Zum Freispruch von Olaf Latzel

Wichtiger als der Glaube ist die Liebe!

Wichtiger als der Glaube ist die Liebe

Heute werde ich anlässlich der Hochzeit zweier mir sehr wichtiger Menschen in der Kirche 1. Kor 13 lesen.
Die Verse gipfeln in der Behauptung, wie wichtig Glaube, Hoffnung und Liebe seien.

Olaf Latzel sollte nach seinem Freispruch eines wissen: Wenn Glaube und Liebe in Konkurrenz geraten, hat die Liebe für Paulus den Vorrang. „Doch die Liebe ist das Größte und Wichtigste unter ihnen.“

Keine Bibelstelle, keine „Schöpfungsordnung“, überhaupt nichts seither rechtfertigt, sich derart abfällig über Menschen zu äußern, die nicht heterosexuell lieben (oder die auch auf eine andere Weise glauben), wie er – Latzel – es getan hat.

Eigentlich gehört 1. Kor 13 gar nicht auf eine Hochzeit. Sondern das Kapitel sollte auf jeder Ordination oder jeder Priester- und Bischofsweihe oder Einführung in ein kirchliches Leitungsamt gelesen werden. Wenn also Menschen zu „Glaubensfuntionären“ berufen werden.

Über den Glauben zu wachen, ist ein wichtiges Amt. Aber nicht der Glaube ist das Wichtigste, sondern die Liebe.

Und dann passt es auch wieder auf die Hochzeit. Und gerade auf diese doch auch glaubensverbindende Hochzeit.
Bernd Kehren

Wie kann ich mit meiner Trauer umgehen?

Wie kann ich mit meiner Trauer umgehen?

Eigentlich werde ich immer wieder ganz anders gefragt: „Wie kann ich von meiner Trauer los kommen?“

Trauer wird als schwer empfunden. Dann stört sie und man will sie los werden.

Aber geht das überhaupt?

An wie vielen Gräbern wird versprochen: „Wir werden dich niemals vergessen!“ Und das sagt man normalerweise auch nur bei Menschen, an die man sich gerne erinnert. Und wenn man sich an sie erinnert, dann spürt man den Verlust. Anfangs sehr heftig, später immer weniger heftig. Aber ganz vergessen wird man diesen Menschen sicher nie. Und man will es auch gar nicht.

Am schlimmsten sind dann die Tränen. Sie kommen so unvermittelt und man kann so wenig dagegen machen. Ein Kontrollverlust – und wer mag schon einen Kontrollverlust. So kann man es sehen.

Aber vielleicht kann es helfen, die Tränen auch aus einem ganz anderen Blickwinkel zu sehen.

Als mein Schwiegervater starb, hatte ich Angst, nicht weinen zu können. Als Pfarrer und eine Zeit lang als freier Grabredner habe ich gelernt, mit einer guten Atemtechnik die Trauer weitgehend im Griff zu haben. Ich bin dafür verantwortlich, dass Trauernde sicher durch die Trauerfeier geführt werden mit all den Gefühlen, die sie gerade haben. Wenn die Trauergemeinde auf der Beerdigung den Pfarrer trösten muss (bei allem Verständnis dafür, dass auch das einmal vorkommen kann), dann stimmt etwas nicht. Würde ich weinen können bei dieser Beerdigung eines lieben Menschen, an den ich auch nach Jahren noch gerne denke?

Es war eine wunderbare Beerdigung. Er hatte sich die Lieder noch selber heraus gesucht. Ich konnte Einzelheiten aus seinem Leben hören, die ich bis dahin noch gar nicht kannte. Und ich habe jede meiner Tränen genossen. Denn es waren Tränen für den besten Schwiegervater der Welt.

Der Tod konnte manches, und er konnte mir insbesondere diesen Schwiegervater nehmen. Aber er konnte mir nicht all die vielen Erinnerungen und die Zuneigung nehmen. Und genau das drücken doch meine Tränen aus: Erinnerung und Zuneigung.

