Das Milgram-Experiment

Das Milgram-Experiment

Wieviel Gehorsam kann ein Mensch freiwillig einem anderen Menschen entgegen bringen, ohne dazu in irgendeiner Form gezwungen zu werden?

Hannah Arend sprach von der „Banalität des Bösen“: Ganz normale Menschen – keine Bestien – hatten sich bei der fürchterlichen Menschenvernichtung während der Nazizeit beteiligt. Menschen wie Du und ich beteiligten sich daran in einem ungeheueren Maße, ohne irgendwelche Gewissensbisse zu empfinden und zu einem erheblichen Teil, ohne in irgendeiner Weise gezwungen zu sein. Sie machten einfach ihre Arbeit – und das war es dann. Sie gehorchten einer übergeordneten Instanz, der sie vertrauten, die sich halt als irgendwie übergeordnet legitimierte, sie hielten es für richtig, zu gehorchen. Manche gehorchten nur unter Protest, manche leisteten Widerstand. Gibt es Bedingungen, die den Gehorsam fördern?

Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, ist es erforderlich, Gehorsam zu messen. Aber was könnte der Maßstab sein?

Dazu wurde ein geradezu teuflisches Experiment ausgedacht.

Du liest in einer Zeitung: Versuchspersonen gesucht zu einer Untersuchung über Gedächtnis und Lernvermögen. Kostenerstattung von 25 DM je Stunde.

Du bewirbst dich und wirst mit einer weiteren Person in ein Labor eingeladen. Ein leidenschaftsloser Versuchsleiter erklärt folgendes:

Die Psychologen haben mehrere Theorien entwickelt, die eine Erklärung für die Tatsache bieten, wie Menschen unterschiedliche Arten von Lernstoffen lernen. Einige der bekannteren Theorien werden in diesem Buch abgehandelt.

Der Versuchsleiter legt euch ein Buch über den Lehr- und Lernprozess vor. Er erklärt weiter:

Eine Theorie lautet, dass der Mensch etwas exakt lernt, wenn er für einen Fehler jedesmal bestraft wird. Eine  allgemeine Anwendung dieser Theorie ist etwa, dass Eltern ein Kind schlagen, wenn es etwas angestellt hat. Die Erwartung geht dahin, dass Prügel als Bestrafung das Kind lehren werden, sich besser zu erinnern, dass sie es lehren werden, erfolgreicher zu lernen.

Wir wissen jedoch noch sehr wenig über den Einfluss von Strafe auf den Lernprozess, weil es fast keine wirklich wissenschaftlichen Untersuchungen am Menschen darüber gibt. Wir wissen zum Beispiel nicht, wieviel Strafe sich am günstigsten auf das Lernen auswirkt, und wir wissen nicht, welchen Unterschied die Person des Strafenden ausmacht – ob ein erwachsener Mensch am besten von einer jüngeren oder älteren Person als er selbst lernt – usw., usw.

Deshalb versammeln wir für unser Experiment eine Anzahl von Erwachsenen mit verschiedenen Berufen und von unterschiedlichem Alter und bitten einen Teil von ihnen, Lehrer zu sein, einen anderen Teil, Schüler zu spielen.

Wir wollen herausfinden, welche Auswirkungen verschiedenen Menschen füreinander als Lehrer und als Schüler haben, und wir wollen auch herausfinden, welche Auswirkung Bestrafung in dieser Situation hat.

Deshalb werde ich jetzt einen von Ihnen beiden bitten, hier heute abend den Lehrer darzustellen, den anderen, die Rolle des Schülers zu übernehmen.

Zieht einer von Ihnen die eine oder andere Rolle vor?

Du kannst dich nun dazu äußern, auch der andere Versuchsteilnehmer äußert seine Vorliebe. Der Versuchsleiter fährt fort:

 Also, ich glaube, es ist am fairsten, wenn ich auf zwei Zettel die Wörter „Lehrer“ und „Schüler“ schreibe und Sie beide losen lasse.

