten.“

Liebe Gemeinde, ich habe heute etwas mehr vorgelesen.

Den letzten Vers deswegen, weil er die Ursache für die strenge Trennung bei den jüdischen Mahlzeiten ist:

Das Böckchen dürft ihr nicht in der Milch seiner Mutter zubereiten: Das ist der Vers, warum im Judentum Milch und Fleisch streng getrennt zubereitet und gegessen werden. Dieser Vers aus 2. Mose 34 (und 2 Mose 23) ist der Grund, warum, es in einem jüdischen Haushalt zwei Spülmaschinen, zwei Kühlschränke, zweierlei Geschirr und zweierlei Besteck gibt und warum niemals Milch und Fleisch oder Wurst gemeinsam serviert werden.
Das wollte ich Ihnen an dieser Stelle einfach nicht vorenthalten.

Die Probleme machen mir die Verse vorher. In Zeiten, in denen Krieg mit einer Organisation IS „Islamischer Staat“ geführt wird, treffe ich immer wieder auf Christen, die sagen: ‘Im Gegensatz zum Christentum und Judentum ist der Islam auf Konflikt und Krawall angelegt. Wir haben so etwas nicht.’

Wenn ich Ihnen heute nur den Predigttext vorgelesen hätte, hätten wir wieder einmal nicht gemerkt, dass die Bibel auch nicht ohne ist.
„Ich werde die anderen Völker vor Euch vertreiben“ – und dann werden diese Völker aufgezählt.

Schließt keine Verträge mit denen, das gibt nur Ärger.
Zerstört ihre Heiligtümer – wem fallen da nicht die Freveltaten der Isis ein und der Taliban, die Jahrtausende alte Kulturgüter zerstörten und sprengten und sich völlig intolerant denen gegenüber verhalten haben, die etwas anders oder weniger streng glaubten als sie selber.
Sucht Euch keine Schwiegertöchter oder Schwiegersöhne bei denen, denn sonst werden Eure Kinder vom wahren Glauben abfallen.
Und wir – wir können uns an die Erzählungen unserer Eltern erinnern oder haben vielleicht sogar noch eigene Erinnerungen daran, wie das war, als der Partner, in den man sich verliebt hat, leider die verkehrte Konfession hatte und zu welchen Problemen dies geführt hatte.
Wie gehen wir damit um?

Wir lesen in der Bibel von einem strengen und doch vergebenden Gott. Es ist uns wichtig, dass die Bibel die Richtschnur für unser Leben ist. Wir glauben daran, dass Gott sie uns gegeben hat. Ich halte es für wichtig, dass wir sie uns nicht einfach zurecht biegen, wie es uns am besten passt.

Wie oft höre ich genau diesen Vorwurf.
Die konservativen Kardinäle haben es den liberalen Kardinälen auf der letzten Bischofssynode in Rom vorgeworfen, als es schien, dass die römisch-katholische Gottes Gnade endlich etwas offener verkünden könnte.
Die konservativeren Protestanten werfen es immer wieder und wieder der EKD und den Pfarrerinnen und Pfarrer unserer Landeskirche vor: Wir würden mit unserer historisch-kritischen Theologie die Bibel nicht mehr ernst nehmen und unsere eigenen Regeln finden.

Vielleicht ist an diesem Vorwurf sogar etwas dran. Ich gestehe nämlich, dass für mich Völkerverständigung ein eminent wichtiger Bestandteil meines Glaubens ist.
Wenn es gleich am Anfang der Bibel heißt, dass Gott den Menschen geschaffen habe als sein Ebenbild, dann ist damit jeder Mensch gemeint – und nicht nur Juden oder Christen: Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild. Auch die, die anders glauben als ich, auch deren Nase mir nicht passt. Auch die, die eine andere Sprache sprechen und in einer anderen Kultur leben.

Und dann diese Verse hier, die so sehr auf Abgrenzung setzen.
Wie können wir damit umgehen?

Es ist der Versuch, den eigenen Glauben sauber zu halten. Es ist der Versuch, Gott treu zu bleiben – dem Gott, dem wir doch so viel zu verdanken haben.

Wenn wir genau hinschauen, dann finden wir in der ganzen Bibel genau diese Auseinandersetzung zwischen der Abgrenzung von anderen, damit der eigene Glaube bewahrt bleibt, und der Integration und der Vermittlung, weil Gott ein Gott aller Menschen ist.

Wir merken es selbst in der Abgrenzung des Bibeltextes.
Vollmundig heißt es, „ich werde die Menschen dort vertreiben.“ Wenn diese Menschen alle vertrieben sind – mit wem soll man denn noch Verträge schließen können? Wie soll man dort Schwiegersöhne und Schwiegertöchter finden? Wie soll man dort Götzenopfer finden – wenn sie doch alle vertrieben wurden?
Wie nehmen wir den Bibeltext wahr, wenn wir ihn ganz wörtlich nehmen?