Die Trauer hört erst dann auf, wenn auch die Erinnerung aufhört. Will ich das? Ganz sicher nicht!

 

Unser Gehirn ist ein ganz phantastisches Organ. Was man besonders gerne macht, wird durch besonders viele Nervenverbindungen (Synapsen) belohnt. An wen man besonders viele Erinnerungen hat und für den man viele Rituale und Gewohnheiten hat, für den gibt es – vereinfacht ausgedrückt – auch besonders viele Synapsen.

Und jetzt stirbt dieser Mensch, und all die vielen Synapsen laufen sozusagen erst einmal ins Leere. Man spürt die Lücke: Man ist traurig.

Mit jedem neuen Tag, mit allem, was wir nun tun, kommen neue Synapsen und neue Erinnerungen hinzu. Die alte Traurigkeit wird immer mehr relativiert. Neue Gewohnheiten und neue Rituale entstehen. Und das ist gut so.

Aber auf die Erinnerungen möchte ich nicht verzichten. Sie sind das, was bleibt. Und jede Träne ist für mich nicht mehr ein Kontrollverlust, sondern ein Zeichen dafür, dass mir der Tod die Erinnerung nicht nehmen kann.

Fritz Roth, der ehemalige Bestatter aus Bergisch-Gladbach, sagte immer: „Trauer ist Liebe!“ Der Tod konnte mir diesen Menschen nehmen, aber er kann mir die Liebe nicht nehmen. Das will ich nicht und das gönne ich ihm auch nicht.

Immer wieder mache ich im Gespräch die Erfahrung, dass schon allein dieser Perspektivwechsel bei der Trauer helfen kann. Man muss nicht mehr Angst vor der Trauer haben, sondern man kann anfangen, sie in gewisser Weise zu „genießen“. Denn jede einzelne Träne ist dann für einen Menschen, der einem viel bedeutet hat und noch immer viel bedeutet und an den man sich gerne erinnert.

Und genau das wünsche ich Dir:

Ein gutes Verhältnis zu Deiner Trauer und zu Deinen Tränen

Bernd Kehren

Theologie als Spielball des Zeitgeistes?

Warum tue ich mir eigentlich immer noch einen Text mit dem „Zeitgeist-Vorwurf“ in der Überschrift an?

Diesmal geht es um einen Artikel in den Mitteldeutschen Kirchenzeitungen. Anfang Dezember wurde dazu Professor Schnelle, „einer der renommiertesten Theologieprofessoren Deutschlands“ interviewt.

„Zeitgeist“ ist und bleibt ein Kampfbegriff, effektiv und doch inhaltsleer.

Das Evangelium ist und bleibt auf die jeweilige Gegenwart bezogen. Unser Gott ist ein lebendiger Gott. Solange das so ist, hat sich Kirche mit der Gegenwart und der Vergangenheit kritisch auseinander zu setzen.

Typisch für die „Zeitgeist-Verurteiler“ ist die Weigerung, die Opfer der Kirchengeschichte anzuerkennen. Da bleibt dann keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, was den vielen Geschiedenen seitens der Kirche an Ausgrenzung, Hähme und Verunglimpfung angetan wurde. Da rühmt man sich zwar seiner historisch-kritschen Arbeit, lässt aber dennoch unberücksichtigt, wie sich eine frauenfeindliche Männerschar gegenüber Jesus zusammen gerottet hat, um von ihm das OK zu bekommen, sich lästig gewordener Ehefrauen zu entledigen.

Ist wirklich noch nie jemandem aufgefallen, wie a) biblizistisch und b) verfälschend Jesus die Bibel zitiert?

Im Schöpfungsbericht heißt es, „Gott schuf den Menschen zu seinem Ebenbild, männlich wie weiblich“. Es steht dort nicht, „Gott schuf den Menschen als Mann und Frau“.

Dennoch habe ich Respekt davor, wie geschickt Jesus seinen frauenfeindlichen Gesprächspartnern den Wind aus den Segeln nimmt.
Keinen Respekt habe ich vor Theologen, die a) dies nicht als einen zwar geschickten aber doch sachlich fragwürdigen Schachzug wahrnehmen und b) daraus ein ethisch fragwürdiges Gesetz aufstellen.

