Überwinde das Böse mit Gutem

13.07.2014 – 10:00
Dietrich-Bonhoeffer-Haus, Swisttal-Odendorf
Gottesdienst zum
4. Sonntag nach Trinitatis (VI) Röm 12,17-21

Wochenspruch:
Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Galater 6,2

Eingangslied
EG 671 Unfriede herrscht auf der Erde

Liturgische Begrüßung

“Vergeltet nicht Böses mit Bösem, überwinde das Böse mit Gutem!” –
Geht es Ihnen auch so wie mir? Man freut sich über die Erfolge auf der Fußball-Weltmeisterschaft – und dann bleibt einem die Freude im Halse stecken, wenn man von den Raketen in Israel hört, von Toten und Verletzten. Und dann diese Nacht Raketen auf Städte in Israel, Jerusalem, auf den Flugplatz in Tel Aviv, Abwehrraketen, zum Glück nur Verletzte, Raketen auf Gaza, mehr als 56 Tote dort, Israel ist mit ersten Bodentruppen in Gaza.
Dazu schlimme Nachrichten aus der Ost-Ukraine.
Irgendwie kommt dieser Gottesdienst heute zu spät.
Soll ich heute meine Stola ablegen? Ist sie zu bunt? Oder soll ich sie anbehalten als Zeichen dafür, dass Gottes Liebe trotz allem grenzenlos bleibt?
Gerade wegen der Entwicklung in der Welt möchte ich stellvertretend als Sündenbekenntnis gleich ein Gebet für Israel / Palästina lesen.

Psalm EG 709.2
Ps 22,23.24a.25-29.32

Ehr sei dem Vater …

Gebet für Israel / Palästina
Du Gott des Friedens:
Wir alle leben davon,
dass du unsere Bosheit
nicht mit Bösem vergiltst,
und an die Stelle von Rache
dein barmherziges Recht setzt.
Du bist Anwalt der Schwachen,
weist die Starken in Grenzen
und schaffst Versöhnung.
An dich wenden wir uns,
ratlos und empört
angesichts der neuen Welle von Gewalt
im Nahen Osten.
Wir können die Trauer ganz Israels
über den Mord an drei Schülern verstehen.
Wir teilen den Zorn der Palästinenser
über den grausamen Rachemord.
Aber die Hassparolen auf beiden Seiten,
die Bereitschaft zu Gewalt
und der Ruf nach weiterer Vergeltung
wecken die Sorge um die Zukunft
der ganzen Region.
Nach unserem Ermessen
gibt es kaum noch Möglichkeiten
der Versöhnung,
und wir fürchten die Folgen eines Flächenbrandes
auch für uns.
Gott, bewahre uns davor,
uns in den Konflikt hineinziehen zu lassen,
einseitig Schuld zuzuweisen,
und die Verletzungen und Ängste
der anderen Seite
nicht anzuerkennen.
Wir haben keine tauglichen Rezepte.
Deshalb bitten wir dich:
Schaffe du Frieden
für Israel und Palästina,
und für die angrenzenden Staaten.
Heile die Wunden,
die Hass und Gewalt geschlagen haben
und führe die Menschen zusammen
in Respekt füreinander
und im Geist der Versöhnung.
Sylvia Bukowski, 7. Juli 2014
http://www.reformiert-info.de/13278-0-12-2.html

Kyrie-Gesang
EG 600 Meine engen Grenzen

Zuspruch
Gott kennt unsere Grenzen, und Ohnmacht und unsere Sehnsucht. Seine Liebe ist der Schlüssel, dass wir auf sein Erbarmen vertrauen und uns auch in Schwierigkeiten stark und frei fühlen dürfen. Bei ihm sind wir zu Hause – auch in Angst um das, was in der Welt geschieht. Gott ist der Gott aller Menschen.

Ehre sei Gott in der Höhe

Kollektengebet
Gott voll Barmherzigkeit und Liebe,
hilf, dass auch wir barmherzig sind und die ertragen, die du erträgst.
Gib, dass wir einander verstehen lernen.
Durch Jesus Christus, unsern Herrn.
(EG zum 4. S.n.Tr.)

Evangelium: Lk 6,36-42

Halleluja
Das ist ein köstlich Ding, dem HERRN danken *
und lobsingen deinem Namen, du Höchster.
Psalm 92,2 Halleluja.

