Einmütigkeit trotz schwerster Differenzen

Predigt zum 3. Advent 2018 (Röm 15,4-13), Bad Münstereifel

Bevor ich zum eigentlichen Predigttext aus dem letzten Kapitel des Römerbriefes komme, benötigt es heute einige Vorbemerkungen über über Martin Luther und das Verhältnis von Juden und Christen.
Vielleicht wissen Sie noch davon: für Martin Luther ist die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium besonders wichtig.

Das Gesetz hatte er als Mönch gelebt. Er wollte vor Gott gut dastehen. Im Bibellesen. In den Gebeten. In dem, was er an Bußübungen tat. So sehr, dass sein Prior ihm sagen musste: „Martin Luther, wenn du so weiter machst, treibst du uns alle in den Wahnsinn. Wir können nicht mehr. Du möchtest möglichst gut bei Gott dastehen, indem du alle mönchischen Regeln erfüllst. Du zwingst uns auch, alle diese Regeln zu halten. Aber wir können es nicht in dieser Intensität.“

Und dann entdeckt Luther die Verheißung, dass Gott gnädig ist – aus sich heraus: einfach weil er ein barmherziger Gott ist. Wir können nichts tun, um Gott gnädig zu stimmen. Gott ist schon immer ein barmherziger Gott.

Und nun sieht er sich im Konflikt mit der katholischen Kirche. Für ihn ist die katholische Kirche eine Kirche, die viele Regeln aufstellt, die man alle einhalten muss.

Und davon distanziert sich Martin Luther.

Gott ist gnädig aus sich heraus. Den Himmel bekommen wir geschenkt. Es gibt nichts, was man dafür tun kann, um in den Himmel zu kommen. Wer etwas tun möchte, um in den Himmel zu kommen, wird den Himmel verfehlen.

Und nun passiert folgendes: Luther identifiziert sich selber mit Paulus, von dem er diese Erkenntnis hat. Und Luther glaubt, dass Paulus gegenüber dem Judentum in dem selben Konflikt gestanden hat wie er, Luther, im Konflikt mit dem Katholizismus steht.

Egal was in der Bibel steht: Martin Luther ist davon überzeugt, dass Juden aus Werkgerechtigkeit in den Himmel kommen wollen.

Dass auch die Juden eine solche Werkgerechtigkeit ablehnen könnten und schon immer an einen gnädigen Gott glauben, kommt für Martin Luther überhaupt nicht in den Sinn.

Luther ist in seiner Auseinandersetzung mit dem Katholizismus so gefangen, dass er selbst dann, wenn es ganz anders in der Bibel steht, trotzdem daran festhält: Juden halten das Gesetz nicht aus Liebe zu Gott, sondern um Gott dazu zu bringen dass sie in den Himmel kommen. Darum sind die Juden für Luther die allerschlimmsten Sünder. Und darum hat er auch noch in seinen allerletzten Lebenstagen dafür gesorgt, dass die letzten noch verbliebenen Juden aus dieser Umgebung vertrieben werden.

Im Blick auf die Juden hat Martin Luther die Bibel völlig falsch gelesen und falsch interpretiert. Und das schlimme ist: in der deutschen Theologie setzt sich das noch fast bis heute immer weiter fort.
Auf diese Weise gilt Paulus als der, der sich vom Juden Saulus zum Christen Paulus gewandelt hat.

Wenn man aber die Bibel ganz genau liest, fällt einem auf, dass Paulus Zeit seines Lebens Jude geblieben ist. Er hat die Synagoge besucht, wo immer er in einen neuen Ort gegangen ist.