War Jesus pauschal gegen die Ehescheidung? Oder war er nicht vielleicht doch „nur“ gegen eine derart unsoziale Scheidung zulasten der Frauen?

Da ist es mir doch etwas zu platt, wie „einer der renommiertesten Theologen Deutschlands“ argumentiert.

Stichwort „Gericht“: Diesen Vorwurf kann ich schon gar nicht mehr hören. In der Regel läuft es doch so: Das Gericht soll immer den anderen gepredigt werden. Traue ich mich dann in solchen Diskussionen, den Vorwurf zurück zu geben und nachzuweisen, dass die Betreffenden doch selber auch vom Gericht betroffen und angesprochen sind, dann wollen sie davon nichts mehr wissen.
Dann werden sie sogar meist pampig, was mir denn überhaupt einfalle, und bei ihnen sei doch alles in Ordnung. Sorry, dieser Vorwurf ist zum K*tzen.

Als wären nicht viele der „grünen“ Bibelinterpretationen beste prophetische Gerichtspredigten gewesen, die einen klaren Spiegel vorgehalten haben, wie es mit Gott und der Erde weiter geht, wenn die Menschen das Verhalten nicht ändern. „Gott lässt sich nicht spotten.“

Die „Mehrheitsmeinung“ ist mir ziemlich egal. Wenn es danach ginge, würde ich AfD-like gegen Flüchtlinge hetzen und Obergrenzen fordern. Im Gegenteil, ich finde es wichtig, mich für Minderheiten einzusetzen. Ich finde es übrigens auch wichtig zu sagen, dass mir nicht immer gefällt, wie oberflächlich mit AfD-Wählern umgegangen wird. Die werden mir viel zu schnell in Nazi-Schubladen gesteckt, statt mal zu fragen, wie die zu ihrer Auffassung kommen. Das ist noch einmal etwas ganz anderes, als mit Recht und Abscheu festzustellen, wie verlogen die AfD-Spitzen mit der Wahrheit um gehen. Das ist nicht „postfaktisch“, sondern „verlogen-faktisch“. Die da oben arbeiten zwar auch mit „Gefühlen“, vor allem aber lügen sie sich die Realität auf eine penetranten Weise zurecht und lassen davon auch nicht ab, wenn man ihnen ihre Argumentation ausdrücklich widerlegen konnte. Sie wiederholen die verdrehten Wahrheiten so lange, bis sie (zumindest für ihre immer zahlreicheren Anhängerinnen und Angehänger) zum Allgemeingut geworden sind.

Worin der „renommierte Theologe“ selber Teil des theologischen Zeitgeistes ist: Er glaubt immer noch, Kriterien aufstellen zu können, welche Bibelstellen man dem historischen Jesus zusprechen kann und welche nicht. „Speisung der 5000“: eher nein, „Heilung der Schwiegermutter des Petrus“: eher ja. Bisher ist es doch so gewesen, dass bei diesem Verfahren immer nur das herausgekommen ist, was man als Voaussetzungen reingesteckt hatte.

Da war Bultmann übrigens durchaus weiter: Er hat den Mythos nicht eliminieren wollen, sondern ihm ging es darum, ihn zu interpretieren. (Wobei ich da gerne ganz eigene Auffassungen habe, wie der Mythos heute angemessen interpretiert werden sollte.) Sorry, aber dass ein renommierter Professor diesen beliebten Vorwurf Bultmann gegenüber wiederholt, macht ihn auch nicht wahrer.

Genau das aber ist das Problem: Die Theologie glaubt immer noch, mit ihrem historisch-kritischen Instrumentarium entscheiden zu können, was in den biblischen Worten der Menschen nun Wort Gottes ist und was nicht. Und wenn etwas „Wort Gottes“ ist, dann kann man seine Verantwortung abgeben, denn das „Wort Gottes“ wird ja wohl Recht haben.