Mein Jüngster ärgert sich gerade, dass sich die ganze Klasse zu Halloween verabredet – und seine Gemeinde hat ausgerechnet den Reformationsgottesdienst als verpflichtenden Gottesdienst für die Konfis angesetzt.
Wie ernst nimmt man es, dass alle Kinder feiern – aber leider nicht das Reformationsfest?
Mir ist schon klar, dass sowohl Halloween als auch Reformationsfest etwas mit Allerheiligen zu tun haben!
Der 31. Oktober ist nun mal der Vorabend vor Allerheiligen, der für die katholische Sündenvergebungslehre, für Ablass und Volksglauben eminent wichtig ist. Luther hat sich etwas dabei gedacht, wenn er seine Thesen ausgerechnet am Vorabend an die Schlosstür von Wittenberg geschlagen hat.
Und Halloween hat auf volkstümliche Weise eine ganz eigene Vorstellung von den verstorbenen Heiligen und ihren Geistern geformt, der sich unsere Kinder jetzt auch nicht mehr ganz entziehen können.
Wie verhält man sich da, wenn der Jüngste fragt, ob er diesen Gottesdienst nicht blaumachen kann, der doch nun extra auch für die Konfis gestaltet werden soll?
Ausgerechnet dir fromme Oma ergreift auch noch Partei für ihn!
Wie gehen wir um mit Abgrenzung und Integration, wenn es um unseren Glauben geht?

Wir können den Bibeltext so lesen, dass wir versuchen, ihn radikal umzusetzen: Das wird uns nicht gelingen.

Wir können die Problemanzeige darin lesen: Wie schwer es schon immer war und ist, eine reine Glaubensposition durch die Generationen durchzuhalten. Die Liebe fällt, wo sie will, man trifft auf Menschen, die anders sind, und man ist immer in der Notwendigkeit, eine eigene Position zu finden.

Und es geht ja nicht um irgendwelche Kleinigkeiten, sondern es geht um den einen Gott!

Deutlich wird jedenfalls an den zusätzlich gelesenen Versen, dass es den reinen Glauben in einem auf absolute Abgrenzung bedachten Gottesvolk niemals gegeben hat. Andere Bibeltexte wie etwa der Stammbaum Jesu zeigen, dass selbst in der Herkunft des Gottessohnes viele von denen auftauchen, die es anderen Versen zufolge dort niemals geben dürfte.

Andere Bibeltexte zeigen, wie wichtig es ist, zu den eigenen Kindern zu halten – und dass die im Zweifel wichtiger als alle göttlichen Gebote erscheinen mögen – und dann gibt es wieder die Feststellung, dass selbst Jesus sich erheblich von seiner eigenen Familie distanzieren kann.

Ich kann nicht anders: Die Bibel hat mich gepackt und ich komme von ihr nicht los.

Aber die Beobachtung heute macht mich vorsichtig bei Vorwürfen gegenüber den Glaubensurkunden anderer Religion, wie z. B. gegenüber dem Koran.

Denn auch in der eigenen Bibel finde ich Stellen, die mich verstören, die Gewalt provozieren und feindliche Abgrenzung, Unfrieden und Intoleranz. Wenn ich auf andere mit dem Finger zeige, zeigen drei Finger auf mich zurück.

Es ist nicht so einfach mit unserer Bibel. Und an vielen Stellen bleibt sie eine Zumutung.

Das gilt auch für den eigentlichen Predigttext. Auch er mutet uns eine Menge zu.

Da ist zunächst der Hauptakteur: Mose.
Nach den jüdischen Geboten dürfte es ihn gar nicht geben, denn Amram, der Vater von Mose, hatte Jochebed, die Schwester seines Vaters, zur Frau genommen. Mose, ein Pflegekind in der ägyptischen Oberschicht wird zum Terroristen und erschlägt einen Ägypter. Man fragt sich ja heute, warum so mancher verzogener gutsituierter Mensch zum Terroristen wird. So ungewöhnlich ist das gar nicht. Mose lernt beim heidnischen Schwiegervater das Priesterhandwerk, und ausgerechnet ihm offenbart sich Gott, ausgerechnet ihn sucht sich Gott aus, um sich ihm als Gott zu offenbaren und nur er darf nun die neu gemeißelten Gebotstafeln in Empfang nehmen.
Er und nur er. Und wenn er vor Gott auf die Knie und auf den Boden fällt, ist es genau die Gebetshaltung, die wir von den Bildern aus den Moscheen kennen.

