Die 150-Prozentigen sind die Schlimmsten

14. August 2016 – 10:00 Uhr
Gottesdienste im Dietrich Bonhoeffer-Haus, Odendorf

Apostelgeschichte 9, 1-20
Eine Predigt über einen Mann, den Gott nicht mit Wattebäuschchen von seinem Wahnsinn abbrachte.

 

Liebe Gemeinde,

beim Predigttext wird es heute um die Bekehrung des Saulus zum Paulus gehen.

Man kann über diese Geschichte vom Paulus her nachdenken: Was ist da passiert, dass er sich bekehrt hat. Und man kann vergleichen, ob und wie wir uns bekehrt haben.

Ich möchte heute einen anderen Weg gehen und nach den Religionen fragen: Wie man sie aussucht, wann man sie wechselt, und schließlich, ob Paulus seine Religion überhaupt gewechselt hat und ob da nicht etwas ganz anderes passiert ist.

 

Die 150-Prozentigen sind oft die Schlimmsten

Übrigens in allen Religionen. Und auch bei den Atheisten. Daher zuerst die Frage: Was möchte Religion? Was möchten eigentlich alle Religionen?

Antwort:
Immer geht es der Religion darum, dass Menschen gut und friedlich miteinander leben können. Dass das Leben einen Sinn hat. Dass man in einer guten Gemeinschaft leben kann. Dass man von Liebe und nicht vom Hass geprägt ist. Dass man frei leben kann. Dass niemand im Stich gelassen wird.

Das Christentum und das Judentum sind solche Religionen. Sicher nicht die einzigen. Aber wir sind nun mal Christen, da können wir uns gerne auch darauf beschränken.

Müssen wir unsere Religionen mit anderen vergleichen? Das kann durchaus sinnvoll sein. Und dabei fallen mir hin und wieder Dinge auf, bei denen ich mich freue, Christ zu sein. An diesen Stellen empfinde ich es so, dass es mir im Christentum doch besser geht als in anderen Religionen. Und doch möchte ich vorsichtig sein und mir nicht zu viel drauf einbilden. Zu viel Schaden haben Menschen angerichtet, die ihre eigene Religion als die beste und höchste und schönste angesehen haben.

Manch einer tut so, als sei seine Religion die beste und größte und schönste. Eine ganze Zeit lang hat man sich da von einer fehlgeleiteten Vorstellung von Evolution leiten lassen. Man hat diesen Gedanken von Evolution auf die Religionen übertragen – und schwups galt das Christentum im Rahmen der weltweiten  Religionsgeschichte als die Krone der Religionen. Und auf die anderen wurde hinabgeblickt. Das Judentum – eine Gesetzesreligion. Davor – und zum Teil wurde auch das Judentum hinzu gezählt – gab es die primitiven Stammesreligionen. Und der Islam: Der ist zwar nach dem Christentum entstanden, aber die Höhe und Größe des Christentums habe er niemals erreicht. Die Nationalsozialisten versuchten, noch eins drauf zu setzen, das Christentum von allen niederen Bestandteilen zu reinigen und auf dieser evolutionären Entwicklung die allerhöchste Krone zu erobern.

Auf die anderen kann man dann herabblicken. Den anderen kann man dann den Wert absprechen. Sie sind doch selber schuld, wenn sie auf ihrer primitiven Stufe stehen bleiben wollen. Sie sind minderwertig. Und es schadet nichts, wenn man sie ausmerzt. Im Gegenteil. Von solchen Elementen gereinigt, kann die eigene Religion einen viel größeren und edleren Glanz entwickeln.

Aber warum sollte man eine Religion entwickeln, wo es doch so viel Auswahl gibt?

Manche der Religiösen probieren die Religionen gewissermaßen der Reihe nach durch, suchen nach der perfekten Religion, und lassen voller Verachtung hinter sich, was den hohen Ansprüchen nicht genügt. Und mache davon setzen noch eines drauf. Ihnen genügt es nicht, die beste Religion gefunden zu haben. Sie müssen auch die anderen, die mit den weniger guten Religionen aktiv bekämpfen. Wer sich dieser hohen Religion nicht anschließt, hat plötzlich sein Recht auf Leben verwirkt. Man muss ihn zwar nicht umbringen, aber wenn man es doch tut, ist es auch nicht schade um ihn. Auf jeden Fall kann er dann der eigenen Religion nicht mehr im Wege stehen. Selbst unser Reformator Martin Luther war leider nicht ganz frei von solchen Gedanken.

Und Paulus war es auch nicht. Die Religion soll Frieden bringen. Aber wehe, jemand hat eine andere Religion.