Du wirst als Lehrer ausgelost. Danach seht ihr euch die Versuchsanordnung an. Der Versuch beginnt. Der Schüler setzt sich auf eine Art elektrischen Stuhl. Er wird festgeschnallt, an seinen Armen werden Elektroden angebracht. Eine Elektrodensalbe soll helfen, Verbrennungen zu vermeiden. „Obwohl die Schocks äußerst schmerzhaft sein können, verursachen sie keine bleibenden Gewebsschädigung“, erklärt der Versuchsleiter.

Die Lernaufgabe besteht darin, Assoziationspaare zu lernen. Du sitzt im Nebenraum und liest dem Schüler Wortpaare vor:

Blau Schachtel
Schön Tag
Wild Vogel
usw

Anschließend muss der Schüler sich an das zweite Wort erinnern: Du liest vor:

Blau: Himmel, Tinte, Schachtel, Lampe.

Entsprechend der Position der richtigen Antwort drückt der Schüler einen von vier Knöpfen. Du kontrollierst die Antworten anhand von vier Kontroll-Lampen. Zur Versuchsanordnung gehört auch der Schockgenerator.

Vor dir befindet sich eine Tafel mit 30 Kippschaltern. Sie sind beschriftet mit 15 Volt, 30 Volt, 45 Volt usw bis 450 Volt. Jeweils vier Schalter tragen die Bezeichnung: „Leichter Schock“, „Mäßiger Schock“, „Mittlerer  Schock“, „Kräftiger Schock“, „Schwerer Schock“, „Sehr schwerer Schock“, „Gefahr: Bedrohlicher Schock“. Zwei Schalter nach dieser letzten Bezeichnung tragen nur die Markierung „X X X“.

Wenn ein Kippschalter betätigt wird, leuchtet über ihm eine rote Kontrollampe auf; man hört ein elektrisches Summen; ein elektrisches Blaulicht mit der Aufschrift „Spannungsverstärker“ blitzt auf; der Zeiger auf dem Voltmeter schlägt aus.

Bevor es losgeht, erhältst Du einen Probeschock von 45 Volt.

Bei jeder falschen Antwort musst Du auf dem Schockgenerator eine Stufe höher gehen. Du musst vor der Verabreichung die Voltstärke ankündigen. Z.B.: „Sie erhalten jetzt einen Schock von 150 Volt!“ Falls Du bis 450 Volt gehen wirst, sollst Du diese Stufe beibehalten. Nach zwei weiteren Versuchen wird der Versuchsleiter abbrechen.

Der einzige Ansporn, den Du erhalten wirst, besteht aus vier Sätzen, die jeweils der Reihe nach gesagt werden, bis Du den Schalter umlegst.

1 – Zuerst:

Bitte machen Sie weiter! Oder: Bitte fahren Sie fort!

2 – Falls das nicht nutzt:

Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen!

3 – Dann:

Sie müssen unbedingt weitermachen!

4 – Die letzte Steigerung:

Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen.

Das Maß für den Gehorsam ist gleichsam die Stromstärke, die Du als Lehrer maximal zu geben bereit bist, bevor Du den Versuch auf jeden Fall abbrechen wirst. Die Auslosung nach Schüler und Lehrer war natürlich Betrug: Du bist die eigentliche Versuchsperson, Du wurdest auf jeden Fall der Lehrer. Gemessen wird Deine Bereitschaft gehorsam zu sein.        

 

Soweit der Versuchsaufbau. Nun zu den Ergebnissen:

In einem Vorversuch gab es außer den Lämpchen keine Kommunikation zwischen Lehrer und Schüler.

Nahezu keine Versuchsperson brach den Versuch ab. Alle fragten so lange, bis auch der Schalter mit der höchsten Voltstärke umgelegt wurde. Kaum einer ließ sich von den Aufschriften über den Schaltern beeindrucken.

Also musste ein Schauspieler den Schüler spielen. Auch wenn der Schüler zunächst mäßig, dann auch schärfer  protestierte, führte die Mehrheit der Versuchspersonen den Versuch bis zum bitteren Ende der Skala durch.