Generell muss man festhalten, dass sich die Jünger und Schüler von Jesus niemals selber als Christen bezeichnet haben, sondern eben immer z.B. als Schüler bzw. wie wir heute noch gewohnt sind zu sagen:: als Jünger. Und sie haben nie aufgehört, sich als Juden zu empfinden.
In der englischsprachigen Theologie gibt es schon seit den 70er Jahren die sogenannte „neue Perspektive auf Paulus“, die nach intensivem Bibelstudium genau das festhalten hat:
Wir verstehen Paulus nur dann richtig, wenn wir auf die vielen Indizien achten, dass er Zeit seines Lebens Jude geblieben ist, wie im übrigen auch alle andere der ersten Schülerinnen und Schüler Jesu.

Das vorweggenommen, möchte ich nun den Predigttext vorlesen – in der Übersetzung meines alten Neutestament-Professors Klaus Wengst.

Römer 15,4-13 (Klaus Wengst)

4Alles nämlich, was zuvor geschrieben worden ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben worden, damit wir mit Beharrlichkeit und unter Ermutigung vonseiten der Schriften Hoffnung haben. 5Gott, die Quelle von Beharrlichkeit und Ermutigung, gebe es, dass ihr untereinander einmütig seid entsprechend dem Maßstab, den der Gesalbte vorgibt, 6damit ihr übereinstimmend aus einem Mund Gott loben können, den Vater Jesu, des Gesalbten, unseres Herrn. 7Deswegen: Nehmt einander auf, wie auch der Gesalbte euch aufgenommen hat – zum Lobe Gottes. 8 Ich sage ja: Der Gesalbte ist Diener des Volks der Beschneidung geworden zum Erweis der Treue Gottes, um die den Vorfahren gegebenen Verheißungen zu bestätigen; 9und die Völker loben Gott für sein Erbarmen. Wie geschrieben steht: „Deshalb will ich Dich bekennen unter den Völkern und Deinem Namen lobsingen“ (Ps 18,50). 10und wiederum sagt die Schrift: „Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk!“ (Dtn 32,43) 11und wiederum: „Preist, all ihr Völker, Adonaj! Loben sollen ihn alle Nationen!“ (Ps117,1) 12Und wiederum sagt Jesaja: „Bestand haben wird die Wurzel Isais; und der aufsteht, über Völker zu herrschen – auf ihn werden die Völker hoffen“ (Jes 11,10). 13Gott, die Quelle der Hoffnung, erfülle euch im Vertrauen auf ihn ganz und gar mit Freude und Frieden, damit ihr Kraft des Heiligen Geistes voller Hoffnung seid.

(Aus: Klaus Wengst, „Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk!“ Israel und die Völker als Thema des Paulus – ein Gang durch den Römerbrief, Stuttgart, 2008)

Worum geht es in diesen Versen?

Ein wichtiges Wort ist die Einmütigkeit. Wir sollen einmütig sein.

Darüber könnte man nachdenken, völlig ohne einen Bezug auf das Judentum. In der katholischen Kirche wird damit die Ablehnung des gemeinsamen Abendmahl begründet. Wir stimmen in der Lehre nicht über ein. D. h. wir sind nicht einmütig. Deswegen dürfen wir nicht zusammen Abendmahl feiern.

Wenn man sich allerdings anschaut, um was es im Römerbrief in den Versen zuvor, kommt man zu einer völlig anderen Auffassung.

In den Versen zuvor setzt sich Paulus mit folgendem Problem auseinander: wie können Nichtjuden und Juden, die gemeinsam an Jesus glauben, zusammenleben?

Müssen Nichtjuden, die an Jesus glauben, erst Juden werden? Dürfen Juden mit diesen Nichtjuden zusammen essen, wenn die Nichtjuden sich nicht an die Reinheitsgebot erhalten?

Das spannende daran ist: Paulus findet keine klare Regel, an die sich alle halten müssen.

Sondern Paulus sagt: wer glaubt, sich an die Regeln halten zu müssen, der möge sie einhalten.

Wer glaubt, er kann an Christus glauben, ohne die Regeln einzuhalten, der kann das tun. Aber keiner von beiden soll sich dem anderen überlegen fühlen.

Beide sollen zusammen an den Gesalbten, also an Christus glauben können.