Hören wir auf Apostelgeschichte, Kapitel 9:

In Anlehnung an die Bibel in gerechter Sprache, Apg 9,1-20

1 Saulus schnaubte immer noch Drohung und Mord gegen die Schülerinnen und Schüler des Herrn. Er trat an den Hohenpriester heran 2 und erbat sich von ihm Briefe an die Synagogen in Damaskus: Wenn er dort welche finde, die sich an diese Richtung hielten, wolle er sie, Männer wie Frauen, gefesselt nach Jerusalem bringen. 3 Als er auf der Reise nahe an Damaskus herankam, umstrahlte ihn plötzlich Licht vom Himmel her. 4 Er stürzte zu Boden und hörte, wie eine Stimme zu ihm sagte: »Saul, Saul, was verfolgst du mich?« 5 Er sagte: »Wer bist du, Herr?« Der antwortete: »Ich bin Jesus, den du verfolgst. 6 Jetzt aber: Steh auf und geh in die Stadt! Dort wird dir gesagt werden, was du tun sollst.« 7 Die Männer, die mit ihm reisten, standen sprachlos da; sie hörten zwar die Stimme, sahen aber niemanden. 8 Saulus erhob sich vom Boden. Obwohl er die Augen offen hatte, konnte er nichts sehen. So führte man ihn an der Hand nach Damaskus hinein. 9 Drei Tage lang konnte er nicht sehen; und er aß nicht und trank nicht.

10 In Damaskus gab es einen Jünger namens Hananias. Zu ihm sagte der Herr in einer Vision: »Hananias!« Der sagte: »Da bin ich, Herr,« 11 Darauf der Herr zu ihm: »Auf, geh zur >Geraden Gasse< und suche im Haus des Judas einen Saulus aus Tarsus auf! Er wird dir auffallen, weil er betet. 12 Und er hat in einer Vision einen Mann namens Hananias gesehen, wie er hereinkam und ihm die Hände auflegte, damit er wieder sehe.« 13 Hananias antwortete: »Herr, ich habe von vielen über diesen Mann gehört, was alles er deinen Heiligen in Jerusalem Böses angetan hat. 14 Auch hier hat er Vollmacht von den Oberpriestern, alle festzunehmen, die deinen Namen anrufen.« 15 Der Herr sagte zu ihm: »Geh nur hin! Denn diesen habe ich mir als Werkzeug ausgewählt, um meinen Namen vor Völker zu tragen, vor Königinnen und Könige und vor das Volk Israel. 16 Ich will ihm nämlich zeigen, wie viel er für meinen Namen leiden muss.« 17Hananias ging weg, ging in das Haus, legte ihm die Hände auf und sagte: »Saul, lieber Bruder, der Herr hat mich geschickt, Jesus, der dir auf dem Weg, den du kamst, erschienen ist. Du sollst wieder sehen und von heiliger Geistkraft erfüllt werden.« 18 Sogleich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und er konnte wieder sehen. Er stand .auf und ließ sich taufen, 19 nahm Speise zu sich und kam wieder zu Kräften.

Er hielt sich einige Tage bei den Jüngerinnen und Jüngern in Damaskus auf 20 und verkündete .sogleich in den Synagogen, dass Jesus der Sohn Gottes sei.

 

Wir alle kennen diese Geschichte als die Bekehrung des Saulus zum Paulus.
Hinweisen möchte ich dabei, dass Paulus auch danach immer noch „Saulus“ genannt wird, und dass Paulus auch danach immer noch Jude blieb und in den Synagogen gepredigt hat.

Paulus hat sich nicht vom Judentum abgewandt und zum Christentum bekehrt! Einer solchen Vorstellung müssen wir ausdrücklich widersprechen.

Ich glaube, dass das, was da geschehen ist, gar nichts einer speziellen Religion zu tun hat. Es kann sich so in fast jeder Religion so ereignen.

In allen Religionen gibt es Menschen, die glauben, sie müssten die Sache Gottes in die eigenen Hände nehmen. Ihnen ist zwar einerseits klar, dass nur Gott allmächtig ist.
Trotzdem kommen diese Anhänger Gottes auf die Idee, dass sie selber nicht nur Anteil an dieser Unfehlbarkeit haben, sondern dass sie selber unfehlbar sind und das Recht haben, an Gottes Stelle handeln zu dürfen.
Sie haben mit ihrer Auffassung recht und die anderen Unrecht. Und wer Unrecht hat, kann auch verfolgt werden.