Im eigentlichen Versuch wurden dann bestimmte Äußerungen an eine bestimmte Voltstärke gekoppelt:

 75 Volt: leichtes Knurren

120 Volt: „Es tut weh“

135 Volt: schmerzliches Stöhnen

150 Volt: Schreie „Ich weigere mich!“

180 Volt: Brüllen „Ich kann nicht mehr!“

270 Volt: Qualvolles Brüllen

300 Volt: Der Schüler weigert sich, noch Antworten zu geben.

Der Versuchsleiter gibt die Anweisung, dies als falsche Antwort zu werten und nach 5 bis 10 Sekunden Toleranzzeit weiterzumachen.

Nach 330: Keine Antworten mehr

Diese Versuchsanordnung soll also zu einem Konflikt führen: Einen Konflikt zwischen dem Gehorsam gegenüber der Forderung des Versuchsleiters weiterzumachen und der zunehmend dringenden Bitte des Schülers, das Experiment abzubrechen. Die jeweils maximale Voltstärke ist das Maß für Deinen Gehorsam.

Vorher wurden Menschen gefragt, ob sie bei diesem Versuch abbrechen würden und wann. ALLE Menschen gaben an, in jedem Falle abzubrechen. Eine ganze Reihe würde sich sogar weigern, auch nur den ersten Schock zu geben. Keiner würde einen „Sehr schweren Schock“ geben, für die meisten wäre der „Mittlere Schock“ die äußerste Grenze.

Die Zahlen der dann durchgeführten Versuche sprechen eine andere Sprache:

62 Prozent gingen bis zum bitteren Ende über „X X X“ hinaus. Und erschreckend viele der übrigen machten erst beim „Sehr schweren Schock“ Schluß.

Selbst wenn man die Anordnung veränderte und der Schüler im selben Raum saß wie der Lehrer, waren es noch 40 Prozent, die 450 Volt an einen Schüler verabreichten, der keine Äußerung mehr von sich gab.

In einer weiteren Versuchsreihe bekam der Schüler nur dann einen Schock, wenn seine Hand auf einer „Schockplatte“ lag. Ab 150 Volt weigerte sich der Schüler, und der Lehrer musste mit steigender Gewalt die Hand selbst auf die Platte drücken: Immer noch zogen 30 Prozent bis zum bitteren Ende durch!!!

Das Experiment wurde unter veränderten Bedingungen immer wieder wiederholt.

Ändert sich das Ergebnis, wenn …

  • Frauen statt Männer Versuchspersonen sind?
  • der Versuchsleiter direkt neben dem Lehrer steht?
  • wenn der Versuchsleiter zwar im Raum sitzt, aber weiter entfernt hinter einem Schreibtisch?
  • wenn er den Raum verlässt und die Anweisungen nur noch per Telefon gibt?
  • wenn der Schüler vorher unterschreiben muss, dass er sich freiwillig am Experiment beteiligt und alle Beteiligten von jeglicher Haftung an den Folgen freispricht?
  • wenn das Labor in einem Hinterhof statt hinter einer renommierten Fassade eingerichtet ist?
  • wenn der Schüler zwar unter Schmerzen schreit, aber dennoch bittet weiterzumachen, weil er es als seine Pflicht ansieht?

Teilweise kommt es zu abweichenden Ergebnissen. Immer ist jedoch der Bereitschaft, einfach weiterzumachen, enorm.

Das Ergebnis widerspricht allen Prognosen, die Versuchspersonen über ihr eigenes Verhalten abgegeben haben.

Der Autor schreibt: „Das Dilemma, das sich aus dem Konflikt zwischen Gewissen und  Autorität ergibt, ist in der Gesellschaft selbst beschlossen, und wir würden damit leben müssen, selbst wenn es Nazideutschland nie gegeben hätte. Wenn man das Problem ausschließlich historisch behandelt, verleiht man ihm eine allzu große, zu Illusionen verleitende Distanz.

Manche lehnen das Nazi-Beispiel ab, weil wir heute in einer Demokratie und nicht in einem autoritären Staat lebten. Aber das Problem wird dadurch nicht beseitigt. Denn es lautet nicht „unbedingte Autorität in der Art politischer Organisation“ oder „Gruppe von psychischen Einstellungen“, sondern „Autorität“. Unbedingte Autoritätsgläubigkeit kann demokratischer Praxis weichen, aber Autorität als solche kann nicht ausgeklammert werden, solange die Gesellschaft in der uns vertrauten Form weiterexistieren soll.