Glaubensbekenntnis

Lied
EG RWL 665 Liebe ist nicht nur ein Wort

Predigt
Römer 12, 17-21
17  Vergeltet niemandem Böses mit Bösem.  Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.
18 Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so  habt mit allen Menschen Frieden.
19  Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5. Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.«
20 Vielmehr,  »wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22).
21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

Liebe Gemeinde,

leichter gesagt als getan.

Wenn man uns fragte, wie konfliktfähig wir sind, die meisten von uns würden sich wohl bescheinigen, dass wir eine ganze Menge aushalten können, und dass wir nicht besonders nachtragend sind.

Aber gibt es nicht irgendwie in jeder Familie Konflikte, die irgendwann einmal jemand unter den Teppich gekehrt hat, an die man nicht wirklich heran kommt?

Ich gestehe, ich kenne so etwas in der Familie. Ich mache das nicht gerne, aber es gibt so etwas. Menschen, die von der Beerdigung ihrer Geschwister ausgeschlossen wurden, weil es vorher so sehr gekracht hatte, dass man sich nur noch aus dem Weg gehen konnte.
Solche Konflikte haben eine Vorgeschichte. Wie oft hat man dann da gesessen, sich angehört, was der eine der Konfliktpartner über den anderen sagte, und dann auch, was der andere über den einen sagte.
Man kennt beide, man merkt, dass man beide Positionen ein Stück weit nachvollziehen kann, auch wenn man selber die jeweils andere Person so ganz anders kennt. Ja, beide haben ihre Schwächen, man erkennt den anderen in der Kritik durchaus wieder, und trotzdem tut es weh, den anderen so missverstanden zu sehen. Es tut weh, zu sehen, wie beide Seiten leiden. Der Konflikt tut niemandem gut, es gibt nur Opfer, nur Verletzungen. […]
Andere Konflikte sind globaler.

Israel konnte und wollte nicht aufhören, Siedlungen zu bauen. Die Hamas konnte und wollte nicht aufhören, Raketen zu schmuggeln, aufzustellen und abzuschießen.
Dann der grausame Mord an drei Jugendlichen. Dann der grausame Mord an einem Jugendlichen. Eine Verhaftungswelle. Raketen. Hunderte Tote.
Aktivisten und Zivilisten. Aktivisten, die sich hinter Zivilisten versteckten. Israel, das erst anruft und eine leere Rakete schickt, bevor sie ein Haus bombardiert. Eine Hamas, die Zivilisten auffordert, in dieses Haus zu kommen, damit die Israelis es nicht bombardieren können. Aber wenn die Rakete bereits unterwegs ist, wenn man das bemerkt, gibt es viele Tote.
Politiker, die zu Rache aufrufen und denen man hinterher ihre Bemühungen um Mäßigung nicht mehr wirklich abnimmt. Und nun die Eskalation.

Ich muss an den jungen Mose denken, Pflegekind bei der ägyptischen Prinzessin, Terrorist, der den Ägypter erschlägt, der den jüdischen Landsmann bedrängt.
Dem man den Friedenswillen nicht mehr abkauft, als er unter seinesgleichen Streit schlichten will.
Der Böses mit Schlechterem vergolten hatte. Der fliehen musste. Ins Exil. Der dort seine Liebe fand und – nach der Priesterlehre beim heidnischen Schwiegervater – am brennenden Dornbusch auch den jüdischen Jahwe-Glauben kennenlernte.
Den Gott des Alten Testaments, der von so vielen Menschen als Rachegott abgelehnt wird.

Hat er das nicht so oft gesagt: „Mein ist die Rache, spricht der Herr?“ Paulus zitiert hier in seinem Römerbrief 5. Mose 32,35.

Aber was bedeutet die Stelle in ihrem Zusammenhang?

Viele Menschen zu allen Zeiten dachten, dass Gott ein besonders effektiver Rächer ist. Und wenn er das so effektiv kann und tut, dann darf man ihm auch mal zuvor kommen und die Sache in die eigene Hand nehmen.  So haben es dann später oftmals die Christen gemacht. Sie fühlten sich berufen, an Gottes Stelle für ihn zu kämpfen und an seiner Stelle das Schwert in die Hand zu nehmen. Und wir müssen uns immer noch schämen über die Kreuzzüge, über Inquisition, über Kämpfe gegen die Achse des Bösen, über Todesstrafe und vieles mehr.