Und sie sollen Rücksicht aufeinander nehmen.

Diejenigen, die größere Freiheit empfinden, sollen nicht auf die hinab schauen, die sich strengeren Regeln verpflichtet fühlen. Und die sollen sich so verhalten, dass die anderen trotzdem kommen können ohne sich ausgeschlossen zu fühlen.

Die ersten Verse aus unserem Predigttext sind der Schluss dieser Passage.

Nichtjüdische und jüdische Schüler von Jesus sollen jeweils nach ihrer Auffassung leben und die Gesetze einhalten oder auch nicht einhalten, aber sie sollen das aus Liebe zu Jesus tun, und sie sollen trotzdem einmütig bleiben.

Einmütigkeit hat also nichts damit zu tun, ob alle einer Meinung sind. Ganz im Gegenteil: Einmütigkeit sollen gerade diese sein, die völlig unterschiedlicher Meinung sind.

Einmütigkeit sollen sie im Gotteslob zeigen.

Und Gott soll gelobt werden, weil er ein barmherziger Gott ist. Gott ist nicht erst mit Jesus barmherzig. Sondern Gott ist schon das ganze Alte Testament von der ersten Seite an ein barmherziger Gott. Dafür loben ihn die Juden. Und dafür sollen ihn auch alle anderen Völker loben. Weil Gott ein barmherziger Gott ist. Und weil Gott ein barmherziger Gott ist sind wir voller Hoffnung.

Aber das bedeutet eben nicht – wie Christen so lange gepredigt haben -, dass die Juden davon ausgeschlossen sind. Oder dass Juden nicht an den barmherzigen Gott glauben.

Sondern: schon Jesaja hat hat an den barmherzigen Gott geglaubt. Ganz Israel hat an den barmherzigen Gott geglaubt. Unter diesen barmherzigen Gott werden auch die Völker glauben. Und wir heute glauben auch an diesen barmherzigen Gott und deswegen sollen wir einstimmen in das große Gotteslob: preist ihr Völker den Herren. Hört nicht auf Gott zu loben. Alle Nationen sollen ihn loben. Gott ist treu. Er verlässt sein Volk nicht. Und er wird auch uns nicht verlassen, die wir zu seinem Volk hinzugekommen sind.

Wie anders würde die Welt aussehen, wenn Christen das immer ernst genommen hätten.

Wie anders würde die Welt aussehen, wenn Christen immer den barmherzigen Gott gepredigt hätten.
Stattdessen haben Christen gerne den Richter Gott gepredigt-und dann gleich selber den Richter gespielt. Sie selber, die Christen, waren dann immer die guten. Und die anderen waren die bösen. Die Juden waren die, die als besonders böse galten.

Und die lutherische Auslegung hat dazu erheblich beigetragen.

Was haben wir Christen an dieser Stelle für Schuld auf uns geladen!

Wie konnte man Paulus nur so schrecklich missverstehen!

Paulus predigt von der Barmherzigkeit und der Einmütigkeit – gerade auch zwischen Juden und Nichtjuden in der Nachfolge Jesu. Und Christen hatten nichts besseres zu tun, als Juden aus der Gemeinschaft auszuschließen und zu verfolgen.

Wenn wir jetzt auf Weihnachten zu gehen und uns darauf freuen, sollten wir immer wissen: wir freuen uns auf die Geburt des Juden Jesus.

Wir glauben an einen Jesus, der zeitlebens Jude geblieben ist.

Und wir, die Menschen aus den Völkern, dürfen auch an diesen barmherzigen Gott glauben, an den Jesus geglaubt hat.

Weihnachten nimmt uns hinein in den Glauben an den barmherzigen Gott.
Wir dürfen uns gegeneinander annehmen.
Das betrifft uns in unserem Verhältnis zum Judentum.
Aber mit Juden haben wir hier weniger zu tun. Es betrifft auch uns im Verhältnis zum Katholizismus.