Und dann Gott. Ich bin, der ich bin. Ich bin der „ich bin da“. Er lässt sich greifen. Er lässt sich nicht in ein Schema packen. Er ist Gott. Kein Götze. Allein schon die Frage, ob es berechtig ist, „er“ zu Gott zu sagen, kann viele Menschen aufregen. Gott ist nicht Mann, Gott ist nicht Frau. Manchmal zornig, das lässt Gott sich nicht nehmen. Aber dann legt er sich doch fest.

„ICH-BIN-DA. ICH, der EWIGE.
Ich sorge für 1000 Generationen und bin bereit, schuld, Verirrung und Verfehlung zu vergeben. Doch ich lasse nicht alles durchgehen, ich ahnde auch Schuld der Eltern an Kindern, Enkeln und Urenkeln.“

1000 Generationen gegen drei Generationen.

1000 Generationen Vergebung. 3 Generationen Schuld.

1000 : 3 – das ist die Verhältnisbestimmung von Gnade und Schuld. Gott ist, der er ist. Gott will sich nicht greifen lassen. Aber er will als gnädiger Gott wahrgenommen werden. Das darf man nie vergessen, wenn an anderen Stellen von Abgrenzung und Gewalt die Rede ist. Die Geschichte mit Abraham und Lot zeigt, wie sehr Gott darin auch mit sich handeln lässt.

Und jene 3 Generationen? Mein Professor für altes Testament, ein exzellenter Kenner des Judentums, erklärte es anhand der alten jüdischen Tora-Auslegungen so: Wenn du in deinem Leben Fehler machst, werden die sich auswirken. Und wenn du genügend lange lebst, wirst du an deinen Urenkeln sehen können, welche Folgen sie haben. Pass genau auf, was du tust. Du hast eine Verantwortung für deine Kinder und Enkel und Urenkel. Alles, was du tust, hast Folgen. Nicht nur für Dich, sondern auch für andere Menschen. Denke daran.

Ich habe gerade den Artikel im Stern angelesen, in dem Hape Kerkeling vom Suizid seiner Mutter erzählt. Er war damals 8 Jahre lang.

Wir diskutieren gerade einen neuen Gesetzentwurf, wer Menschen möglicherweise bei einem Suizid beistehen darf. Ich bin selber für eine relativ liberale Regelung. Die Geschichte von Hape Kerkeling aber zeigt, dass auch dieses Handeln Folgen hat. Auch wenn man sie nicht mehr direkt an seinen Urenkeln miterleben kann, weil man sich dem entzogen hat. Gestern im Stadtanzeiger fragte ein Arzt nach genau diesen Folgen. Von jedem Suizid sind mindestens 10 Menschen betroffen. Haben das alle Menschen bedacht, die, – wie man so schön sagt – „in die Schweiz gehen“ wollen?

Drei Generationen – man könnte sagen: Dann ist auch genug! Die Erfahrung eines Pflegevaters zeigt: Manchmal sind es in der Realität viel mehr Generationen!

Ein letzter Gedanke:

Viel zu oft hat man im Christentum gedacht, das Neue Testament habe das Alte Testament abgelöst. Die Guten, das sind die Christen, die Bösen, das sind die Juden.

Ich möchte sagen: Wir sind keinen Deut besser, wir waren auch nie besser.

Die ersten Jünger waren allesamt raue Kerle mit Ecken und Macken, die immer wieder zeigten, wie wenig sie von dem verstanden haben, was Gott ihnen gepredigt hat. Wenn ich mir die gegenwärtigen Diskussionen in der ev. Kirche anschaue, auf die besonders im Rheinland große Probleme zukommen oder die Bischofssynode in Rom, dann wird auch da das ganze Spektrum deutlich.

Wenn wir mit ernst Christen sein wollen, dann können wir gar nicht anders, als es Mose nachzusprechen:

„Mein Herr, wenn du mir wohl willst, dann gehe doch mit uns, Herr, es ist ein starrköpfiges Volk, doch du kannst uns unsere Schuld und Verfehlungen vergeben. Nimm uns doch als dein Eigentum an.“

Auch wir gehören dazu. Zu den Halsstarrigen gegenüber Gott. Zu denen mit Schuld. Zu denen mit Verfehlungen.

Sind wir es Wert? Weißt Du Gott, worauf Du dich einlässt, wenn Du Dich mit uns einlässt? Du wirst nichts als Ärger haben mit uns. Naja, manchmal wirst Du auch lächeln können, und vieles wird dir gefallen. Aber willst du wirklich unser Gott sein?

Gott wollte der Gott dieses halsstarrigen Volkes sein. Es ist bis heute halsstarrig – und es ist sein Volk geblieben. Die Juden wurden über alle Kontinente verteilt, aber sie sind Gottes Volk geblieben.