Paulus kam nicht damit zurecht, dass die Jesusanhänger anders glaubten, als er es tat.
Dabei ist das Judentum durchaus eine Religion der Diskussion. Im babylonischen Talmud werden ganz unterschiedliche Auslegungen überliefert, damit die Nachfahren sich aus den unterschiedlichen Auslegungen eine eigene Meinung bilden können.
Paulus wollte nicht, dass sich die Nachfahren eine eigene Meinung bilden. Die Meinung dieser Christusanhänger sollten zum Schweigen gebracht werden.

Kommt Ihnen dabei auch die gegenwärtige Entwicklung in der Türkei in den Sinn? Redaktionen werden geschlossen, Redakteure werden entlassen oder verhaftet. Die Opposition soll aus dem gesellschaftlichen Leben gedrängt werden. Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich. Angst und Misstrauen machen sich breit.

Ich muss aber auch an Menschen denken, die sich selbst „bibeltreu“ nennen und denen, die die Bibel anders auslegen als sie, die Bibeltreue absprechen. Da wird zwar meist niemand physisch verfolgt, aber man findet in den Äußerungen mancher dieser „Bibeltreuen“ ein Maß an Verachtung, das einen nur traurig stimmen kann. Und geht man in manches andere Land in der Welt, in der nicht nur das Christentum, sondern auch der Staat homophob geprägt ist, dann kann mit dieser Form Bibeltreue durchaus auch die Todesstrafe für Homosexuelle begründet werden.

Unsere Geschichte spielt also nicht nur in der Vergangenheit, sondern ist oft auch noch Teil unserer Gegenwart. Und es sind nicht nur die anderen Religionen, sondern es betrifft auch unsere eigene Religion.

Paulus damals hat es besonders schlimm getrieben. Aber Gott hat mit ihm noch eine Menge vor. Es trifft ihn wie ein Blitz. „Saul, Saul, warum verfolgst Du mich?“

Es kling ein wenig vorwurfsvoll. Aber noch viel mehr klingt es traurig. Als wolle Jesus sagen: „Was habe ich dir eigentlich getan? Ich bin doch Jude wie du! Ich glaube an den Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat. Ich glaube an den Gott, der jeden Menschen zu seinem Ebenbild erschaffen hat. Wir sind doch Ebenbilder! Gibt es wirklich einen Grund, so miteinander umzugehen? Saul, Saul, warum verfolgst du mich?“

Ist es diese Erfahrung, die wie ein Blitz bei Paulus einschlägt und ihn förmlich umhaut, so dass er nichts mehr sehen kann?

Oder ist es diese Frage, die ihn so infrage stellt, dass ihm die Augen für drei Tage versagen? Ich möchte nicht wissen, was einer der Psychiater oder Neurologen auf einer der Stationen dazu sagt, auf denen ich in Euskirchen Patienten seelsorglich betreue.

Aber es geht nicht darum, diese Erzählung psychologisch zu erklären. Es geht um die Beziehung zu Gott.

Paulus hatte sich gegen Gott gestellt. So wie damals Jona in Ninive. Wie Jona drei Tage im Bauch des Wals in Sicherheit gebracht wurde, so wurde Saulus in den Tagen seiner Blindheit für drei Tage gut betreut.

Und Gott sorgt für einen Neuanfang. Es fällt Hananias nicht leicht, zu Saulus zu gehen. Zu viel hatte Saulus den Jesus-Leuten angetan. Aber Hananias bleibt in der Liebe, die Jesus immer gepredigt hat. Die Liebe Gottes und die Liebe der Menschen spricht aus seinen Worten: „Jesus hat mich geschickt, und Du sollst von seinem Geist erfüllt sein!“

Jetzt weiß ich gar nicht, was Saulus mehr beeindruck hat: Die vorwurfsvoll-traurige Frage vor Damaskus – oder die Zusage von Gottes Geist durch Hananias.

„Es fällt ihm wie Schuppen von den Augen.“

Und wie selbstverständlich lässt er sich taufen, noch bevor er etwas isst, um wieder zu Kräften zu kommen. Und fast harmonisch klingt es, wie er sich bei den Jüngerinnen und Jüngern aufhält.
Und wie selbstverständlich geht er in die Synagoge und bekennt sich zu Jesus als dem Gottessohn.

Nein, Paulus hat nicht das Judentum verlassen. Paulus ist Jude geblieben.