Denn was ist, wenn es ganz anders gemeint ist? Wenn Gott sagen will: Haltet Euch da raus. Lasst die Rache mal bitte meine Sache sein. Ihr seid viel zu aufgeregt; Ihr seid viel zu parteiisch. Wisst Ihr nicht, dass ich ein gnädiger Gott bin, der den Brudermörder Kain unter seinen Schutz stellte statt auch von ihm das Leben zu fordern?
Rächt euch nicht selbst, so heißt es im Römerbrief.
Paulus zitiert 3. Mose 19,18, und jeder bibelfeste Jude weiß sofort, wie der Vers dort fortgesetzt wird: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; in bin der HERR.“

Rächt Euch nicht, und dann folgt in 3. Mose das Gebot der Nächstenliebe, das uns vor allem aus dem Neuen Testament bekannt ist. Der Nächste, der Volksgenosse ist nicht der Fremde. Aber auch dazu gibt es Anweisungen, und selbst die Feindesliebe kommt in praktischen Anweisungen des Alten Testaments zum Ausdruck.

„Vergeltet niemandem Böses mit Bösem.  Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.“

Was für Kreisläufe kann man in Gang setzen, wenn man immer nur auf Stärke und Vergeltung setzt?
Was für Kreisläufe kann man in Gang setzen, wenn man auf Versöhnung setzt, ohne seine Sicherheit ganz außer Acht zu lassen?

Der Kreislauf aus abblocken, Siedlungen bauen, täglich sticheln, Wasserzuteilungen kürzen, er hat jedenfalls in die Eskalation geführt. “Anders geht es nicht. Eine andere Sprache verstehen die nicht. Man kann sich doch nicht alles gefallen lassen …”
Immer schneller hat sich die Spirale gedreht. Und diese Nacht hatten wir Krieg, und es sieht so aus, als würde er noch weiter eskalieren.

Unser Bundespräsident wurde gescholten, weil er mehr Engagement in der Welt gefordert hat. Ich bin überzeugt davon, dass es ihm Ernst war, dass bewaffnete Einsätze nur die allerletzte Möglichkeit sein dürfen, die er aber nicht ausschließen wolle. Und ich habe alle seine Äußerungen so verstanden, dass es vor dieser Schwelle viel zu tun gibt. Dass man vorher nicht locker lassen darf, dass man nichts unversucht lassen darf, um zu deeskalieren, um Menschen in die Lage zu versetzen, ihren Hass zu bändigen.

Ist wieder einmal viel zu wenig getan worden? Hätte man doch noch intensiver darauf hinweisen müssen, dass ausgeweiteter Siedlungsbau in die Katastrophe führen wird? Wo stehen wir als Christen? Dürfen wir einstimmen in den Chor derer, die sagen, es hat ja doch keinen Zweck?

Gibt es keine Alternativen?

Ich verfolge seit Jahren das Projekt www.Ferien-vom-Krieg.de
Angefangen hat es mit Kindern und Jugendlichen der verfeindeten Volksgruppen im ehemaligen Jugoslawien, seit einigen Jahren finden auch Ferienprojekte für Jugendliche aus Israel und Palästina statt. Fast alle Teilnehmer haben zum ersten Mal in ihrem Leben die Chance, den Konflikt mit den Augen der Gegner zu sehen. Es kostet sie unendliche Mühen, aus ihren Gebieten auszureisen und ein Visum zu bekommen. Hinterher müssen sie sehr vorsichtig sein wegen der Vorwürfe, sie hätten sich mit den Feinden eingelassen und seien nun Verräter. Aber alle wollen Sie weiter für den Frieden mitarbeiten. Alle können sie nicht aufhören, feurige Kohlen auf das Haupt der Feinde zu sammeln, ihnen Gutes zu tun, um sie so zu beschämen, dass aus Feinden Freunde werden.

Die Kollekten heute kann ich nicht umwidmen, aber ich kann Ihnen die Flyer empfehlen, die ich mitgebracht habe. Gerade eben noch kam über Twitter die Meldung, dass es dem ARD-Korrespondent Markus Rosch gelungen ist, Gaza zu verlassen. Und die Meldung: Die Straßen sind voller Flüchtlinge.