Demgegenüber vertrete ich die Auffassung, dass mir kein einziges Bibelwort die Verantworung für mein Handeln abnimmt. Und mag ich mir noch so sicher sein, dass ein Bibelwort als Wort Gottes mein Handeln legitimiert, so kann es ausgerechnet in dieser Situation genau das verkehrte Handeln gewesen sein.

Ist etwa Abraham Vorbild im Glauben, weil er das Messer gegen seinen Sohn Isaak erhoben hat – oder weil er das Messer im entscheidenden Moment hat fallen lassen?

Ist diese Geschichte, die Aufforderung an Väter, sich so auf Gott zu verlassen, dass sie auch heute noch die Hand gegen ihre Söhne erheben würden, oder ist es die Aufforderung, dass man sich als Vater einer solchen Aufforderung nur von Anfang an widersetzen kann und widersetzen muss (das Szenario, in dem eine Art finaler Rettungsschuss gegen den eigenen gewalttätigen Sohn nötig werden könnte, einmal unberücksichtigt gelassen)?

Warum eiert dieser renommierte Professor beim Thema „Homosexualität“ so rum? Da habe ich in meinem Theologiestudium meine Ethik- und NT- und AT-Professoren (Frauen waren da damals in diesen Seminaren und Vorlesungen leider nicht dabei) ganz anders wahrgenommen: Nah an den Menschen und nah und begründet am Bibeltext, und so dass ich damit durchaus auch in der Diskussion in der Gemeinde bestehen konnte.

Wenn zu mir jemand mit einer gescheiterten Ehe in die Seelsorge kommt, dann hat er sein Gericht im Grunde schon hinter sich. Was soll ich da noch auf ihn theologisch einprügeln?
Und überhaupt: Wem gegenüber predigte Jesus das Gericht? Und wem gegenüber predigte er es ausdrücklich nicht? Täuscht mich meine Beobachtung, dass es vor allem Theologen waren, denen gegenüber er das Gericht predigte? Und Menschen, die sich in ihrem unsozialen und frommen Lebenswandel so sehr eingerichtet hatten, dass sie gar nicht mehr wahrnahmen, wem sie die qua Gottesebenbildlichkeit zugesprochene Menschenwürde vorenthielten?

Den Menschen gegenüber, die ohnehin in ihrem Leben gescheitert waren, war Jesus zugewandt und präsentierte ihnen den Gott der Liebe.

Denen, die seine zugewandte Nächstenliebe als Anbiederung an den Zeitgeist und als Gotteslästerung diffamierten, denen präsentierte er das Gericht. Ein Gericht, das ihn selbst ans Kreuz und zu den Worten „Vater vergibt ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ führte.

Wieder einmal ist die Hoffnung getrogen worden, von einem „Zeitgeist-Vorwurf-Artikel“ könnte man etwas Positives erwarten.
Man vertrödelt mit dieser Erwartung nur seine Zeit.
Ich hoffe, beim nächsten Mal kann ich der Versuchung widerstehen.

Frohe Weihnachten!

Die 150-Prozentigen sind die Schlimmsten

14. August 2016 – 10:00 Uhr
Gottesdienste im Dietrich Bonhoeffer-Haus, Odendorf

Apostelgeschichte 9, 1-20
Eine Predigt über einen Mann, den Gott nicht mit Wattebäuschchen von seinem Wahnsinn abbrachte.

 

Liebe Gemeinde,

beim Predigttext wird es heute um die Bekehrung des Saulus zum Paulus gehen.

Man kann über diese Geschichte vom Paulus her nachdenken: Was ist da passiert, dass er sich bekehrt hat. Und man kann vergleichen, ob und wie wir uns bekehrt haben.

Ich möchte heute einen anderen Weg gehen und nach den Religionen fragen: Wie man sie aussucht, wann man sie wechselt, und schließlich, ob Paulus seine Religion überhaupt gewechselt hat und ob da nicht etwas ganz anderes passiert ist.