Und wir? Sind wir weniger halsstarrig? Gott hat uns hinzugenommen. In seinen Bund.

Er will auch unser Gott sein.

Er will uns vergeben. Er will uns trotzdem mit Haut und Haaren. Trotz der Dinge, die wir anstellen.

Und immer wieder erinnert er uns: Denkt an die Folgen. Nichts, was ihr tut bleibt ohne Folgen. Andere werden es mit ausbaden müssen.
Aber ich will Euer Gott sein und bleiben. Einer der lieber vergibt, als zu strafen. Einer, der am liebsten überhaupt nicht straft. Einer, der auch dann bei euch bleibt, wenn ihr die Folgen Eures Handelns ertragen müsst. Und wenn ihr ertragen müsst, dass auch andere euer Handeln ausbaden müssen.

1000 zu 3: Das ist meine Verhältnisbestimmung von Gnade.

Soweit der Abend vom Morgen lasse ich Eure Übertretungen von Euch sein.

Wenn Ihr euch auf mich einlassen könnt und wollt:
Ich lasse mich auf euch ein. Das ist unser Gott.
(Phil 4,7)

7 Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

EG RWL 677,1-4 Die Erde ist des Herrn

Fürbitten

Guter Gott,
du willst unser Gott sein und wir wollen zu dir gehören.
Du bist ein Gott, der bei uns ist ein Leben lang – und der uns im Tod nicht loslässt. Wir denken an HP und EM. Bei Dir wissen wir sie geborgen. Und trotzdem tut ihr Tod uns weh und besonders den Menschen, für die sie da waren. Gib ihnen Trost und hilf uns, bei den Trauernden zu sein. Hilf den Trauernden, auf uns zuzukommen. Du bist unser Gott. Hilf uns, das Richtige zu tun.

Guter Gott, wenn wir in der Bibel lesen, erschrecken wir, wenn wir von Flucht und Vertreibung lesen, von Hass und Gewalt, von Grenzen zwischen den Menschen und Völkern, von Grenzen zwischen Nachbarn.

Guter Gott, diesen Hass und diese Gewalt gibt es nun schon so lange. Warum ist damit nicht endlich Schluss? Warum fühlen sich religiöse Menschen so oft als etwas so Besonderes, dass sie auf andere Menschen herabschauen und sie bedrängen und unterjochen und vertreiben?

Guter Gott, wir möchten zu Dir gehören. Wir möchten Deine Bibel lesen und sie Richtschnur für unser Leben sein lassen. Hilf uns, dass wir uns und unseren Glauben nicht missbrauchen lassen für Hass und Gewalt, für Grenzen zwischen Menschen, die allesamt Deine Ebenbilder sind.

Hilf uns, das Nötige zu tun. Hilf uns, großzügig zu sein, wenn wir für Bibeln in Ruanda spenden. Es geht um viel mehr als nur um Bibeln. Noch gilt Ruanda als frei von Ebola. Wie lange noch? Auch dort haben die Menschen Angst. Auch sie brauchen unsere Unterstützung zu einem Glauben, der Menschen vereint und sie nicht trennt.

Guter Gott, hilf uns zu glauben, dass wir uns in unserem Glauben nicht einigeln müssen. Hilf uns zu glauben, dass wir eine Botschaft haben, die Menschen auch ohne Gewalt und Druck überzeugt. Hilf uns an die frohe Botschaft zu glauben, dass das Lachen eines Babys mehr überzeugt und größere Kraft hat als Bomben und Waffen. Und hilf uns, wenn trotzdem Waffen benötigt werden, um Menschen zu schützen, dass sie in die richtigen Hände gelangen und nicht mehr Unheil anrichten als nötig ist, um andere Menschen gegen Hass und Gewalt zu verteidigen.

Guter Gott, wir können nicht leben, ohne schuldig zu werden. Guter Gott, es tut oft so weh, an Kindern, Enkeln oder Urenkeln zu sehen, welche Folgen unser Handeln oder unser Unterlassen hat. Im Kleinen und im Großen. In der Familie und auch weltweit.

Steh denen bei, die wegen uns leiden müssen. Die für uns schuften für selten Erden oder die unsere Jeans nähen. Die für unsere Nahrung von ihrem Land vertrieben wurden – und wir wissen oft gar nicht davon.

Steh uns bei, wenn wir erkennen, wo unsere Schuld liegt. Wie sehr wir in Schuld verknüpft waren und in Schuld verknüpft sind. Weil Du trotzdem unser Gott sein möchtest, beten wir Dein Gebet:

Vaterunser

EG RWL 607 Herr, wir bitten: Komm und segne uns

Segen

Gehet hin im Frieden des Herrn.

Der Segen und die Güte Gottes
führe uns von der Ungerechtigkeit
zur Gerechtigkeit.