Die Jerusalem Post analysiert heute früh: Es sei ein Irrglaube, Israel könnte die Hama zerschlagen, ebenso wie es ein Irrglaube der Hamas ist, es werde nach der Vernichtung Israels aus den Ruinen ein neues Palästina entstehen. Bis jetzt habe die „eiserne Abwehrkuppel“ der israelischen Abwehrraketen gehalten. Aber das könne keine Option auf Dauer sein. Israel habe die Zahl ziviler Toter auf ein Minimum begrenzen können, so sehr jeder einzelne Tote schmerze. Vielleicht – das ist die Hoffnung – sei die militärische Führung der Hamas jetzt so geschwächt, dass sich die zivilen Palästinenser in den nächsten Wahlen für eine weniger gewaltbereite Regierung entschließen. Aber zu engagierten Friedensbemühungen gebe es keine Alternative.

Liebe Gemeinde, mir scheint, selten war ein Predigttext so aktuell. Selten waren seine Mahnungen so wertvoll. In der großen Politik wie im menschlichen Miteinander. Sind die Tischtücher erst zerschnitten, wird es unendlich schwer, sie wieder zusammen zu nähen. Es bleiben Wunden und Verletzungen. Um so wichtiger ist es, Böses mit Gutem zu überwinden. Hass auf Israel bringt gar nichts. Hass auf die Hamas auch nichts.

Ganz ehrlich: Ich kann jeden verstehen, der nach den Demütigungen der letzten Jahre und Jahrzehnte auf Gewalt nicht verzichten mag.
Und trotzdem führt dieser Weg immer in die Katastrophe. Es war noch nie anders.

Aber in all den Konflikten, in denen man den Betreffenden echte Perspektiven anbieten konnte, konnten auch die Konflikte überwunden werden. Nordirland, Baskenland, in Deutschland die RAF, Südafrika die Apartheid, Martin Luther King in den USA: Es hat sich gelohnt, nichts unversucht zu lassen.

Es lohnt sich, wenn wir nicht locker lassen und immer wieder fragen: Haben wir unseren Gegnern schon genug Gutes getan? Hat Deutschland sich schon genug für Frieden engagiert – oder immer nur für den eigenen Wohlstand? Was kann man noch für Frieden tun?

Und letztlich unser Gott: Was wäre, wenn er sagen würde, es hat doch keinen Zweck mehr…

Aber er sagt: Es hat immer noch Zweck, mit Liebe auf Hass zu antworten. Versucht es. Es ist für ihn ebenso mühsam wie für uns. Aber er lässt nicht locker.

Darum sollten wir uns einsetzen. Im Privaten – da gibt es für jeden genug zu tun, angefangen von der Erziehung unserer Kinder und Enkel: Können sie von uns lernen, wie man Gegner und Feinde liebt und ihnen Gutes tut?

Über unsere öffentlichen Äußerungen, wenn wir die Nachrichten hören, bis zu den Wahlen: Wählen wir Parteien, die zuverlässig für Deeskalation eintreten oder solche, die lieber die Zügel schleifen lassen, bis alles zu spät ist?

Überlassen wir die Rache lieber Gott. Er kennt auch die andere Seite. Und wenn Gott den anderen lieber in den Arm nimmt, um auch ihn zu trösten, werden wir nicht böse. Denn auch wir können nur deswegen leben, weil Gott auch uns in den Arm nimmt. Immer wieder neu.

Lied
EG 666 Selig seid Ihr

Meditation zum Abendmahl
„Du bereitest einen Tisch im Angesicht meiner Feinde“, so heißt es in Psalm 23.
Die Raketen fliegen, aber Du lässt dich nicht abbringen, deckst den Tisch, lädst mich ein ebenso wie die, mit denen ich streite.
Wir sollen zu Besinnung kommen, wir sollen unsere Kriegsbeile begraben, wir sollen merken, dass wir alle als Menschen Deine Ebenbilder sind.
Wir sollen merken, dass wir alle Menschen sind.
Manchmal fällt es uns schwer angesichts unserer Wut und unserer Trauer, dass wir uns auf Deine Einladung einladen. Trotzdem wollen wir Dich loben und preisen mit allen Völkern – gerade auch wenn einige jetzt noch verfeindet sind…

Dankgebet
Auch in Krieg und Not können wir Dich preisen, Gott, denn Du lädst uns ein an deinen Tisch. Hab Dank, dass wir dort auch unsere Gegner finden. Du hast sie eingeladen. Hab Dank, dass du nicht zulässt, dass wir Feinde bleiben.
Hab Dank, dass Du nicht Hass predigst, sondern Liebe.
Hab Dank, dass wir an deinen Tisch kommen dürfen.