Darum können wir z.B. andere Konfessionen gar nicht vom Abendmahl ausschließen. Wir sind gehalten, sie einzuladen.
5Gott, die Quelle von Beharrlichkeit und Ermutigung, gebe es, dass ihr untereinander einmütig seid entsprechend dem Maßstab, den der Gesalbte vorgibt, 6damit ihr übereinstimmend aus einem Mund Gott loben können

Hier steht, dass wir gemeinsam Gott loben sollen. Und in den Versen direkt vor unserem Predigttext finden wir, dass wir auch zu den Mahlfeiern einmütig kommen sollen.

Dieser Gott ist es, dem wir unsere Lieder singen, den wir rühmen, den wir loben: wegen seiner Barmherzigkeit.

Darum sind die Lieder, die wir noch in diesem Gottesdienst singen werden, auch im tiefsten Sinne Adventslieder. Auch wenn die Melodie möglicherweise sich gar nicht so adventlich oder weihnachtlich anhört.
Aber es ist das Lob des barmherzigen Gottes, der seine Barmherzigkeit im Gesicht des Kindes in der Krippe zeigt und auf diese Weise seinen Frieden zu uns bringen möchte.

Bernd Kehren

Gottes Bibel – Inspiration und Widersprüche

Gottes Bibel – Inspiration und Widersprüche

Die Abfrage

Ich würde gerne einmal abfragen:

  • Wer glaubt, dass die (ganze) Bibel Gottes Wort ist?
  • Wer glaubt, dass die Bibel völlig ohne Widersprüche ist?
  • Wer glaubt, dass die Bibel von Menschen gemacht und daher Widersprüche enthält?
  • Und wer glaubt, dass sich in diesem Menschenwort Gottes Wort wiederfindet?
  • Und dieses Gotteswort, dass man dann findet: Wer glaubt, dass das ohne Widersprüche ist und unmittelbar befolgt werden muss?

Wie denken wir über Gott?

In “Kurz gefragt” (Chrismon 02/2008) fragt ein Leser danach, warum Gott die bösen Menschen in der Sintflut mit dem Tode bestraft und sich damit selber nicht an das Tötungsverbot hält, dass er nun selber erlässt.

Burkhard Weitz beginnt seine Antwort darauf mit den Worten:

„Die Bibel ist voller Widersprüche. Sie ist eben nicht verbal inspiriert, sondern von Menschen geschrieben.“

Dieser Satz hat eine Voraussetzung: Gott ist ohne Widersprüche. Widersprüchliches muss dann vom Menschen kommen.

Was wäre eigentlich, wenn wir erkennen, dass Gott sehr wohl widersprüchlich sein kann? Unfassbar? Rätselhaft? Manchmal auch brutal?

Darum hat Karl Barth von Gott als dem „ganz anderen“ gesprochen. Dietrich Bonhoeffer sagte: „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“

Wer über Gott spricht, musste sich schon immer darauf einlassen, wie rätselhaft und unfassbar Gott ist. Gibt es Gott überhaupt? Wie gehen Menschen mit ihrem Zweifel um?
Ist die Bibel wirklich Gottes Wort?

Gottesbeweise

Als im Judentum die (hebräische) Bibel ins Griechische übersetzt werden musste, sagte die Legende, dass 70 Gelehrte in sieben Monaten die ganze (hebräische) Bibel übersetzte hätten – und Gottes Geist habe dafür gesorgt, dass alle diese Übersetzungen aufs Wort übereinstimmten. Auf diese Weise greifen Gottesbeweis und Bibelbeweis ineinander: Menschen machen Fehler, daher kann eine perfekte Bibel nur von Gott kommen. Diese Übersetzung ist zumindest im Blick auf die Übereinstimmung perfekt, also gibt es Gott.

Auch später wurde immer wieder versucht, nach bestimmten logischen Regeln einen Gott zu konstruieren, der in sich widerspruchsfrei ist und als „bewiesen“ gelten kann. Spätestens bei Kant mussten wir aber anerkennen, dass Gott sich der Beweisbarkeit entzieht.