Aber die Liebe hat ihn überwunden. Nicht seine Religion ist einer andere geworden, sondern er ist ein anderer geworden. Gottes Liebe, und die Liebe der Jünger haben ihn verändert.
„Warum verfolgst du mich?“
»Saul, lieber Bruder, der Herr hat mich geschickt, Jesus, der dir auf dem Weg, den du kamst, erschienen ist. Du sollst wieder sehen und von heiliger Geistkraft erfüllt werden.«

Was ist daran für uns wichtig?

Derzeit wird in der Türkei die Todesstrafe diskutiert und ich zweifle nicht daran, dass es Präsident Erdogan gelingen wird, sein Volk so zu manipulieren, dass sie tatsächlich eingeführt wird.

Wer die Todesstrafe einführt, rechnet nicht damit, dass aus Feinden Freunde werden. Wer die Todesstrafe einführt, spricht jemandem, der einen großen Fehler begangen hat, die Fähigkeit zu einem Neuanfang ab.

Paulus ist ein sehr gutes Beispiel für einen Neuanfang. Wer die Geschichte von der Bekehrung des Paulus ernst nimmt, kann nicht für die Todesstrafe sein. Die Bekehrung des Paulus setzt gegen die Todesstrafe die liebevolle Zuwendung, die aber ein unmissverständliches Stopp-Signal nicht ausschließt.
Viele Menschen lachen regelmäßig, wenn etwa Margot Käßmann im Angesicht von Terror und Gewalt davon sprechen, man müsse Terroristen mit Liebe begegnen.

Das Schlimme ist: Wie viele Christen lachen regelmäßig über den Vorschlag, selbst brutalen Gegnern mit Liebe zu begegnen!

An der Bekehrung des Paulus kann man sehen, dass Liebe und hartes Eingreifen keine Gegensätze sein müssen. Wenn man so will: Der liebe Gott hat bei der Bekehrung des Paulus nicht mit Wattebäuschchen geworfen. Paulus war wie vom Blitz gerührt, er war drei Tage lang schwerbehindert und konnte nichts essen und trinken.

Liebe schließt nicht aus, dass Menschen für eine begrenzte Zeit aus dem Verkehr gezogen werden. Bei Paulus waren es nur drei Tage, aber drei sehr intensive Tage im Dunkeln.

Wer Menschen in Liebe begegnet, muss sich nicht alles gefallen lassen.

Wer Menschen in Liebe begegnet, kann ihnen auch entgegen treten.
Aber nicht hasserfüllt, sondern voll Trauer und Liebe.

„Paulus, warum verfolgst du mich?“ Liebe und Trauer sind kein Grund, der Aggressivität eines Terroristen enge Grenzen zu setzen.

Wer Aggressivität mit Aggression begegnet, wird die Gewalt nur steigern.

Die Geschichte der Bekehrung des Paulus ist eines von vielen Beispielen dafür, dass Aggression durch Liebe überwunden werden kann.
Es blieben genug weitere Aggressoren. Im weiteren Fortgang wird Paulus fliehen müssen, weil er mit dem Tode bedroht wird.
Ich selber habe damals den Wehrdienst verweigert und Zivildienst absolviert. Das war sicher gut. Aber es muss auch eine effektive Polizei und auch ein effektives Militär geben. Man kann sich nicht alles gefallen lassen. Aggressoren müssen gestoppt werden können.

Aber ich glaube, dass nicht – oder jedenfalls nicht nur die Gewalterfahrung Paulus zu Besinnung gebracht hat. Die vielleicht auch: Der Blitz und die Blindheit. Aber mir scheint, dass viel mehr die traurig-vorwurfsvolle Frage bewirkt hat und die Zusage, dass Gott einen Plan mit Paulus hat.

Letzten Sonntag haben wir von Gottes Gnade gepredigt.

Im Grunde habe ich das heute auch. So wie Gott mit Paulus gnädig war und einen Plan für ihn hatte, so hat er auch mit uns einen Plan und ist gnädig mit uns. Auch wir sind nicht perfekt. Wir verfolgen zwar nicht andere Menschen, jedenfalls nicht so, wie Paulus es getan hat. Aber wenn uns etwas quer kommt, dann können auch wir hin und wieder ganz schön ekelig sein.

Und dann wäre es gut, wenn wir Jesu Stimme hören können: „Warum tust Du mir das an? Warum bist Du gerade so ekelig?“

Manchmal hören wir diese Stimme nicht. Das liegt auch daran, dass Gott nicht in jedem Fall mit Blindheit straft. War es eine Strafe, das Paulus für drei Tage krank war? Oder war es ein Liebesbeweis, der ihm half, zur Vernunft zu kommen?

