Überlegungen zu einem friedensethischen Beitrag von Ralf Becker, Koordinator der Initiative „Sicherheit neu denken“ der Evangelischen Kirche in Baden, der eindringlich für zivile Widerstandsmethoden wirbt und entschieden der herrschenden Logik militärischer Eskalation widerspricht, erschienen in Zeitzeichen.net Man sollte ihn gelesen haben, um die hier folgenden Fragen und Anmerkungen zu verstehen.
Was Ralf Becker leider nicht erwähnt: Gewaltfreiheit ist nicht nur auf einen gewaltfreien Widerstand angewiesen, sondern auch auf einen Gegner, der bereit ist, sich darauf einzulassen. Mit Putin statt Gorbatschow wären wahrscheinlich auch die friedlichen Proteste in der DDR ganz anders ausgegangen.
Meint jemand ernsthaft, wer sinnlos zivile Ziele angreift, ließe sich durch zivilen Protest stoppen?
Wenn zivile Proteste doppelt so oft wirken wie gewaltsamer Widerstand, wie Becker schreibt, bleibt immer noch ein Drittel der Konflikte, bei denen sie nicht wirken.
Der gewaltfreie Widerstand braucht Gruppen, die ihn gehen. Die genügend vernetzt sind, die konkrete Strategien haben, die darauf vorbereitet haben. Die ihren Widerstand unter den Bedingungen aktueller digitaler Überwachungsmöglichkeiten konspirativ verabreden können. Das braucht Strukturen.
Wo gibt es die?
Wäre Widerstand wie in Prag 1968 heute in der Form so noch möglich? Wir sind mehrere Jahrzehnte weiter und Diktatoren haben ganz andere Überwachungsmöglichkeiten.
Was nutzen uns Befragungen, wie viele Menschen gewaltfreien Widerstand üben würden, wenn ich bisher nicht wahrnehmen konnte, dass dazu bevölkerungsübergreifend Strukturen entwickelt wurden? Wie muss ich mich sinnvoll in einem solchen Fall verhalten?
Martin Luther King hatte seinerzeit im Blick auf Überwindung der Rassentrennung entsprechende Trainings veranstaltet. Wo gibt es Initiativen, wie im Falle eines Falles effektiver gewaltfreier Widerstand wie der gegen Putin aussehen müsste? Wo gibt es Trainings? Wo wird man auf Verhörsituationen vorbereitet? In der nötigen Breite unserer Bevölkerung?
Ja, lasst uns Krieg ächten! – Und wenn das jemand nicht will, wenn er geheimdienstliche Strukturen aufbaut, das Recht verachtet und weltweit eine Fakenews-Kommunikation unterstützt und Menschen dazu bringt, niemandem mehr zu glauben? Wie soll da effektiver Widerstand gelingen, wenn es nicht einmal möglich ist, eine Impfkampagne auf die nötige Impfquote zu bringen?
Was müsste sich da kurzfristig im Blick auf Bildung und Demokratie ändern? Was wäre zu tun?
Müsste da womöglich endlich einmal ein Schulterschluss auch von Bundeswehr und Friedenspolitik geübt werden, damit sich zwei große Partner im Blick auf effektive Strukturen vernetzen und sie nicht als Gegner betrachtet werden?
Wie viele Jahre des „suchet der Stadt bestes“ müsste man ertragen wollen, wie viele Verschwundene in Straflagern und Geheimkellern, bis ziviler Widerstand einen Menschen wie Putin gestoppt hätte?
Und was bedeuten in diesem Zusammenhang Texte wie der des Lobgesangs Mariä, in dem die Hohen erniedrigt werden? Ist Gottes Handeln da immer gewaltfrei zu denken?
Was nutzt uns ein Perspektivwechsel bis 2040, wenn Putin jetzt völkerrechtswidrig ein Land überfällt?
Was nutzt der Hinweis auf die Entspannungspolitik und die entsprechenden EKD-Denkschriften, wenn die atomare Abschreckung nicht mehr funktioniert, die eine Voraussetzung dafür war, und so Putin diesen Angriffskrieg wagen konnte?
Ich habe vor allem Fragen, keine Antworten. Vor allem keine kurzfristigen. Was müsste geschehen, dass Menschen in unserer deutschen Komfortzone zu Helden des gewaltfreien Widerstands werden? Im Sinne des Amtseids der Bundeswehr, Freiheit und Demokratie auch unter Einsatz des Lebens – aber dann gewaltfrei – zu verteidigen? (Gewaltfrei nur gegen Personen oder ist gezielte Sabotage möglich?) Wie müsste eine Gesellschaft strukturiert sein, die ihre Wirtschaft effektiv gegen einen Agressor blockiert, ohne dabei so zusammenzubrechen, dass es zivile Tote durch Unterversorgung gibt?