Ich finde das auch unmittelbar einleuchtend. Nehmen wir einmal an, wir könnten Gott beweisen. Die logische Folge ist: Wir wären mehr als Gott. Wir könnten nicht nur den Beweise an sich führen, wir wären sogar in der Lage zu beurteilen, ob diese Beweisführung stimmig ist. Wer einen solchen Beweise führen kann, steht über Gott. Gott wäre dieser Beweisführung unterworfen. In der Konsequenz hätten wir bewiesen, dass wir über Gott stehen. Wir hätten bewiesen: Gott ist nicht Gott.

Darum würde ich zugespitzt sogar sagen: Jeder Versuch, Gott in irgendeiner Weise zu beweisen, ist Gotteslästerung. Gott erweist sich selber. Oder gar nicht. Aber wir können ihn nicht beweisen.

Frühere Auffassungen über Bibel und Welt

Lange Zeit war man tatsächlich der Auffassung, dass die Bibel die Realität in allen Punkten richtig und widerspruchsfrei darstellt – und dass man die Bibel jeweils auch richtig interpretiert. Falls Beobachtungen in der Natur dieser Auffassung widersprachen, gab man der Auffassung der Bibel den Vorrang.

Auch wenn wir heute wissen, dass die Babylonier zu der Zeit, in der die jüdische Gelehrtenschicht dort im Exil war, Planetengeschwindigkeiten messen und grafisch darstellen konnte (darüber gibt es Keilschriftentexte, die dies dokumentieren), war man lange Zeit der Auffassung, die Bibel würde die Erde als eine Scheibe beschreiben. So interpretiertem an etwa Bibelverse, in denen von den vier Enden der Erde die Rede ist.

Dabei merken wir: Ob das wirklich so in der Bibel steht und wirklich so verstanden werden muss, steht gar nicht fest. Dennoch war man der festen Überzeugung, die Erde sei eine Scheibe – weil es doch (angeblich) so in der Bibel steht.

Kritische Bibelmethoden

Irgendwann war diese Sichtweise nicht mehr wirklich zu halten. Mit Methoden der Literaturwissenschaft erkannte man Wachstumsprozesse. Man begann die alten Handschriften der Bibel zu erforschen, entdeckte unterschiedliche Textfassungen und begann, die Bibelhandschriften zu sammeln, auszuwerten, zu sortieren. Der Forschungszweig, der sich mit der Analyse und dem Vergleich der erhaltenen Abschriften befasst, nennt sich Textkritik.

Im Rahmen dieser Methoden wurden Regeln erarbeitet, an denen man sich orientieren kann, welche von unterschiedlichen Textfassungen wohl die ursprünglichere war. Da man beim Abschreiben eher vereinfacht, gelten kompliziertere Textformen als wahrscheinlich ursprünglicher.

Dann werden immer wieder bestimmte Begebenheiten an mehreren Stellen überliefert. Das Leben und Wirken Jesu wird in vier Evangelien dargestellt, die sich auf charakteristische Weise unterscheiden. Es begann eine Forschung, die aus diesen unterschiedlichen Darstellungen Theorien entwickelte, wie sozusagen eine Urfassung des Evangeliums ausgesehen haben könnte. Auch wenn diese Theorien immer hypothetischer wurden, hatte man das Gefühl, auf diese Weise näher an eine göttliche Urfassung heran zu kommen. Fehler, Widersprüche und Ähnliches wurden dann dem menschlichen Entstehungsprozess zugeordnet. Unhinterfragt galt aber immer noch der Grundsatz: Wenn Gott der Urheber ist, dass ist dieser Text wahr und beschreibt auch die Realität richtig.

Die Kurzformel dazu lautet: Gottes Wort im Menschenwort. Wenn man ganz ehrlich ist, war das auch ein bewährtes Mittel, um sich von unliebsamen oder schwer verständlichen Texten zu trennen. Böse ausgedrückt: Was einem nicht passte, galt als zeitbedingt, von Menschen jener Zeit verfasst – und hat heute keinerlei Gültigkeit mehr.