Manch einer von uns muss tatsächlich ins Krankenhaus kommen, braucht eine erzwungene Auszeit, um mit seinem ganzen Leben vernünftig zu werden.

Manchmal ist es Gottes Strafe, dass wir eben nicht so radikal gebremst werden.

Dass es uns nicht wie Schuppen von den Augen fällt.
Dass wir in unserer Wut gefangen bleiben.

Aber die Zusage bleibt und gilt auch uns: Gott verheißt uns seinen Geist. Gott ist bei uns mit seinem Geist. Wir dürfen leben aus Gottes Geist. Halleluja! Amen!

Gottes Gericht?

15.11.2015 – 10:00 Uhr
Gastpredigt Heilig-Geist-Kirche, Bergisch Gladbach
Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr – Mt 25,31-46

Gedanken zum Gleichnis vom Großen Weltgericht nach Mt 25
unter dem Eindruck des Terrors in Paris

Wochenspruch:
Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi.
2 Korinther 5,10

Eingangslied
Ich sing dir mein Lied, in ihm klingt mein Leben

Psalm 50 (EG 726)

Sündenbekenntnis
Guter Gott, wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi.
Was war gut in unserem Leben? Was haben wir richtig gemacht?
Wo haben wir anderen Menschen geschadet – oder auch uns selbst?
Du weißt, wie es in uns aussieht.
Du kennst unsere guten und unsere schlechten Seiten.
Hilf uns, dass wir Dir und Deiner Gnade vertrauen – gerade auch dann, wenn schreckliche Ereignisse uns bedrohen. Darum bitten wir um Dein Erbarmen.

Lied: EG 382
Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr

Evangelium: Matthäus 25, 31-46
(nach: Bibel in gerechter Sprache)

Lied: EG 16
Die Nacht ist vorgedrungen

Predigt

Liebe Gemeinde,
dass ich diese Predigt halte, steht schon etwas länger fest. Und man überlegt sich, was man sagen kann – und dann kommt es wieder einmal ganz anders.
Nicht ein Terroranschlag, sondern gleich sieben in Paris. Bomben, Maschinengewehre, Geiseln. Tote, Verletzte, Blut. Trauernde. Hassvolle Glaubenskrieger.
Immer neue Nachrichten, Festnahmen, Ermittlungen, Gerüchte. Der Terror kommt uns plötzlich so nah.

„Die Nacht ist vorgedrungen.“ Mir kam es vor allem auf die letzte Strophe an: „Als wollte [Gott] belohnen, so richtet er die Welt.“
Dass die Nacht zu Samstag aber so dunkel und so traurig sein würde, dass sie so viele Tränen bringen würde, so viel Angst, so viel Unsicherheit, damit habe ich nicht gerechnet.
Aber so ist unsere Welt. Auch wenn wir es nur zu gerne ausblenden. Krankheit, Leid, Krieg, Not, Tod – gehören zu unserem Leben. Und wenn wir uns gerade besonders sicher fühlen, trifft es uns besonders hart.
Dabei müsste uns der Glaube an den Gekreuzigten und Auferstandenen immer wieder ermahnen, eben das Kreuz und das Leid nicht zu vergessen.

Und damit sind wir direkt beim Kern des Gleichnisses vom Großen Weltgericht, das wir in der Evangelienlesung gehört haben und das heute unser Predigttext ist.

Stimmt der Vorwurf, den man manchmal hört, die Pfarrer sprächen zu wenig vom Gericht und davon, dass Menschen ewig verloren gehen können? Denn für viele steht genau das fest, auch wegen unseres Gleichnisses. Heißt es nicht in seinem letzten Vers:

„Und sie werden in die °endlose Strafe fortgehen, die Gerechten aber ins °ewige Leben.“

Was wollte Jesus mit diesem Gleichnis sagen?

Ist es eine Beschreibung dessen, was wir das Weltgericht nennen?

Alle Völker versammelt, die Menschen in großen Gruppen in einer riesigen Ebene, und dann werden sie aufgeteilt wie die Schafe und die Böcke im Frühjahr.

Hintergrund dieses Bildes aus der Viehzucht ist die Erkenntnis, dass die Männchen vor allem nutzlose Esser sind; man braucht in der Herde nur wenige, um Nachwuchs zu erzeugen. Die Männchen gebären keine Nachwuchs, sie geben keine Milch, und wenn sie jung geschlachtet werden, sind sie besonders lecker. Also kommen sie im Frühjahr unter das Messer – die Weibchen, die Schafe, sie dürfen weiter leben.

Und diesem Bild entsprechend werden die Menschen aller Völker eingeteilt.