Viel dezentraler sicherlich! Aber wie noch?
Wie stark – auch wie militärisch stark – muss ein Staat sein, um eine gewaltfreie Auseinandersetzung führen zu können? Und was heißt in diesem Zusammenhang „gewaltfrei“, wenn eine solche Strategie gewaltige Wirkung zeigen soll?
Wie „stark“ muss ein Staat sein, auch strukturell: Kommunikationsstrukturen, Datensicherheit, dezentrale Energieversorgung, Vorratshaltung, Versteckmöglichkeiten, Zusammenhalt, Bunkermöglichkeit, Doppelstrukturen, Reserven (Energie, Wasser, Strom, Grundnahrung, medizinische Versorgung) und Ausfallsicherheit?
Wie viel Leidensfähigkeit und Leidenswillen und Bewusstsein für Freiheit ist bei seinen Bürgerinnen undf Bürgern nötig – und das ohne querdenkerische Unvernunft? Wie viel Vertrauen in demokratische Strukturen? Wie viel Bildung, naturwissenschaftlich und sachlich, um selbständig gegen fakenews und Desinformation gerüstet zu sein?
Ich kann mich noch daran erinnern: An die Angst vor den russischen Panzern bei den großen Demonstrationen in der DDR zum Schluss. Es ist gut ausgegangen. Heute erleben wir: Das war kein Naturgesetz.
Das heißt nicht, dass ich gegen Gewaltfreiheit wäre: Man hat ihn oft belächelt und kleingeredet, den „Gewaltverzicht“ der deutschen Heimatvertriebenen nach dem Ende des 2. Weltkriegs (Was nicht verwunderlich ist angesichts eines lange Zeit leider weit verbreiteten Revanchismus in jenen Kreisen). Aber ohne ihn wäre ich möglicherweise als kleiner und jetzt großer Partisanenkämpfer aufgewachsen.
Jede gewalttätige Auseinandersetzung kann nur dann enden, wenn mindestens eine Partei bereit ist, auf Gewalt zu verzichten, die sie einsetzen könnte. Das setzt ein gutes moralisches Urteilsvermögen voraus. Leider auch beim Gegner. Aber leider auch bei einem selbst. Was zur Frage führt: Hatten wir angesichts der internationalen auch wirtschaftlichen Verflochtenheit genug davon? Wo haben wir uns um unseres Wohlstandes willen auf moralisch zweifelhafte Geschäfte eingelassen, die uns nun auf die Füße fallen? In kirchlichen Kreisen haben wir viel getan und gedacht. Sehr viel. Aber war es genug? Wo waren „wir“ dann doch schlicht Wohlstandsmitläufer? Wo haben wir die Augen verschlossen? Wo dachten wir, bei den Guten zu sein und waren doch trotzdem Teil des Bösen?
Und wo sind „wir“ es jetzt, wenn 2% in Rüstung und Sicherheit gehen sollen? Schreien wir laut genug, dass Deutschland sich schon lange auf 2% für Entwicklungsarbeit verpflichtet hat, dass es dann auch da endlich ein entsprechendes Sondervermögen geben muss und entsprechende dauerhafte Ausgaben im Staatshaushalt?
Noch mal: Viele Fragen. Was nicht heißt, dass man einen solchen Weg nicht gehen kann oder gehen soll, sondern dass er nur gegangen werden kann, wenn man sich um entsprechende Antworten bemüht.
Bernd Kehren
Danke für diese wichtigen Fragen! Ich hoffe, dass Sie ähnlich tiefgreifende Fragen auch an die militärischen Optionen stellen? Oder liegt deren Wirksamkeit für Sie auf der Hand?
In meinem Text habe ich bereits eine Woche nach Kriegsbeginn auf die unglaublich vielen Akte des gewaltfreien Widerstands hingewiesen (1) seither gibt es noch viel mehr solcher Berichte, auch zur gewaltfreien Befreiung ganzer Ortschaften, die so zu Friedenszonen werden inmitten des Krieges(2). Und das in Abwesenheit der massiven logistischen, finanziellen und intellektuellen Unterstützung die sie einfordern.