Wissenschaft

Auch die Naturwissenschaften begannen sich neu zu entwickeln. Immer genauer konnten Naturphänomene beschrieben und genutzt werden. Dampfmaschine, elektrischer Strom, Raumfahrt: Die Kosmonauten im Himmel fanden nichts, was auch nur entfernt zu den Vorstellungen eines göttlichen Himmels über den Wolken passte. Immer wieder traf man auf Behauptungen, die Wissenschaft habe Gott widerlegt.

Widerstand

Damit war für viele Christen eine Grenze überschritten. In der Opposition gegen solche Auffassungen wurde als Gegenüber zum Deutschen evangelischen Kirchentag der Gemeindetag unter dem Wort gegründet. Bis heute legen Vertreter dieser Richtung Wert darauf, dass die ganze Bibel Gottes Wort sei.

Eine neue Auffassung

Dem würde ich gerne eine neue Auffassung von Inspiration entgegenstellen:

Ich halte die ganze Bibel für inspiriert. Aber nicht so, wie man die Bibel gerne hätte, sondern genau so, wie wir sie haben: Ohne ein einziges Original. Zahlreiche Handschriften, die immer wieder voneinander abweichen. Vier Evangelien, die in wichtigen Details unvereinbar sind. Dazu gehören die beiden Abstammungslisten für Jesus, aber auch der Zeitpunkt der Kreuzigung. Dazu gehört die Erzählung von Noah und der Arche, in der merkwürdigerweise fast alles irgendwie doppelt vorkommt. Und vieles mehr.

Einige Beispiele würde ich Ihnen vorstellen ….

Dazu gehören für mich auch die unterschiedlichen Bibelfassungen und Übersetzungen. Die Biblia Hebraica und das NT Graece ebenso wie die Einheitsübersetzung, den Luthertext in den unterschiedlichen Ausgaben oder die Bibel in gerechter Sprache, um nur einige zu nennen.

Gott spricht zu uns durch die Bibel. Die Bibel ist sein Buch.

Aber hat irgendjemand Gott mal gefragt, ob er sein Buch wirklich ohne Widersprüche geplant hatte? Als eine vollständige Beschreibung der Realität? Die Bibel ist zugegeben ziemlich dick – aber dafür ist sie nicht dick genug.

Philosophie?

Menschen, die die Widerspruchsfreiheit der Bibel behaupten, verweisen gegenüber der Wissenschaft gerne auf Kolosser 2,8: „Seht zu, dass euch niemand einfange durch die Philosophie und leeren Trug, die der Überlieferung der Menschen und den Elementen der Welt folgen und nicht Christus.“

In der Regel setzen sie sich damit von der Evolutionstheorie ab, von kritischer Bibelwissenschaft und vielem mehr. Was ihnen aber in der Regel nicht auffällt: Wie sie selber philosophischen Auffassungen folgen, die sich so oder so einfach nicht in der Bibel selber finden, sondern der (Viel-) Gestalt, in der sich die Bibel präsentiert, widersprechen.