Die Männer hier können beruhigt sein. Der große Weltenrichter wird nicht nach dem Geschlecht unterscheiden. Aber wonach denn?

Weder die auf der einen Seite noch die auf der anderen Seite können sich einen Reim darauf machen.

Sie haben doch alle versucht, ein gottgefälliges Leben zu führen. Sie haben doch alle versucht, das Beste daraus zu machen. So stehen sie zusammen und warten ab, was der Richter sagen wird. Zum Glück sind sie nicht ganz allein in jeweils ihrer Gruppe. Noch haben sie kein besonders schlechtes Gewissen. Alle sind gespannt, was gleich passieren wird.

Es sind – in diesem Bild – riesige Menschenmassen. Und dann wendet sich diese königliche Person der Gruppe zu seiner Rechten zu:

„Ich war hungrig, ihr gabt mir zu essen; ich war durstig, ihr gabt mir Wasser; ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen. Ich war nackt, ihr habt mich gekleidet; ich war krank, ihr habt mich gepflegt; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.“

Große Verblüffung: „Sorry, aber wann haben wir das alles für dich getan?“ Sie können sich keinen Reim darauf machen.
Und auch die anderen nicht: Wann soll das bitte gewesen sein, als wir so heftig versagt haben sollen?

Große Ratlosigkeit auf allen Seiten.

Und dann die Auflösung:

„Was ihr für eine oder einen von diesen Geringsten getan oder nicht getan habt, habt ihr auch für mich getan oder nicht getan.“

Soweit dieses Gleichnis. Sola scriptura, so steht es in der Bibel. Jetzt ist doch alles klar.-  Ist es wirklich so einfach?

Es wäre ganz einfach, wenn wir in unserem Leben nur wenigen Menschen begegnen würden, die alt oder krank oder arm sind. Und wenn wir ihnen dann etwas Gutes getan hätten, kämen wir auf die richtige Seite. Und wenn wir ihnen nicht Gutes getan hätten, dann kämen wir auf die zur Strafe bestimmten Seite.

Aber wir sind nicht nur wenigen Menschen begegnet: Tagtäglich begegnen wir vielen Menschen. Tagtäglich sind viele Menschen im Gefängnis, viele im Krankenhaus. Gerade jetzt kommen viele Flüchtlinge zu uns und es braucht viele Menschen, die ihnen helfen, und es ist gut, dass sich so viele Menschen finden.

Gerade dieses Gleichnis kann einen ungeheuren Stress erzeugen:

Habe ich schon genug getan? Muss ich nicht noch viel mehr tun? Und wenn ich nicht noch mehr tue, mich nicht noch mehr aufreibe, riskiere ich dann meinen Platz im Himmel?

Es gibt viele Ehrenamtliche, die überhören sämtliche Warnsignale ihres Körpers und ihrer Psyche und verausgaben sich in ihren Ehrenämtern bis zum Zusammenbruch. Irgendjemand muss es doch tun, heißt es dann. Und wenn man nur einen Hilfebedürftigen übersehen hat, kommt man auf die verkehrte Seite, und dann kommt die Verdammnis?

Hat Jesus das wirklich so gemeint?

An dieser Stelle erst einmal ein herzliches Dankeschön an alle die vielen Ehrenamtlichen, die sich hier in der Kirche oder an einer anderen Stelle engagieren. Das muss einmal gesagt werden.

Und zugleich muss gesagt werden: Achten Sie gut auf sich. Achten Sie auf Ihre Grenzen. Wenn Sie wieder einmal eine neue Aufgabe übernehmen, überlegen Sie bitte, welche alte Aufgabe Sie dafür abgeben!
Das ist wichtig! Denn Sie sind nicht der liebe Gott, Sie können nicht die Welt retten, Sie haben wie jeder andere Mensch ihre Grenzen, und es ist gut, wenn Sie darauf achten. Jeder Mensch darf auch einmal sagen: Das schaffe ich nicht. Ich brauche Hilfe. Jetzt muss auch mal jemand anderes ran.

Und auch auf der anderen Seite: Gibt es das wirklich, dass jemand grundsätzlich an allen Menschen in Not vorbei gegangen ist, dass jemand niemals jemandem geholfen hat und immer nur an sich selber dachte?

Und so kommen wir nicht nur an unsere eigenen Grenzen, sondern auch an die Grenze dessen, was dieses Gleichnis aussagen kann und was es aussagen will.

Wenn wir es konsequent zu Ende denken, gibt es keinen von uns, der genug getan hätte. Es hätte immer noch etwas mehr getan werden können.