Der Segen und die Güte Gottes
führe uns vom Krieg
zum Frieden.

Der Segen und die Güte Gottes
führe uns
von den Ersten
zu den Letzten.
(Gottesdienst in gerechter Sprache, 2003, S. 129)

24 Der HERR segne euch und beschütze euch!
25 Der HERR blicke euch freundlich an und schenke euch seine Liebe!
26 Der HERR wende euch sein Angesicht zu und gebe euch Glück und Frieden!

Geist und Bibel – Bibel fordert zum Widerspruch

Wie wörtlich muss man die Bibel nehmen? Darf man ihr auch einmal widersprechen? Die Bibel selbst fordert zum Widerspruch heraus.

Der Geist macht lebendig (2. Korinther 3,2-9)
20. Sonntag nach Trinitatis – Reihe 6

Predigt am 13. 10.2002 in der Versöhnungskirche, Essen
Pfarrer z.A. Bernd Kehren

Liebe Gemeinde,

der Predigttext heute ist spannend, ungemein spannend.
Er stellt uns eine Art Falle.
Man kann ihn lesen und hören und sagen: Ja ja, alles richtig, und man kann das Gefühl haben: Wenn ich dem Text und den Buchstaben darin überall zustimme, dann mache ich nichts verkehrt.
Und genau in diesem Moment schnappt die Falle zu und wir müssen uns fragen, ob wir denn wirklich verstanden haben, als wir eben sagten: Ja ja, alles richtig…

Vorgestern habe ich zwei Menschen besucht, die kurzen Kontakt mit unserer Gemeinde hatten, und deren Leben deswegen eine völlig neue Wendung genommen hat. Sie lebten an der Flora, man kannte sie, wenn man genauer hinsah, mit einer Bierdose in der Hand, sie waren – nein, sie sind – Alkoholiker. Wie es genau passierte, ich weiß es nicht. Vielleicht, weil ich einen von ihren Kollegen einmal zu beerdigen hatte. So kamen wir ins Gespräch, zumindest mit dem einen. Der andere sprach ein Gemeindeglied an, bat um Hilfe. Der erste Kontakt war hergestellt. Zwei ganz unterschiedliche Menschen zu unterschiedlichen Zeiten.

Beide kamen in Kontakt zur Blau-Kreuz-Gruppe, die jeden Mittwoch im Gemeindezentrum tagt. Und beide Male hieß es: Ihr müsst auf Entzug, sofort, und wir kennen ein gute Anlaufstelle für die Therapie hinterher. Erst haben sie sich gesträubt. “Herr Pfarrer, wenn ich gewusst hätte, wohin sie mich bringen, ich wäre nie gekommen.” Und ich sagte nur: ”Der Tag heute wird noch ihr ganzes Leben verändern…”

Der eine hat zwar seine Therapie nicht ganz durchgezogen, aber er ist immer noch trocken, der andere ist noch mitten in der Therapie. Und ich bin überglücklich, weil sie es bis dahin geschafft haben. Und nun kommt der Punkt, warum ich ihnen davon erzähle:

Ich frage den einen, wie ihm denn die Therapie gefällt. „Ganz gut“, sagt er, „aber nicht alles. Ich könnte Ihnen Dinge erzählen…“

Um die Einzelheiten geht es jetzt nicht. Denn wir merken schnell: In der Therapie kann es nicht darum gehen, dass die Therapeuten immer lieb und nett sind. In der Therapie kann es nicht darum gehen, dass die Alkoholiker in Watte gepackt werden. Die Therapie muss sperrig sein und kantig. Den die Welt ist nicht glatt, sie ist nicht immer lieb und nett. Wenn die Therapie nicht zum Widerspruch herausfordert, denn gehen die Alkoholiker unter, wenn sie wieder in die tägliche Welt kommen, wenn sie wieder mit ihren Problemen konfrontiert sind, wenn sie selber gefordert sind, einmal “Nein” zu sagen, und wenn sie nicht stattdessen wieder ihren Frust mit Alkohol ersäufen sollen. Darum muss die Therapie auch Fallen stellen, Kanten bilden, zum Widerspruch herausfordern.

Unser Predigttext ist solch eine Therapie. Nicht für Alkoholiker, sondern für Gemeindeglieder. Und darum muss er uns kantig entgegenkommen, und wir müssen an diesem Text selber lernen, Widerspruch zu üben. Wenn wir das nicht machen, haben wir ihn noch nicht verstanden. Ich werde später darauf zurückkommen. Mal schauen, ob Sie merken, wo denn die Falle steckt.