Eine solche Auffassung ist die Konstruktion Gottes als eines höchsten Gutes. Gott muss dann als allmächtig gedacht werden. Was er erschafft, ist nicht nur gut, sondern perfekt. Wenn Gott ein Buch herausgibt, dann muss es notwendig ohne Widersprüche sein und die Realität möglichst genau abbilden. Gott erscheint in dieser Vorstellung wie ein seelenloser historischer Bürokrat. Aber ist es demgegenüber so völlig abwegig, sich Gott als jemanden vorzustellen mit Fantasie, der gute Dichtung mag, vielleicht sogar Kabarett? Es ist eine philosophische Annahme, dass die Welt genau so erschaffen wurde, wie es im ersten Kapitel der Bibel beschrieben ist. Wer genau hinschaut, und sich ein wenig über die Hintergründe informiert, wird feststellen, dass sich das Judentum in einem wunderschön gefassten Text mit der babylonischen Mythologie, ihrem hohen Grad an Wissenschaftlichkeit und dennoch einem faszinierenden Hang zum Aberglauben auseinander setzt. Kern dieser Behauptung ist die Beobachtung, dass dieses Kapitel am vierten Schöpfungstag die Gottesnamen „Sonne“ und „Mond“ vermeidet und sie als „großes Licht und kleine Laterne“ bezeichnet. Uns fällt das nicht direkt auf, aber die ersten Zuhörer dieses Textes in Babylon wussten natürlich, dass der babylonische König sich als einzige Ebenbild von Gott Sonne ansah und Angst hatte vor Gott Mond. Nichts da, sagt das erste Kapitel der Bibel, Sonne und Mond sind keine Götter, sondern so etwas wie Lampen am Himmel. Und Ebenbilder sind wir alle. Und zwar gleichberechtigt Männer wie Frauen.

Das hat mindestens an diesen beiden Stellen Szenenapplaus oder wenigstens ein deutliches Schmunzeln gegeben, so stelle ich mir das jedenfalls vor.

Und für mein Empfinden sind wir damit wesentlich näher am Bibeltext als wenn wir ihn zu einer Offensive gegen die Evolutionstheorie missbrauchen.

Er erinnert uns an unsere Verantwortung, jede und jeder an seiner Stelle. Denn Ebenbilder Gottes sind wir nun alle. Wie der König steht jeder Mensch in einer besonderen Verantwortung für das, was er tut und wie er oder sie anderen Menschen begegnet. Falls dabei bei Ihnen sofort Assoziation zum großen Weltgericht in Matthäus 25 entsteht („was ihr diesem Geringsten (nicht) getan habt, habt ihr mir (nicht) getan“), so ist das durchaus beabsichtigt. Aber wie nehmen wir diese Verantwortung wahr?

Kein Pfadfinderhandbuch

Sind Tick, Trick und Truck noch ein Begriff? Immer, wenn sie mal nicht weiter wissen, können sie zu ihrem Pfadfinderhandbuch greifen. Sie müssen nur die richtige Seite aufschlagen und den Algorithmus abarbeiten, der dort beschrieben ist. Dann verhalten sie sich richtig und keiner kann ihnen etwas anhaben. Verantwortung brauchen sie dazu nicht. Sie müssen nur wissen, wo die Anleitung steht. Dann ist alles gut. Tick, Trick und Track sind in diesem Sinne irgendwie Diener, die Befehle ausführen, aber sie tragen keine eigene Verantwortung.

Manche verwechseln die Bibel mit einem solchen Pfadfinderhandbuch. Wenn sie einen Vers nennen können, der zu ihrem Verhalten passt, dann ist ihr Verhalten damit legitimiert.

Demgegenüber mutet uns Jesus Verantwortung zu: Wenn Ihr ein Ebenbild Gottes seht, dann behandelt es so. Und wenn es ein Bettler oder ein Gefangener wäre.

Wenn ein bestimmtes Verhalten richtig und vernünftig ist, dann ist es richtig und vernünftig, auch wenn es nicht in der Bibel steht. Und wenn ein Verhalten nicht richtig ist, dann wird es nicht besser, wenn es durch einen Bibelvers legitimiert werden könnte. Und wenn es Tausend Verse gäbe, die ein bestimmtes Verhalten gut heißen, aber jetzt, in dieser Situation ist es falsch, dann bliebe es in dieser Situation auch dann falsch, wenn es zweitausend Verse dazu gäbe.
Und die Verantwortung tragen jeweils wir selber. „Aber der Peter hat doch gesagt!“, haben wir uns herauszureden versucht. Und die Mutter oder der Lehrer oder… holte uns dann oftmals mit den Worten : „Und wenn Peter sagt, ‚du springst aus dem fünfte Stock‘, dann machst Du das auch?!“