Wir würden feststellen: Wir haben alle versagt. Die Seite zur Rechten des Weltenrichters wäre leer. Die Seite der Hölle (oder wie immer wir es bezeichnen wollten), sie wäre übervoll.

Ist es wirklich das, was Jesus sagen wollte? Es gibt eine ganze Reihe anderer Stellen, die in dieselbe Verzweiflung führen – bis Jesus dann sagt: Nach Eurer menschlichen Logik unmöglich. Aber verlasst Euch auf Gott, der macht das für Euch: Bei Gott sind alle Dinge möglich!

Geht es bei diesem Gleichnis wirklich darum, wie wir uns das Gericht vorstellen sollen? Menschenmassen in langen Prozessionen, die sich auf einem riesigen Platz mit Milliarden von Menschen versammeln und aufgeteilt werden?

Und warum soll man dann bedürftige Menschen gut behandeln? Damit man selber in den Himmel kommt? Ulrich Bach erzählt die Geschichte eines Kranken, der sich für die gute Pflege bedankt. „Ach wissen _Sie, ich habe es für meinen Gott getan“, sagt die Pflegerin. „Schade, sagt der ehemalige Kranke, ich dachte, sie haben es für mich getan!“

Oder geht es möglicherweise um etwas ganz anderes?

Sicherlich haben sie aufgemerkt, als in der „Bibel in gerechter Sprache“ ganz am Anfang der Lesung vom „Menschen“ und nicht wie in der gewohnten Lutherübersetzung vom „Menschensohn“ die Rede war.

Menschensohn: Das klingt wie ein besonderer Titel, der nur zu Jesus gehört.

Aber ist daran nicht viel mehr wichtig, wie nahe uns Gott sein möchte? Wie sehr er für uns Mensch sein möchte? Wo er uns doch, wie es im ersten Schöpfungsbericht heißt, jede und jeden als sein Ebenbild erschaffen hat? „Seht in jedem Menschen das Ebenbild Gottes“, so könnte man die Aufforderung verstehen.

Denkt bei Gott nicht zuerst an die richtige Religion, an den korrekt gefeierten Gottesdienst, an die richtige Konfession… Denkt bei Gott daran, dass ihr ihm in jedem Menschen begegnen könnt. Nein, dass ihr ihm in jedem Menschen begegnet.

„Was ihr für eine oder einen von diesen Geringsten getan habt, habt ihr auch für mich getan“.

Das ist der eigentliche Clou dieses Gleichnisses. Ändert Eure Sichtweise. Behandelt nicht nur die mit Ehrfurcht, von denen ihr etwas erwartet, Vorgesetzte etwa oder Fürsprecher. Sondern behandelt auch jene Menschen so, die alt oder schwach oder unansehnlich sind.

Behandelt übrigens auch euch selber so! Nehmt Euch selber wichtig, denn auch ihr seid Gottes Ebenbilder.

Gerade sehr religiösen Menschen fällt das sehr schwer. Wie oft setzen religiöse Menschen ihre Religion an die wichtigste Stelle und richten damit verheerendes Unheil an?

Es sind nicht nur die Terroristen, die mit „Gott ist groß“ als Schlachtruf und der Kalaschnikow im Arm grausames Unheil anrichten. Es sind auch jene Menschen, die in den Religionen etwas Trennendes sehen und Gott eben in einem Andersgläubigen nicht erkennen wollen.

Sie können die schönsten Gottesdienste feiern und die innigsten Gebete formulieren – aber statt aus ihrem Glauben heraus in jedem Gesicht Gott zu suchen, teilen sie die Welt in Gläubige und Ungläubige, sehen sich selbst selbstverständlich bei den Gläubigen und nur die anderen kommen halt nicht in den Himmel.

Stopp, sagt Jesus, so macht Ihr alles kaputt.
Es geht nicht um ein Szenario mit Milliarden von Menschen, die in zwei Gruppen eingeteilt werden: Es geht darum, dass Ihr jedem, wirklich jedem Menschen seine Menschenwürde zubilligt. Jedem Menschen.

Und dann wird es wieder spannend.

Wenn es um die vielen Toten in Paris geht: Denen sprechen wir diese Menschenwürde zu.

Aber was ist mit den vielen anderen Menschen, deren Menschenwürde uns wenig bis gar nicht interessiert haben? Die irgendwo in der Welt unsere Klamotten im Akkord zusammen nähen, damit wir sie hier preiswert kaufen können? Die unter fürchterlichen Bedingungen für uns die “Seltenen Erden” aus dem Boden kratzen, damit unsere Handys funktionieren? Denen das Land weggenommen wird, damit dort Palmölplantagen angelegt werden können? Denen man an der Afrikaküste die Fische weggefischt und sie so arbeitslos gemacht hat und deren Kunden man in den Hunger trieb? – Bis sie sich nun aufmachten über das Mittelmeer, um auch etwas von jenem Wohlstand abzubekommen, den sie für uns erarbeitet haben.