Worum geht es?
Paulus hat die Gemeinde in Korinth gegründet, er hat von Jesus erzählt, die Menschen dort sind Christen geworden und haben sich – heute würde ich formulieren – taufen und konfirmieren lassen. Paulus hatte ihnen viel von Gott und Jesus erzählt. Und nun kommen andere und sagen: Alles Quatsch. Schaut euch doch mal den Paulus an. Wie der schon aussieht. Und wie der spricht. Der bekommt doch keinen Satz richtig zu Ende. Der kann doch gar nichts. Und habt ihr mal überprüft, wo der herkommt? Der war doch Christenhasser. Vor dem hat man doch gewarnt. Und auf den hört ihr? Hier, wir haben ein Zeugnis. Wir sind geprüft, schaut mal unsere Empfehlungsschreiben. Und was hat Paulus?
Paulus hat von all diesen Vorwürfen gehört, und nun schreibt er einen Brief, den zweiten Brief an die Korinther. Der Predigttext steht in Kapitel drei, die Verse 2 bis 9.

2. Kor 3,2-9 (Nach Klaus Berger)
2 Mein Empfehlungsbrief seid einfach ihr selbst,
denn da ich euch liebe, seid ihr in mein Herz geschrieben,
und das ist ein Brief, den alle erkennen und lesen können.
3 Dieser Brief ist von Jesus Christus verfasst, und ich bin nur der Überbringer.
4 durch Jesus Christus vertraue ich auf Gott, dass all dies wahr und gut ist.
5. denn ich bin ja nicht kraft meiner eigenen Vollkommenheit zu meinem dienst geeignet, sondern dadurch, 6 dass Gott mir die Fähigkeit geschenkt hat, den neuen Bund zu den Menschen zu bringen. Dieser Bund ist nicht mit Buchstaben, sondern dem Heiligen Geist aufgezeichnet. Der Buchstabe tötet, aber der Heilige Geist macht lebendig.
7 Die Bundesordnung, die mit Buchstaben in Stein eingemeißelt war, hat Menschen zum Tode verurteilt. Zwar hat Gott diese Ordnung, als er sie stiftete, mit dem Lichtglanz seiner Herrlichkeit ausgezeichnet, so dass die Israeliten Mose nicht ins Angesicht blickten, weil es so hell leuchtete von Gottes Feuerglanz. Aber dieser Glanz war vergänglich und wurde mit der Zeit immer schwächer.
8 Die neue Bundesordnung, die durch den Geist vermittelt wird, dagegen ist viel, viel herrlicher.
9 Denn wenn schon die Ordnung, die zum Tode verurteilt, mit soviel Herrlichkeit vermittelt wird, um wie viel leuchtender muss da die Ordnung vermittelt werden, die gerecht spricht.

Also, worum geht es? Und wo steckt die Falle?

Der Buchstabe tötet, aber der Geist, der Heilige Geist macht lebendig.

Wozu braucht Paulus Zeugnisse und Empfehlungsschreiben? Die Gemeinde, die er selbst gegründet hat, die ist seine Empfehlung. Nicht weil er es war, der sie gegründet hat: das hat alles Jesus durch seinen Geist selber gemacht. Paulus war nur das Werkzeug. Wie Werkzeuge so sind. Benutzt, kantig, nicht unbedingt hübsch, aber man kann sie gebrauchen. Paulus hat sich von Gott gebrauchen lassen. Er hat gestottert, sein Konfiunterricht hätte besser sein können, besonders hübsch war er auch nicht, egal: die Botschaft, die er hatte, die brachte Menschen zum Leben zurück. Und das so überzeugend, dass Paulus nur noch sagen konnte: Was für ein Zeugnis soll ich euch denn vorlegen: Schaut euch doch nur selber an. Was glaubt ihr? Was hofft ihr? Hat sich für euch nicht alles geändert? Geht es euch jetzt nicht gut? Buchstaben, auch Zeugnisbuchstaben können so viel kaputt machen. Auch Gesetzestexte, Gemeindeordnungen, und und und…

Aber wenn Gottes Geist uns beflügelt, wenn wir darauf hören, wie Gott uns lebendig macht, wenn wir nicht einfach nur den Buchstaben trauen, dann geht es uns gut, dann sind wir selber das Zeugnis, dann brauchen wir die Buchstaben nicht mehr, dann kann man unserem Leben ansehen, wie gut es uns geht mit diesem Glauben: Leute, ist das nicht wunderbar? Ist das nicht herrlich? Ist das nicht ein wunderbarer Glaube, den Gott uns gibt?