All dies weist m.E. darauf hin, dass es gerade vor dem Hintergrund der zwei erfoglreichen gewaltfreien Revolutionen in der Ukraine in den letzten zwanzig Jahren, ein sehr breites Wissen über gewaltfreie Taktiken gibt, und durchaus auch informelle Netzwerke.
Allerdings sollten diese ausgebaut und intensiviert werden, gerade auch transnational mit Kriegsgegner:innen und Zivilgesellschaft in Russland und Belarus (natürlich auf verschlüsselten Wegen, und evtl. über intermediäre Kanäle, z.B. in der EU), wie es auch von Friedensforschern gefordert wird (3).
Natürlich ist dies ein teurer Widerstand, der Opfer kosten wird (wenn auch wahrscheinlich weniger als der andauernde militärische Widerstand, der einen Putin einen Vorwand zur Bombadierung liefert und russische Soldaten und die Zivilgesellschaft ins Zögern bringt, ob es nicht doch ein ausgewogener Konflikt sei (so illusorisch das auch sein mag).
Und natürlich kann es nicht angehen, dass wir das von unseren Sesseln aus fordern.
Schon 1984 brachte der täuferische Theologe Ron Sider dies auf den Punkt und als er fragte, ob Christ:innen die gleiche Disziplin und Selbstaufopferung für die gewaltfreie Friedensarbeit aufbringen können wie das Militär für die Kriegsführung. Wenn wir wirklich glauben, dass Christ:innen in der Kraft und Liebe Gottes eine organisierte, gewaltfreie Alternative zum Krieg bewirken können, dann müssen wir dies auch leben.
Als Antwort auf diese Frage gründeten Menschen aus den Historischen Friedenskirchen – Mennoniten, Brethren und Quäkern – vor 35 Jahren Christian Peacemaker Teams. (4) Mittlerweile gibt es mit Peace Brigades International und Nonviolent Peace Force mehrere solcher Organisationen, die in Konfliktgebieten gewaltfreien Schutz für Menschenrechtsgruppen bieten und Trainings in gewaltfreiem Widerstand. (5)
Vielleicht wäre dies eine Gelegenheit, Erfahrungen in diese Richtung zu sammeln?
Eine tolle Möglichkeit ist das Ecumenical Accompaniment Program in Israel and Palestine des Ökumenischen Rats der Kirchen, das eine sichere und zeitlich befristete Einstieg in gewaltfreien Schutz und Menschenrechtsarbeit bietet. (6)
1: https://eulemagazin.de/die-macht-gewaltlosen-widerstands/
2: https://www.theguardian.com/world/2022/mar/26/russian-soldiers-release-ukraine-towns-mayor-and-agree-to-leave-after-protests — ähnliches ist auch in Kolumbien geschehen)
3: https://wagingnonviolence.org/rs/2022/03/ukrainians-could-defeat-a-russian-occupation-by-scaling-up-unarmed-resistance/
4: https://cpt.org/about/history,
5: https://www.nonviolentpeaceforce.org/, https://pbideutschland.de/
6: http://www.eappi-netzwerk.de/
Lassen Sie uns ins Gespräch kommen! 🙂
Ich habe im Grundsatz nichts gegen zivilen Widerstand.
Ganz im Gegenteil.
Er ist wichtig und unverzichtbar.
Wir bräuchten mehr davon. Viel mehr.
Ich habe ganz sicher nicht vergessen, was ich in der Jugend über Luther-King und Ghandi gelesen habe und warum ich seinerzeit den Kriegsdienst mit der Waffe verweigerte und meinen Zivildienst im Altenheim leistete.
Wogegen ich mich wende, ist ein Satz wie: „Diese empirischen Erkenntnisse widerlegen die weitverbreitete und auch in den kritischen Beiträgen zur „neuen Friedensethik“ unhinterfragte Annahme, im Angesicht skrupelloser Autokraten helfe nur noch Gewalt.“ Er stimmt einfach nicht. Es geht nicht darum, zivilen Widerstand abzuschaffen oder nur noch auf Gewalt zu setzen, sondern um die Erkenntnis, dass eigene auch militärische Stärke ein wichtiger Faktor zum Erhalt von Frieden ist – aber ganz sicher nicht der einzige. Es geht bei der „neuen Friedensethik“ nicht um Militarismus und auch nicht um eine Geringschätzung der zivilen Konfliktbewältigung und des zivilen Widerstands. Es geht um ein geeignetes Miteinander, damit die Schwelle der militärischen Auseinandersetzung nie überschritten wird.
Ich habe meinen Zivildienst und meine Verweigerung nicht vergessen.