In Demokratien werden Menschen durch öffentliche Wahlen in ihr Amt eingesetzt. Doch sobald sie einmal installiert sind, besitzen sie nicht weniger Autorität, als jene, die durch andere Mittel  ihre Position erlangt haben. Und wie wir wiederholt gesehen haben, können auch die Forderungen einer demokratisch installierten  Autorität mit dem Gewissen in Konflikt geraten. Der Import und die Vernichtung der indianischen Bevölkerung Amerikas, die Intervenierung japanischer US-Bürger, der Einsatz von Napalm gegen Zivilisten in Vietnam – alle diese Aktionen waren grausam und entsprangen der Autorität einer demokratischen Nation, und man begegnete ihnen mit dem erwarteten Gehorsam. In jedem einzelnen Fall erhoben sich Stimmen des moralischen Protests, doch die typische Reaktion des Durchschnittsmenschen war, den Befehlen zu gehorchen.“

Inzwischen sind mehr als 20 Jahre vergangen. Mich würde eine Neuauflage dieses Versuches interessieren.

Ich weiß heute auch nicht mehr, ob es unbedingt ein Problem des Gehorsams ist. Ist es gehorsam, wenn man in das verlogene Geheul eines Teils unserer Politiker und des amtierenden Innenministers einstimmt, es gäbe massenhaften Asylmissbrauch in unserem Land und mögliche Asylbewerber müssten durch reduzierte Sozialhilfe usw. abgeschreckt werden, es kämen ganz „Fluten“ von ihnen in unser Land usw.? Jeder, der sich ein wenig für Flüchtlingsarbeit interessiert, kann wissen, wie verlogen dieses Geheul ist. Jeder  kann wissen, dass Bürgerkriegsflüchtlinge von den Ämtern der Gemeinden zum Asylmissbrauch aufgefordert werden, damit nicht mehr die Gemeinden, sondern andere Kostenträger für die Unterbringung zuständig werden. Jeder kann es wissen…

Und dennoch „legt“ die brave Omi von nebenan „den Schalter um“,  redet von ihrer Angst vor diesem „Pack“ und dass sie dringend „raus müssten“. Und dennoch klatschen ansonsten unauffällige Familienväter Beifall, wenn Brandsätze auf Asylheime geworfen werden.  Dennoch werden Menschen zu reiner Manövriermasse für skrupellose Politiker, die künstlich die Bearbeitungsdauer von Asylanträge verlängern und im Gegensatz dazu öffentlich erklären, sie seien zu lang, und viel mehr Menschen müssten ohne individuelle Prüfung ihres Schicksals unmittelbar wieder abgeschoben werden können.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Milgram-Experiment und der gegenwärtigen Asyldebatte? Gibt es vielleicht auch einen Zusammenhang zwischen dem Experiment und der gestiegenen Gewaltbereitschaft (nicht nur) unter Jugendlichen in unserer Gesellschaft?

Ich weiß es nicht. Mir würde es reichen, wenn der eine oder die andere nachdenklich würde über seine eigene Gehorsams- und Gewaltbereitschaft – und heute aufsteht gegen Gewalt gegen Menschen, Frauen, Männer und Kinder, egal welche Hautfarbe sie tragen und egal, ob die Gewalt sich institutionell durch Asylgesetzgebung oder ganz offensichtlich durch Brandsätze geschieht…

Bernd Kehren (ca. 1995)

Literatur:

Stanley Milgram,
Das Milgram-Experiment.
Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität.

Deutsch von Roland Fleissner.
1974 Rowohlt Verlag, Hamburg

Aus diesem Buch wird ziemlich viel ohne besondere Kennzeichnung sinngemäß und wörtlich zitiert.

Zu diesem Buch gibt es auch einen Film. Er hat seinen Titel in Anlehnung an die Geschichte von der „versuchten Opferung des Isaak“.

Film: „Abraham – ein Versuch“
BRD, 1970
Regie: Hans Lechleitner / Paul Matussek / David M. Mantell
16 mm / Lichtton / schwarz-weiß
48 Minuten
Link: https://www.fernuni-hagen.de/videostreaming/zmi/video/1986/86-16_76674/

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