Wenn die Saudis einem klammen deutschen Industriekonzern mit ihren Öldollars helfen, vergessen wir nur zu gerne, wie sehr sie an anderer Stelle die Menschenwürde mit Füßen treten.

Es gibt so viele Gelegenheiten, an denen uns auf den ersten Blick nicht klar ist, wessen Menschenwürde wir ignorieren. Viele dieser Menschen kommen als Flüchtlinge zu uns. Und manche dieser Menschen, deren Menschenwürde wir ignoriert haben, kommen als Terroristen wieder zu uns.

Manchmal ist es zu schnell, wenn wir anfangen, die Welt in Gute und Böse, in Schafe und Böcke einzuteilen, in Erwählte und in Verdammte.

Macht es wie Gott, sagt Jesus, und teilt die Menschen nur in eine einzige Gruppe ein: In Gottes Ebenbilder, die jede und jede und jeder eine unveräußerliche Menschenwürde haben. Und bei denen es sich rächt, wenn ihr diese Menschenwürde zu lange mit Füßen tretet. Dann werden Menschen stark, die die Menschenwürde viel grausamer mit Füßen treten können. Und die Euch verleiten, es ihnen nachzumachen. Die Euch verleiten, im Kampf für die Menschenwürde genau diese Menschenwürde mit Füßen zu treten.
Die Euch verleiten, das Gericht selber in Hand zu nehmen, statt in jedem Menschen Gott selber zu sehen…

Geht es also in unserem Lesungstext aus dem Matthäusevangelium wirklich ums Gericht? Oder geht es um eine Einstellungssache: Nämlich in jedem Menschen ein Ebenbild Gottes zu sehen? Übrigens auch in sich selbst?

Die Terroristen wollen vor allem unsere Angst schüren.

Aber Jesus ist kein Terrorist. Er möchte uns nicht Angst machen, sondern er möchte uns ermutigen. Ihr seid Gottes Ebenbilder, vergesst das nicht. Ihr selber und Eure Gegenüber. Wenn Ihr das nicht vergesst, kommt Euch der Himmel ganz nahe. Trotz des Terrors. Trotz Eurer Begrenztheit.

Gott will Euer Bestes. Vertraut ihm. Dann wird das Gericht kein Thema für Euch sein. Und ihr werdet immer mehr versuchen, so zu leben, dass ihr damit anderen nicht die Würde nehmt. Lasst Euch auf seine Liebe ein! Es ist jetzt wichtiger denn je.

Lied EG 432
Gott gab uns Atem, damit wir leben

Fürbitten

Guter Gott, Du gibst uns Atem und Augen und die Erde.
Du gibst uns Ohren und Worte und Hände und Füße, damit wir die Erde verwandeln.
Du machst uns Mut:
Wir können neu ins Leben gehen.
Darum bitten wir Dich, gerade nach Tagen wie gestern und vorgestern.
Hilf uns, dass wir nicht unbarmherzig werden sondern für Deine Barmherzigkeit einstehen.
Hilf uns, dass wir gnädig mit uns sind, wenn wir unsere Wut und Angst herausschreien wollen. Wir sind auch nur Menschen.
Hilf uns, dass wir die Menschen sehen lernen, die für uns arbeiten, überall auf der Welt. Für Erdöl und Palmöl, für die seltenen Erden, mit denen unser Handy funktioniert. Sie arbeiten für uns. Haben wir im Blick, dass es ihnen dabei gut geht?
Hilf uns, dass wir und unsere Politiker das Geld gut einsetzen. Für den Wert eines einzigen Panzers könnte man ein ganzes Krankenhaus bauen. Warum bauen wir so wenig Krankenhäuser und so viele Panzer in der Welt? Wie viele unschuldige Menschen sterben, weil Krankenhäuser fehlen und Panzer zerstören, was Menschen lieben?
Hilf uns, die drei Finger zu sehen, die auf uns zurück weisen, wenn wir auf die Terroristen zeigen.
Vielleicht wird es dann ein wenig mehr Frieden geben in der Welt.
Und darum bitten wir. Um Frieden. Für die Menschen in Paris, in Frankreich, hier bei uns – überall auf der Welt.

Vaterunser

Segen