Aber inzwischen weiß ich auch, dass Gottes gute Schöpfung aus einem ständigen Kreislauf von Fressen und Gefressenwerden besteht und bin auch davon geprägt, dass ich in einem Krankenhaus, in dem es keine Abtreibungen gab, jedes Jahr zweinmal ca. 50 Fehlgeburten vor der 12. Schwangerschaftswoche zu beerdigen hatte und in fast kein Dorf mehr rund um die Kreisstadt fahren kann, ohne an einen Notfallseelsorgeeinsatz erinnert zu werden, in dem ein Mensch zur Unzeit sein Leben verloren hat und Angehörige Hilfe brauchten.
Wir leben nicht im Paradies.
Wir leben in einer Welt von Krankheit, Tod und Auseinandersetzungen. Wir leben in einer Welt, in der wir hier im Westen anderen Menschen durch unseren Lebensstil die Lebensgrundlage rauben. Und wir leben in einer Welt, in der zu viele Menschen ihren Sinn nur darin sehen, Macht und Reichtum zu erlangen. In dieser Welt braucht es massiven zivilen Widerstand auf allen Ebenen.
Ich glaube nur, dass er nicht die Lösung /aller/ Probleme ist.
Er setzt voraus, dass der „Gegner“ sich davon beeindrucken lässt.
Dass er zivilisiert genug ist, um dem Gegner, der ihm den Hals hinhält, nicht in der Gurgel zu beißen.
Leider gibt es Gegner, die sich darauf nicht einlassen.
Die Situation eskaliert, man hält die andere Backe hin – und sie schlagen trotzdem zu.
Den ersten, den zweiten; der dritte hält die Backe schon nicht mehr hin – und wird dennoch erschlagen.
Da braucht es dann doch mal einen Starken, der die Backe nicht hinhält, sondern eingreift.
Oder der zumindest so stark aussieht, dass der andere es sich noch einmal überlegt.
Was wäre gewesen, wenn Putin diese Stärke bei der Ukraine vermutet hätte?
Was mich in meiner Wahrnehmung so massiv stört: Dass gewaltfreier Widerstand viel zu oft als Gegensatz zu bewaffnetem Widerstand gesehen wird. Denn solange wir nicht im Paradies leben, werden wir immer Situationen erleben, in denen wir ein wohlabgewogenes Miteinander von beidem brauchen.
Fragen sie irgendeinen Soldaten der Bundeswehr mit Verantwortung (und Verantwortung lernt man in der Bundeswehr sehr früh), dann werden sie niemanden finden, für den Krieg das Mittel der Wahl wäre oder der der Meinung wäre, dass man mit Waffen für Frieden sorgen könne.
Dass das nicht funktioniert, haben in der Bundeswehr m.E. fast alle begriffen.
Immer ist klar, dass Frieden Politik erfordert: Gespräch, vertrauensbildende Maßnahmen…
Sind nicht auch die massiven gegenwärtigen internationalen Sanktionen eine Art des globalen zivilen Widerstands?
Weil völlig klar ist, dass ein militärisches Eingreifen eine Eskalation bewirken würde, die uns alle hautnah betreffen würde?
Aber was nutzt ziviler Widerstand gegen einen Gegner, der seit Jahren das internationale Kriegsrecht missachtet, der konsequent zivile Einrichtungen vernichtet, der sogar Giftgas eingesetzt hat?
„Wir“ haben versucht, ihn zivil zu „umarmen“. Er hat es als Schwäche gedeutet. „Wir“haben ihm nicht zugetraut, dass er ‚diesen‘ Schritt in Europa gehen wird, weil er genau weiß, dass der Westen keine atomare Auseinandersetzung riskieren würde und weil er genau weiß, dass die Ukraine ihm militärisch nicht widerstehen kann und aufgibt wie die Afghanen gegenüber den Taliban.
Ich glaube nicht, dass rein ziviler Widerstand ausgereicht hätte.
Im Gegenteil: Es wäre eine Einladung gewesen, dasselbe beim nächsten Land genauso zu machen.
Ohne Pressefreiheit, ohne Demokratie, ohne Recht, ohne die Menschen, die in den letzten Jahren versuchten, in diesem Ostblockland Demokratie zu etablieren.
Leider war seine Einschützung in Bezug auf den Widerstand der Ukraine ein Irrtum.
Der Preis für diesen Einsatz für Menschenrechte nicht nur in der Ukraine und in dem jeweils nächsten Land ist – ein zerstörtes Land.