Abendmahl

Joh 20,21
Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.

LIed
EG RWL 678 Wir beten für den Frieden

Segen

Das Licht der Vergebung erhelle uns den Weg,
der Baum des Friedens gebe uns den Schatten,
die Welle der Liebe trage uns über das Meer,
die Kraft der Verwurzelung lasse uns beweglich sein.
Gottes Segen fließe durch unsere Hände und Füße,
damit wir, von Gott gesegnet,
für andere ein Segen sind.
(aus benno 2003, Segensworte für das ganze Leben, S. 181)

Pfingsten waren die JüngerInnen nicht ängstlich

War Pfingsten ein Aufbruch von Angsthasen, wie man es immer wieder in Andachten und Kommentaren zum Pfingstfest lesen kann?

Warum die Jüngerinnen und Jünger voller Erwartung waren und was Christinnen und Christen vom Judentum lernen können.
Meine Pfingstpredigt zu Apostelgeschichte 2 und (kurz) zu Römer 8 vom 19.05.2002, Pfingsten 2014 neu eingestellt und 2022 nachbearebeitet

War Pfingsten ein Aufbruch von Angsthasen, wie man es immer wieder in Andachten und Kommentaren zum Pfingstfest lesen kann?

Warum die Jüngerinnen und Jünger voller Erwartung waren und was Christinnen und Christen vom Judentum lernen können.
Meine Pfingstpredigt zu Apostelgeschichte 2 und (kurz) zu Römer 8 vom 19.05.2002, Pfingsten 2014 neu eingestellt und 2022 nachbearebeitet:


Welche Vorstellung haben wir von den Jüngern, wie sie da im Hause sitzen?
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich hatte bis zur Kindergottesdiensttagung um Himmelfahrt den Text mit dem ungläubigen Thomas aus dem Johannesevangelium vor Augen.

„Die Jünger waren beisammen und hatten aus Angst vor den führenden Juden die Türen abgeschlossen. Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: »Frieden sei mit euch!«“

Vor meinem inneren Auge sitzen ängstliche Jünger, die sich gegenseitig anstarren, wie sie voller Angst zittern. Sonst machen sie nichts.

Aber mit den inneren Augen ist es wie mit den richtigen Augen: Manchmal sind sie arg kurzsichtig.

[Ergänzung 2022:
Denn die letzten Verse des Lukasevangeliums, am Ende der Verse über die Himmelfahrt (!), lauten:
51 Noch während er sie segnete,  entfernte er sich von ihnen und wurde zum Himmel emporgehoben. 52 Sie fielen zu Boden und beteten ihn an. Dann kehrten sie voller Freude nach Jerusalem zurück. 53 Sie verbrachten die ganze Zeit im Tempel und lobten Gott.]

Auf der Kindergottesdienst-Helfer-Tagung [2002] in Duisburg gab es Bibelarbeiten zur Pfingstgeschichte, und eine davon wurde von Sasja Martel gehalten. Sasja ist Jüdin und leitet ein Lehrhaus in der Nähe von Amsterdam.

Für manchen Juden ist unser Neues Testament das bedeutungsloseste, was man sich vorstellen kann. Andere, und dazu gehörten ihre Lehrer Aschkenasi, Flusser und Safrai, haben das NT als ein jüdisches Buch schätzen gelernt. Sie glauben zwar immer noch nicht, dass Jesus der Messias ist, aber sie entdecken darin so viel aus ihrer eigenen jüdischen Religion.

Ostern und das Pessach-Fest gehören einfach zusammen. Und fünfzig Tage nach dem Pessachfest liegt das Wochenfest, das Schawout-Fest, das unserem Pfingsten entspricht. “Pfingsten” bedeutet hat auch nur “50”, nämlich 50 Tage nach Ostern, 50 Tage nach Pessach.