Da geht es nicht um ein paar hundert Mark Geschenke nach der Konfirmationszeit, vielleicht bei dem einen oder anderen auch ein paar Tausend Mark, da geht es um viel mehr, da geht es um das Leben selbst.
Und ich frage mich: Spürt man uns Älteren das noch ab?Paulus sagt: Ihr selbst seid der Brief. Vielleicht auch mit Ecken und Kanten, ihr fordert auch zum Widerspruch heraus, aber Gottes Geist ist in euch, ihr seid solch ein Brief, macht ihn auf, und lasst die Menschen in euch lesen. Der Tod hat keine Macht mehr. Ihr habt das Ewige Leben. Ihr müsst auch vor Krankheit und Tod keine Angst mehr haben. Euer Ziel ist das Leben, und das merken auch die anderen Menschen… Wunderbar.

Am liebsten würde ich jetzt aufhören. Christsein ist wunderbar, es geht um das Leben in all seiner wunderbaren Füllen, auch wenn man durch tiefe Täler geht, aber letztlich wird alles gut.

Und jetzt kommt die Falle. Und in der Geschichte unseres Christentums ist sie auf todbringende Weise zugeschnappt.
Paulus ist absolut vom Geist und vom Leben überzeugt. Leute, sagt er, das Gesetz und die Zehn Gebote, die Mose uns gebracht hat, die zeigen uns doch nur, wo wir versagen. Die zeigen uns doch nur unsere Fehler. Die bringen doch den Tod. Aber selbst die hatten doch göttlichen Glanz. Ihr kennt doch die Geschichte mit Mose. Wenn der mit Gott gesprochen hatte, dann war sein Gesicht so leuchtend, dass er nur mit einem Schleier verdeckt zu ertragen war. Das Gesetz und die Buchstaben, mit denen es in Stein gemeißelt war, war todbringend, aber selbst da konnte man Gottes Glanz leuchten sehen. Wieviel mehr leuchtet auf, wenn wir uns heute nicht auf die Buchstaben, sondern auf Gottes Geist verlassen?
Man spürt förmlich die Begeisterung von Paulus.
Das Gesetz, all die vielen Regeln, die dem Leben dienen sollen, die töten so oft das Leben. Verlasst euch auf den Geist, Gott macht das schon, von ihm kommt das Leben!

Und was ist draus geworden? Wir Christen haben die Buchstaben zu ernst genommen und den Geist zu wenig ernst. So wie die Buchstaben da stehen, muss man doch auf die Idee kommen, „mit dem jüdischen Glauben stimmt was nicht. Das sind die Heuchler und Pharisäer. Steht doch irgendwie so drin in unserer Bibel. Unser neues Testament bringt das Leben, im Alten Testament steckt der Tod. Leute, haltet euch lieber an das Neue Testament. Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“

Schnack.

Haben Sie gemerkt, wie unsere Falle zugeklappt ist?

Eben noch waren wir mit Paulus voll davon begeistert, wie viel Leben die Frohe Botschaft von Jesus Christen bringen soll, und was haben wir gemacht? Wir haben den Buchstaben geglaubt, haben dem Paulus kein ”Nein” entgegen gerufen, haben – als Christentum – nicht laut erwidert: ”Das ist doch Antisemitismus, was du da machst!”
Sondern wir haben in Form von Martin Luther dazu aufgerufen, dass man Juden piesackt und aus der Stadt wirft, letztlich haben wir zum Holocaust und zur Judenvernichtung beigetragen.
Weil wir nicht sehen konnten, wie viel Glanz schon im alten Gesetz Gottes steckt, und wie viel Leben das Alte Testament schon selbst gebracht hat, und wie sehr Jesus daraus schöpfte, mit seiner Lehre. Jesus war Jude und blieb Jude. Sein Leben lang. Das Gesetz, von dem kein I-Punkt wegfallen sollte, das war das jüdische Gesetz. Das Alte Testament ist eben genauso gut wie das Neue Testament. Trotz aller Begeisterung für das Neue, das Jesus für Paulus gebracht hat.

Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.

Der Satz stimmt. Wir dürfen uns begeistern lassen, da steckt Extase drin. Ihr jungen Menscher hier traut uns alten vielleicht gar nichts mehr davon zu und versucht, selbst euren Weg ins Leben und in die Begeisterung zu finden.
Aber vor lauter Begeisterung darf man nicht den kritischen Blick darauf verlieren, wo denn der Buchstabe überall töten kann.
Antisemitismus geht viel zu oft auf solche wortwörtlichen Stellen zurück, die wir in der Bibel finden. Und der Buchstabe hat dann in der Tat ganz wörtlich getötet. Nicht nur, als es zu Hitlers Judenvernichtung kam. Auch vorher schon. Und Namen wie der von Adolf Stoecker aus Berlin erinnern daran, wie Christen zu fanatischen Antisemiten werden können.

Und da ist dann unser Nein gefordert. Wir haben Paulus und sein Wort vom Geist, der Leben bringt, erst dann verstanden, wenn wir ihm entgegen halten: Deine Buchstaben, dein Korintherbrief, der bringt den Tod, wenn wir das Alte Testament so abwerten, wie du es hier tust.