Und dieser militärische Widerstand hofft auf einen nennenswerten zivilen Widerstand: Auf den Widerstand der russischen Mütter, die um tausende Söhne trauern müssen. Dass diese Mütter auf ihre Weise dem Unheil Einhalt gebieten, …
… wenn sich die Nachricht herum spricht, dass die Legende eines Spezialeinsatzes gelogen ist. Die Legende der Nazis, die Legende, dass die Ukraine eine Bedrohung für Russland wäre.
Die Zensur tut ihr Übriges dazu, dass diese Nachrichten sich nicht oder zu langsam herum sprechen.
Ich hoffe, dass die Zeitverläufe so sind, dass sich die Wahrheit nicht verheimlichen lässt, dass militärischer Widerstand und zivlier Widerstand in Form von Sanktionen und in Form innerrussischem zivilem Widerstand so lange durchhält, bis Verhandlungen unausweichlich sind und einen Waffenstillstand und später Frieden möglich machen.
Und wenn sich junge Russen von zivilem Widerstand zum Aufgeben bringen lassen oder wenn sie selber ihre Panzer sabottieren oder desertieren: Um so besser.
Eine denkbare Alternative wäre in meinen Augen auch eine Art „babylonische Gefangenschaft“ – aber die „originale“ hat mehrere Generationen gedauert – und brauchte dann doch mit dem Persern eine militärische Großmacht, die nach Jahrzehnten eine friedlichere Lösung möglich machte: Für die Enkel der ursprümglich Betroffenen.
Ich kann verstehen, dass Menschen, die seit 10 Jahren für Demokratie und Gerechtigkeit eintreten, nicht so lange warten wollen. Nicht für sich und nicht für ihre Enkel.
Und doch wird es nie anders gehen als mit einem „Suchet der Stadt bestes“.
Man kann nicht einfach alle Armeen über einen Kamm scheren.
Und man muss anerkennen, dass es auf dieser Erde – theologisch ausgedrückt – nie vollen Frieden geben wird. Nicht im Rahmen der evolutiünären Prozesse, in die wir eingebunden sind (dazu die Diskussion der Schöpfungstheologie in den letzten Ausgaben von zeitzeichen.net), aber auch nicht in den ständigen politischen Prozessen. Ich finde es erschütternd, wie sehr unsere Demokratie durch Fakenews und vollkommen intolerante Blasen infrage gestellt wird, die zugleich durch politische Kreise mit einer klaren undemokratischen, menschenfeindlichen Basis befeuert werden und Wirkung erzielen bis in der Mitte unserer Gesellschaft.
Sie wird beides brauchen: Eine mit Militär und Polizei wehrhafte Demokratie mit unabhängiger Rechtsprechung und freier kritischer Presse und darin Menschen, die durch ziviles Friedensengagement wehrhaft Demokratie und Menschenrechte verteidigen.
Und wir werden immer wieder in Situationen kommen, in denen eine militärische Auseinandersetzung durch zivilen Widerstand vermieden werden kann. Aber wir werden nicht verhindern können, dass immer noch zu viele Situationen übrig bleiben, in denen durch Militär sichergestellt wird, dass ziviler Widerstand einen Weg zum Frieden bahnen kann.
Wie weit wäre Martin Luther-King ohne das staatlich- auch polizeilich-militärische Eingreifen der Nordstaaten gekommen?
Es brauchte beides. Seinen zivilen (und manchmal auch zivil-militanten) Widerstand und massive staatliche Macht. Am Ziel sind wir mit beidem noch lange nicht.
Hallo Herr Kehren,
danke für Ihre ausführliche Antwort. Wie Sie glaube ich auch, dass diese Welt nicht perfekt ist, sondern unter Gewalt und Ausbeutung (Sünde!) leidet. An diesem Leiden haben auch wir Anteil und sind berufen, uns an die Seite der Opfer zu stellen und dem Bösen zu widerstehen – Mit Gutem! Doch wie geht das? Gewaltfreier Widerstand ist m.E. ein zentrales Mittel dazu.
Aus der Fülle Ihrer Antwort nehme ich nur mir einen Punkt heraus, weil es sich hier um ein entscheidendes und leider sehr weiter verbreitetes Missverständnis der Funktionsweise zivilen Widerstands handelt.