Die Bibel ist dialogisch

Das haben wir Christen vom Judentum lernen dürfen.  In der jüdischen Bibelauslegung wissen wir, dass im Talmud ganz unterschiedliche Toraauslegungen überliefert werden konnten. Rabbi A hat gesagt, und Rabbi B hat gesagt. Und die Leserinnen und Leser der Talmudauslegung dürfen sich ein eigenes Bild machen. „Ihr habt gehört, dass gesagt ist, ich aber sage euch…“ ist die entsprechende Sprachfigur, die sich dazu im Neuen Testament erhalten hat. Es geht nicht um ein Überbieten, sondern darum, in einen Traditionsprozess neu einzutreten, in dem in der jeweiligen Gegenwart neue Entscheidungen getroffen werden müssen.

In diesem Sinne ist und bleibt die Bibel verbindliche Richtschnur für unseren Glauben und unser Leben. Aber wir sind nicht gedacht als seelenlose Befehlsempfänger, sondern als Gottes Ebenbilder, die Verantwortung übernehmen und mit Gott und anderen Ebenbildern Gottes im Gespräch sind.

Die Liebe

Ein Kriterium nennt die Bibel selber. Das Hohelied der Liebe endet in 1. Kor 13,13 mit den Worten: „… aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Wenn Glaube, Liebe und Hoffnung in Konkurrenz geraten, ist die Liebe das Kriterium, nicht der Glaube und nicht die Hoffnung.

Und nun?

Wir diskutieren (ggf. in Kleingruppen),

  • wie wir unter diesen Umständen unserer Verantwortung gerecht werden, wenn wir etwa auf Röm 1,26 und 27 treffen,
  • ob diese Auffassung von Inspiration genügend überzeugend ist, um im Dialog mit „Bibeltreuen“ hilfreich zu sein,
  • wie sinnvoll diese Überlegungen im Blick auf das Gottbild sind,
  • Hat sich in Bezug auf die Anfangsfragen etwas verändert hat?

Was fehlt noch?

  • Anknüpfungspunkte an die Theologie von Ulrich Bach.
  • Konkrete Hinweise auf aktuelle Exegese (vgl. Klaus Wengst)
  • ggf. Musik nach dem aktuellen Kirchentagsliederbuch.

Bernd Kehren

Gott widersprüchlich?

In “Kurz gefragt” (Chrismon 02/2008) fragt ein Leser danach, warum Gott die bösen Menschen in der Sintflut mit dem Tode bestraft und sich damit selber nicht an das Tötungsverbot hält, dass er nun selber erlässt.

Burkhard Weitz beginnt seine Antwort darauf mit den Worten:

„Die Bibel ist voller Widersprüche. Sie ist eben nicht verbal inspiriert, sondern von Menschen geschrieben.“

Dieser Satz hat eine Voraussetzung: Gott ist ohne Widersprüche. Widersprüchliches muss dann vom Menschen kommen.

Was wäre eigentlich, wenn wir erkennen, dass Gott sehr wohl widersprüchlich sein kann? Unfassbar? Rätselhaft? Manchmal auch brutal?

Könnte diese Erkenntnis uns Menschen nicht vielleicht sogar entlasten, weil wir auch widersprüchlich sein dürfen? Eben: Von Gott geliebte Sünder?

Was wäre eigentlich, wenn in diesem Sinne die widersprüchliche, von Menschen geschriebene Bibel tatsächlich „verbal inspiriert“ ist, damit wir Menschen bescheiden werden, unserem Perfektheitswahn (an dem wohl jeder hin und wieder leidet) den Abschied geben und erkennen, wir können nur als Gemeinschaft der Unperfekten leben und lieben?

Du sollst dir von Gott kein Bildnis machen. Auch nicht das Bild des unfehlbaren und widerspruchsfreien Gottes. Glaube ich.

Bernd Kehren
03.02.2008