Das ist die Falle, oder vielleicht die Probe, auf die uns Paulus stellt.

Wenn wir einfach sagen: Jaja, der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig, und wir wollen ja lebendig sein, wir wollen doch das pralle Leben, dann haben wir das nur verstanden, wenn wir auch ”Nein” sagen, wenn wir Paulus erwidern: Deine Buchstaben können auch zum Tod führen, auch deine Buchstaben sind nicht alles, der Geist führt uns in einer andere Richtung, er führt zum Leben, und das geht –  wenn wir an die Juden denken – nur mit ihnen zusammen, nicht gegen sie.

Wenn wir den Predigttext heute richtig verstehen wollen, dann müssen wir uns daran reiben. So wie die Alkoholiker am Anfang, die die Therapie erst dann zum Erfolg bringen, wenn sie dem Widerstand der Therapeuten nicht ausweichen, sondern auch einmal Nein sagen, das gefällt mir so nicht, das muss doch anders laufen. Und ich greife nicht zur Flasche oder zur Tablette, ich stehe zu meinem Nein, ich bleibe beim Leben.

So müssen wir uns dran reiben und sagen: so geht das nicht. Es geht um das Leben in seiner ganzen Fülle, und damit hat Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit bei uns keinen Platz. Selbst wenn man etwas davon in der Bibel finden könnte.

Zwei Beispiele zum Schluss.

Eine meine ergreifensten Beerdigungen war die eines Homosexuellen. Seinen todkranken Partner hat er gepflegt wie ein Ehepartner. Er hat zu ihm gehalten bis zum Schluss. Drei Jahre später war er selber tot. Wie soll ich das bewerten?

Es gibt Paulusworte in der Bibel, die klar sagen, dass Menschen, die ihre Homosexualität auch leben, nicht in den Himmel kommen. Und es gibt immer noch die Meinung in der Kirche, dass deswegen Homosexuelle keine Pfarrer sein können oder Mitarbeiter in einem CVJM. Und ich muss sagen: wenn ich die Bibel wörtlich nehme, dann stimmt das. Dann muss ich mich entsprechend engagieren, muss Aufklärungsarbeit betreiben, und vieles mehr, und wenn jemand sagt, ”du, ich bin schwul und ich habe mich verliebt”, dann darf er (oder sie) die Kindergruppe oder sonst was nicht mehr leiten, denn es steht im Widerspruch zum Buchstaben der Bibel.

Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.

Wir haben Paulus erst dann verstanden, wenn wir unser Nein formulieren, auch zu Bibel-Buchstaben – dann, wenn sie töten und wenn sie das Leben verhindern.

Unsere frohe Botschaft von der Liebe Gottes zu uns Menschen steht für das Leben. Gott selber ist in den Tod gegangen, damit wir auferstehen und leben und lieben.

Und ich soll einem Menschen sagen: du durftest deinen Partner, den du bis zum Tod gepflegt hast, nicht lieben? Wenn ich das mache, dann töte ich mit dem Buchstaben. Dann tappe ich in die Falle, dann habe ich noch nichts verstanden von Gottes Geist, der das Leben bringt.

Dasselbe gilt beim Thema Ehescheidung aus dem heutigen Evangelium (Markus 10,2-9).

Es ist ganz klar: was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. Es lohnt sich immer, um eine Ehe zu kämpfen. Wenn da Leute zusammenkommen und eine Diskussion anfangen, ob das denn wirklich so geht und ob das überhaupt praktikabel ist, dann kennt Jesus keinen Widerspruch. Ehescheidung gibt es nicht. Aber das ist nur der eine Teil der Wahrheit. Denn auch Jesus weiß, dass Ehepartner an Grenzen kommen, die sie zerstören. Dass an solchen Grenzen der Buchstabe tötet. Und dass beide – und auch die Kinder – die Chance haben sollen, zum Leben zu finden. Und dass ein Neuanfang vielleicht der bessere Weg ist, und darum spricht er vom Trennungsbrief des Mose, wenn sich unsere Herzen zu sehr verhärtet haben.

Wie war das mit Paulus? Er war nicht perfekt, und auch wir sind nicht perfekt. Gott liebt uns trotzdem und er will, dass es uns gut geht, dass wir zum Leben kommen, dass wir singen und tanzen und uns des Lebens freuen.

Darum halten wir eben nicht mehr an jedem Buchstaben fest, darum lassen wir uns begeistern – und sagen auch einmal Nein, wenn Buchstaben töten.

Denn wir sind Gottes lebendige Briefe, mit denen er uns und alle anderen Menschen auch zum Leben führen will.

Um nichts weniger geht es: Um das Leben in seiner ganzen Fülle.

Amen.