Was machen fromme Juden fünfzig Tage nach Ostern? Sasja Martel erklärte es uns so:

Pessach, zum Passafest, denken die Juden daran, wie sie aus der Sklaverei in Ägypten befreit wurden. Aber es ist gar nicht so einfach, in Freiheit zu leben. Wirklich frei zu sein, wirklich in allem frei entscheiden zu können, das muss man lernen.

Und wirklich frei entscheiden zu können, das bedeutet, Ebenbild Gottes zu sein. Wir sind von Gott geschaffen, um frei entscheiden zu können. Einfach ist das nicht. Die Juden sagen, 40 Jahre lang mussten sie es lernen, 40 Jahre lang sind sie deswegen durch die Wüste gezogen. Und am Schawout-Fest, am Wochenfest, zu unserem Pfingsten, da feiern sie diese Freiheit, die Gott uns allen gegeben hat. So wie wir Adventskalender haben, in denen wir jeden Tag ein Türchen aufmachen und auf Weihnachten zugehen, so zählen die Juden jeden einzelnen der 50 Tage bis Schawout.

Und wodurch wird man frei? Wenn man sich frei entscheiden will, braucht man Tradition, muss man wissen, woher man kommt, muss man seine Geschichte kennen, muss man im Gespräch bleiben mit den Alten, mit den ganz alten Geschichten.

Diese alten Geschichten mit der Tora, dort finden die Juden ein Modell für das Leben, ein Modell dafür, frei zu sein. Die 5 Bücher Mose sind wie Steno, wie eine Kurzfassung alles dessen, was das Leben möglich macht.

Und deswegen ist es so wichtig, die Bibel zu lesen und zu studieren. Nicht so sehr, um die richtigen Antworten zu finden. Die Antwort ist nur für jetzt, aber mit einer guten Frage kann man 50 Jahre lang leben.

Dafür muss man streiten und diskutieren und immer wieder die Bibel studieren.

Dass ist Leben, dass ist frei sein, entscheiden können, das ist Mensch sein.

Es geht nicht darum den anderen zu überzeugen. Jeder soll er selber bleiben. Denn es gibt nicht die Wahrheit. Die Wahrheit entwickelt sich weiter, bis die Erlösung kommt.

Deswegen soll man streiten, aber das Ziel ist das Leben, das Ziel ist es, frei zu sein. Und für dieses Ziel ist für die Juden das Torastudium so ungeheuer wichtig.

Und was hat dies alles mit Pfingsten zu tun? Warum heute dieser lange Ausflug ins Judentum?

Zum Wochenfest, zu Schawuot, zu Pfingsten nehmen sich orthodoxe Juden den ganzen Tag frei zum Torastudium.

Sie beginnen am Abend und lesen und diskutieren die ganze Nacht hindurch, wenn sie es durchhalten. Sie lesen und streiten, denn es geht um das Leben und um die Freiheit.

Und wenn man sich so intensiv um die Tora bemüht, dann geschehen auch schon einmal merkwürdige Dinge.

„Es wird erzählt, dass Rabbi Elieser und Rabbi Joschua einmal im Haus von Abuja zu Gast waren, als dort ein Fest gefeiert wurde. ‚Lasst uns auch Vergnügen haben’, sagten die beiden zueinander, und sie befassten sich mit den Worten der Tora; von der Tora gingen sie zu den Propheten über und von den Propheten zu den Schriften, Und ein Feuer kam vom Himmel herab und umgab sie. Abuja rief erschrocken: ‚Meine Lehrer, seid ihr gekommen, um mein Haus in Brand zu stecken?’ ‚Keineswegs’, sagten sie, ‚aber die Worte erfüllen uns mit der gleichen Freude wie damals, als sie auf dem Berge Sinai offenbart wurden, und damals brannte der Berg bis ins Herz des Himmels.’“

Für eine Jüdin wie Sasja Martel ist völlig klar, was die Jüngerinnen und Jünger damals zu Pfingsten gemacht haben in Jerusalem: Sie haben ihre Torastudien betrieben, sie haben intensiv die Bibel gelesen und sich darüber unterhalten.

Zu Pfingsten wird übrigens die Rolle mit dem Buch Ruth gelesen, die Geschichte der Ausländerin, die nicht-jüdische Frau, die sagt, ‚dein ist mein Gott’, die Geschichte also, die deutlich macht, dass Gott die Freiheit und Erlösung für jeden Menschen will, nicht nur für Juden etwa.