Sie schreiben: „[Ziviler Widerstand] setzt voraus, dass der „Gegner“ sich davon beeindrucken lässt. Dass er zivilisiert genug ist, um dem Gegner, der ihm den Hals hinhält, nicht in der Gurgel zu beißen.“
Gewaltfreier Widerstand setzt nicht auf die „Zivilisiertheit“ des Gegners (erstaunlich übrigens dass die rassistischen und kolonialen Untertönen dieser Idee so unhinterfragt derzeit wieder laut werden…).
Vielmehr beginnt gewaltfreier Widerstand damit, dass „der Gegner“ kein monolithischer Block ist, sondern eine Vielzahl an Individuen und sozialen Gruppen, die den Willen des Herrschers tun. Ohne den Gehorsam dieser Menschen und Gruppen wäre der Herrscher machtlos.
Dazu kommt, dass diese Menschen jeweils eigene Interessen & Werte haben und auch miteinander in Konflikt stehen, die aber vom Herrscher mittels Ideologie und Propaganda, aber auch durch Einschüchterung und Belohnung (natürlich jeweils durch andere gehorsame Menschen und Institutionen) bei Stange gehalten werden.
Gewaltfreier Widerstand analysiert diese Zusammenhänge (Sharp nennt sie eindrücklich Säulen der Macht) daraufhin, wo das schwächste Glied ist, das zum brechen gebracht werden kann, oder welche internen Konflikte verschärft werden können.
Das wäre z.B. die Interessen der wirtschaftlichen Eliten, Geschäfte machen zu können, oder die Unbeliebtheit des Kriegs bei den eingezogenen Rekruten, oder bestimmte kriegswichtige Sektoren, die durch gezielte Sabotage oder die Nonkooperation kleiner Gruppen zum Stillstand gebracht werden kann.
Eine solche Analyse könnte auch von Militärs gemacht werden (in der Tat ähneln bestimmte Art militärischer Strategie, insbesondere Guerilla-Taktiken und Terrorismus in frapierender Weise den gewaltfreien Strategien – mit offensichtlichen Unterschieden in der Umsetzung, versteht sich). Der Punkt ist aber, dass sich zeigt, dass gewaltfreier Widerstand gerade im Vergleich einige Vorteile hat:
1) Partizipation: Zunächst ist es schlichtweg viel mehr Menschen möglich, sich an gewaltfreiem Widerstand zu beteiligen, als militärisch oder paramilitärisch zu kämpfen. Da Partizipation eine entscheidende Größe für den Erfolg oder Misserfolg einer Bewegung ist, ist dies ein entscheidender Faktor.
2) Innovation von Taktiken: Widerstand braucht viele und vielfältige Formen, um unvorhersehbar und unkontrollierbar zu bleiben und die Kosten einer Fortsetzung der Invasion/Besatzung weiter zu eskalieren, bis dem Herrscher nur eine Wahl bleibt: Rückzug oder den eigenen Sturz riskieren. Dies geht natürlich besser, je mehr Menschen sich auch autonom beteiligen. (Para)militärischer Kampf dagegen führt tendenziell eher zu Befehlshierarchien und zur Zentralisation von Macht.
3) backfire effect: Repression führt mittelfristig zur Solidarisierung mit den Angegriffenen (underdogs!) und damit trotz der Opfer eher zu einer Stärkung ihrer Position, während in einem Konflikt, der als symmetrisch wahrgenommen wird, Gewalt von Außenstehenden als „hinnehmbar“ interpretiert wird. (Indirekt führt dies oft auch dazu, dass der Gegner in seiner Fähigkeit Repressionen durchzuführen geschwächt wird, da er mit Sanktionen durch dritte Parteien und ggf. sogar Rebellion in den eigenen Reihen rechnen muss).
Dieser dritte Punkt ist es auch, warum ich, zusammen mit vielen, die gewaltfreien Widerstand erforschen, nicht an die viel propagierte Komplementarität von zivilem und militärischen Widerstand glaube. Zumindest nicht so einfach als Komplementarität, und auch nicht als Dialektik. Denn die Tatsache ist: die Anwesenheit von Waffen gefährdet Zivilisten, sie können nun als Kombatanten beschrieben werden. Natürlich nicht völkerrechtlich, aber in der russischen Propaganda. Dies gilt für einzelne Aktionen, aber wahrscheinlich auch für die größere politische Wetterlage insgesamt.
Eine klare Unterscheidung der Akteure könnte helfen, um solche Manipulation entgegen zu treten. Anscheinend setzt die ukrainische Führung aber eher auf das Gegenteil, indem sie Zivilisten in Bürgerwehren bewaffnet und ähnliches. Ich verstehe, dass sie dies als notwendig zum Schutz ihres Volkes sehen. Aber man muss kritisch anmerken, dass es genau das Gegenteil bewirken kann.