Und für diese Jüdin ist überhaupt nicht verwunderlich, dass an einem solchen Tag der Geist Gottes in dieses Haus des Torastudiums kommt, in dieses Haus, in dem ganz intensiv die Bibel gelesen und diskutiert wird.

Schöpfung, Offenbarung, Erlösung: Mit diesen drei Worten hat Sasja die ganze jüdische Tradition zusammen gefasst.

Gott der Schöpfer, würde ich übertragen, Jesus der, in dem sich Gott uns Menschen offenbart hat, und der Geist, in dem Gottes Erlösung zu uns kommt. So würde ich als Christ die Analogie zu diesen drei Begriffen sehen.

Und in Pfingsten läuft dies zusammen. Gott hat den Menschen als sein Ebenbild geschaffen, als freien Menschen, aber die Menschen konnten mit der Freiheit nicht umgehen. Darum kam am Sinai mit der Tora die Offenbarung, und zu Pfingsten bemühen sich die Juden um das Torastudium, um die Freiheit, um das Leben, kurz: um die Erlösung.

Und so sitzen die Jünger im Haus, und über dem Torastudium kommt der verheißene Geist. Völlig unverwunderlich erleben sie eine Flammenerscheinung, völlig unverwunderlich öffnet sich die Erlösung zu den vielen Menschen und Völkern, wie es schon in der Geschichte der Ruth angedeutet ist.

Genau um diese Freiheit geht es auch im Predigttext aus Röm 8.

Wenn man diese Zusammenhänge mit dem Torastudium und dem Geist und der Erlösung für alle Menschen begriffen hat, dann versteht man auch recht schnell die Verse aus dem Predigttext.

Paulus schreibt:

„Ihr aber seid nicht mehr von eurer eigenen Natur bestimmt, sondern vom Geist. Es will doch etwas besagen, dass der Geist Gottes in euch Wohnung genommen hat! Wer diesen Geist – den Geist von Christus – nicht hat, gehört auch nicht zu ihm. 10 Wenn nun also Christus durch den Geist in euch lebt, dann bedeutet das: Euer Leib ist zwar wegen der Sünde dem Tod verfallen, aber der Geist erfüllt euch mit Leben, weil Christus die Sünde besiegt hat und ihr deshalb bei Gott angenommen seid.“

Pfingsten feiern wir Christen, dass Gottes Geist zu uns gekommen ist, dass er die Erlösung gebracht hat, dass dieser Geist in uns wohnt., dass wir zu Jesus gehören.

Wir leben noch in dieser Welt, in einer Welt, in der es auch Krankheit und Tod noch gibt.

Aber wir feiern Pfingsten: Das Fest des Geistes Gottes, der uns mit Leben erfüllt, der uns die Sünde wegnimmt, der uns frei macht zu einem erfüllten Leben, zu einem Leben gefüllt mit Lernen und Tun. So feiern wir Pfingsten als ein besonderes Fest des Lebens.

[2. Ergänzung 2022:
Woher kommt nun das Missverständnis?
Das findet sich im Lesungstext II von Pfingstmontag aus Joh 20,19-22.
Es handelt sich um eine Ostergeschichte (!), die schon am Ostersonntagabend in der Geistausgießung mündet. Auch dort werden die Jünger zu Ostern aus der Angst gerissen.
Das geht parallel zur Lukasvariante:

Am Abend des ersten Tages der Woche,
da die Jünger versammelt
und die Türen verschlossen waren
aus Furcht vor den Juden,
kam Jesus und trat mitten unter sie
und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch!
20 Und als er das gesagt hatte,
zeigte er ihnen die Hände und seine Seite.
Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen.
21 Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch!
Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.
22 Und als er das gesagt hatte, blies er sie an
und spricht zu ihnen : Nehmt hin den Heiligen Geist!
23 Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen ;
welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.“

Nimmt man aber mit Lukas Bezug auf das Pfingstfest 50 Tage nach Ostern, gibt es dort keine Furcht mehr.

Bei Johannes erscheint der Hinweis auf den Heiligen Geist abschließend wie eine Warnung:
Wer nicht aus Gottes Liebe und Vergebung heraus lebt, kann Menschen in ihren Sünden festhalten. Aber das ist noch ein ganz anderes Thema.]