PS: Und ja, übrigens haben all diese Menschen AUCH ein Gewissen, so „unzivilisiert“ unsere Medien sie beschreiben mögen. Gerade theologisch wäre doch daran festzuhalten! Auch das ist ein Ansatzpunkt für gewaltfreien Widerstand. Aber es ist nicht der einzige.
PPS: Übrigens ist ziviler/gewaltfreier Widerstand auch was anderes als „Frieden durch Handel“ oder Diplomatie, die Sie (und viele andere) immer wieder als Beispiele für das Scheitern gewaltfreien Widerstands nennen.
Massiver und organisierter gewaltfreier Widerstand hat ebenfalls eine Abschreckungswirkung, so schätzen es zumindest die baltischen Staaten ein, die zivile Verteidigung in ihre Verteidigungsstrategie aufgenommen haben und offensiv darüber berichten.
PPPS: . Ich hatte versucht, das in meinem Eule-Artikel klarzustellen, aber Sie (und viele andere) haben es anscheinend überlesen. Dort schrieb ich:
„Anders als vielfach behauptet, ist das Ziel gewaltfreien Widerstands nicht, das Mitgefühl von Diktatoren zu wecken oder Unterdrücker zur Umkehr zu bewegen. Gewaltfreier Widerstand zielt vielmehr darauf ab, die Macht des Gegners zu schwächen, sodass dieser keinen Schaden mehr anrichten kann. Dazu analysiert man, auf welchen Säulen seine Macht ruht, identifiziert Schwachstellen und entwickelt Strategien, um diese auszunutzen und bestimmte Säulen zum Einsturz zu bringen. Gewaltfreier Widerstand versucht gezielt, Zugang zu Ressourcen zu begrenzen, interne Konflikte zu verschärfen oder einzelne Gruppen zur offenen oder verdeckten Non-Kooperation zu bewegen.“
Lieber Herr Isaak-Krauß,
ich möchte Ihnen zustimmen und muss meine Formulierung korrigieren.
Ziviler Widerstand setzt tatsächlich nicht zwingend voraus, „dass der „Gegner“ sich davon beeindrucken lässt. Dass er zivilisiert genug ist, um dem Gegner, der ihm den Hals hinhält, nicht in der Gurgel zu beißen.“
Das konnte man auch Martin Luther King beobachten. Wenn er mit seinen Leuten ein Geschäft durch einen Sitzstreik boykottierte, hatten sie sehr genau ausgerechnet, wie lange der Inhaber durchhalten könnte, bis er aufgeben muss und seine Waren auch an Schwarze verkaufte. Ziel war nicht, ihn zu vernichten, sondern zu einer neuen Gemeinschaft zu finden.
Wobei King m.E. sehr wohl unterstellte, dass man hinterher an die gemeinsame Menschlichkeit anknüpfen kann.
Er hat auch sehr genau kalkuliert, welches Echo es hervorrufen wird, wenn der Bürgermeister von Birmingham beim Protestmarsch die Schäferhunde auf die Demonstrierenden loslässt, in deren Reihen auch Kinder waren.
(Zur Frage der Kinder und Jugendlichen: https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Luther_King#Erste_Niederlagen_%E2%80%93_Albany)
Aber das Beispiel zeigt auch, wie wichtig in diesem Fall mit den Nordstaaten, einem unabhängigen Gericht und dem US-Präsidenten Vertreter eine Macht waren, die den Protest aus einer Position der Stärke flankierten.
Was ich an Ihrer Antwort wahrnehme, ist eine Entgegensetzung von Militär und Friedensinitiative.
Das finde ich bedauerlich.
Welcher westliche Militär setzt derzeit allein auf militärische Stärke?
Welche westliche Regierung setzt allein darauf?
Ich nehme wahr, dass sehr genau kalkuliert wird, wo Russland zivil „gepackt“ werden kann. Welche Gruppen insbesondere adressiert werden müssen.
Ich nehme wahr, dass nicht einfach pauschal Russland der Gegner ist, sondern seine Regierung.
Ich nehme wahr, wie sehr auf die Soldatenmütter gesetzt wird, allerdings auch, wie geschickt und brutal die russische Regierung durch ihre Propaganda deren mögliche Proteste erschwert und sie zugleich mit Gewalt verhindert.
Wenn ich mit meinen bescheidenen Möglichkeiten die Auseinandersetzung richtig wahrnehme, dann ist den westlichen Verantwortlichen sehr wohl klar, dass dieser Konflikt nicht rein militärisch beigelegt werden kann. Darum wird enorm viel im Bereich zivilen Widerstands organisiert.
Wenn ich wieder an Birmingham erinnere: Ohne das Eingreifen einer staatlichen Rechtsinstanz und ihrer staatlichlichen Machtmittel) ist völlig offen, wie lange dieser zivile Widerstand hätte aufrecht erhalten werden können.
Welche vergleichbaren Instanzen sind in der Lage, einen zivilen Widerstand gegenüber der russischen Aggression zu flankieren?
Wer schützt konkret die ukrainische Regierung mit reinem zivilen Widerstand, wenn diese offiziell als Nazis bekämpft werden und vernichtet werden sollen?
Kann dieser Widerstand entsprechend aus dem Exil weiter organisiert werden?
Umgekehrt sehe ich natürlich auch die Hunderte und Tausende Toten auf beiden Seiten, die ich beide vor allem als Opfer sehe. Und ich frage mich, ob dieser Preis gerechtfertigt ist.
Wir werden es nicht erfahren. Fest steht nur, der Preis ist wahnsinnig hoch.
Wenn diese Katastrophe beendet ist, wird es darum gehen müssen, die zivilen Strukturen weiter zu entwickeln, die eine solche Katastrophe im Vorfeld verhindern können. Ich bezweifle aber, dass es angesichs der beteiligten großen Player nur mit zivilen Strukturen oder nur mit zivilen Widerstandsstrukturen verhindert werden kann.
Dazu bräuchten wir m.E. die verheißene Neuschöpfung der Welt.
Aber ganz sicher geht es nicht ohne solche zivilen Strukturen.
Im Staatsbürger in Uniform und im Widerstandsrecht in der Bundeswehr sehe ich übrigens aus solche Ansätze. Aber das wäre ein weites anderes Thema.
Ich lese gerade https://foreignpolicy.com/2022/04/06/russia-ukraine-atrocities-war-crimes/
Wie viel kann da ein ausschließlich ziviler nicht militärischer Widerstand ausrichten, wenn gezielte Todeslisten und eine Kultur des brutalen Gehorsams herrscht?
Letztlich braucht es kein Entweder-Oder, sondern einen umfassenden Einsatz zu möglichst ziviler Konfliktbewältigung. Dazu gehört eine entsprechende Kultur in Militär und Polizei, die nicht nur von Befehl und Gehorsam geprägt ist, dazu gehört eine zivile Kontrolle (daher ist in der Bundeswehr z.B. die Verwaltung zivil und nicht militärisch organisiert), dazu gehört so etwas wie die Innere Führung und externer Ethikunterricht, dazu gehört ein vorausschauendes Krisenmanagement, das verhindert, man erpressbar wird, dazu gehören neue Sicherheitsstrukturen, dazu gehört auch, dass etwa die USA sich einer übergeordneten Gerichtsbarkeit unterwirft.
Militärische/polizeiliche Stärke wird unverzichtbar bleiben. Aber zivil kontrolliert und mit reichhaltigen Arsenal ziviler Konkfliktbewältigung .
Kein Mensch käme auf die Idee, Konflikte nur mit der Polizei
oder Recht nur durch Gefängnisstrafen zu regeln.
Wir brauchen Richter und gutes Recht, zivile Kontrolle und Mediation.
Und so aufgestellt, dass polizeiliche und militärische Macht immer zivil kontrolliert bleibt und deren Anwendung auf ein Mindestmaß beschränkt bleibt. Das aber mit voller Anerkennung einer möglichst zivilen Gesellschaft.
Der Artikel beschreibt, wie sich steigernde Erfolglosigkeit der russischen Armee zu gestiegener Brutalität führte, und endet mit den Worten:
„Für die Bürger anderer Länder, die mit Entsetzen zusehen, sollten die Szenen aus Buka eine eindringliche Erinnerung an die Notwendigkeit sein, eine Kultur der Zurückhaltung im Militär zu fördern, sowohl bei den Offizieren als auch bei den Soldaten, und eine wirksame zivile Aufsicht über das Militär aufrechtzuerhalten. Aber in der Ukraine kann man die eskalierenden Gräueltaten des russischen Militärs nur stoppen, indem man es besiegt.“
Übersetzt mit http://www.DeepL.com/Translator (kostenlose Version)
Ich befürchte, dass das eine realistische Einschätzung ist.