 

Die 150-Prozentigen sind oft die Schlimmsten

Übrigens in allen Religionen. Und auch bei den Atheisten. Daher zuerst die Frage: Was möchte Religion? Was möchten eigentlich alle Religionen?

Antwort:
Immer geht es der Religion darum, dass Menschen gut und friedlich miteinander leben können. Dass das Leben einen Sinn hat. Dass man in einer guten Gemeinschaft leben kann. Dass man von Liebe und nicht vom Hass geprägt ist. Dass man frei leben kann. Dass niemand im Stich gelassen wird.

Das Christentum und das Judentum sind solche Religionen. Sicher nicht die einzigen. Aber wir sind nun mal Christen, da können wir uns gerne auch darauf beschränken.

Müssen wir unsere Religionen mit anderen vergleichen? Das kann durchaus sinnvoll sein. Und dabei fallen mir hin und wieder Dinge auf, bei denen ich mich freue, Christ zu sein. An diesen Stellen empfinde ich es so, dass es mir im Christentum doch besser geht als in anderen Religionen. Und doch möchte ich vorsichtig sein und mir nicht zu viel drauf einbilden. Zu viel Schaden haben Menschen angerichtet, die ihre eigene Religion als die beste und höchste und schönste angesehen haben.

Manch einer tut so, als sei seine Religion die beste und größte und schönste. Eine ganze Zeit lang hat man sich da von einer fehlgeleiteten Vorstellung von Evolution leiten lassen. Man hat diesen Gedanken von Evolution auf die Religionen übertragen – und schwups galt das Christentum im Rahmen der weltweiten  Religionsgeschichte als die Krone der Religionen. Und auf die anderen wurde hinabgeblickt. Das Judentum – eine Gesetzesreligion. Davor – und zum Teil wurde auch das Judentum hinzu gezählt – gab es die primitiven Stammesreligionen. Und der Islam: Der ist zwar nach dem Christentum entstanden, aber die Höhe und Größe des Christentums habe er niemals erreicht. Die Nationalsozialisten versuchten, noch eins drauf zu setzen, das Christentum von allen niederen Bestandteilen zu reinigen und auf dieser evolutionären Entwicklung die allerhöchste Krone zu erobern.

Auf die anderen kann man dann herabblicken. Den anderen kann man dann den Wert absprechen. Sie sind doch selber schuld, wenn sie auf ihrer primitiven Stufe stehen bleiben wollen. Sie sind minderwertig. Und es schadet nichts, wenn man sie ausmerzt. Im Gegenteil. Von solchen Elementen gereinigt, kann die eigene Religion einen viel größeren und edleren Glanz entwickeln.

Aber warum sollte man eine Religion entwickeln, wo es doch so viel Auswahl gibt?

Manche der Religiösen probieren die Religionen gewissermaßen der Reihe nach durch, suchen nach der perfekten Religion, und lassen voller Verachtung hinter sich, was den hohen Ansprüchen nicht genügt. Und mache davon setzen noch eines drauf. Ihnen genügt es nicht, die beste Religion gefunden zu haben. Sie müssen auch die anderen, die mit den weniger guten Religionen aktiv bekämpfen. Wer sich dieser hohen Religion nicht anschließt, hat plötzlich sein Recht auf Leben verwirkt. Man muss ihn zwar nicht umbringen, aber wenn man es doch tut, ist es auch nicht schade um ihn. Auf jeden Fall kann er dann der eigenen Religion nicht mehr im Wege stehen. Selbst unser Reformator Martin Luther war leider nicht ganz frei von solchen Gedanken.

Und Paulus war es auch nicht. Die Religion soll Frieden bringen. Aber wehe, jemand hat eine andere Religion.

Hören wir auf Apostelgeschichte, Kapitel 9:

In Anlehnung an die Bibel in gerechter Sprache, Apg 9,1-20

1 Saulus schnaubte immer noch Drohung und Mord gegen die Schülerinnen und Schüler des Herrn. Er trat an den Hohenpriester heran 2 und erbat sich von ihm Briefe an die Synagogen in Damaskus: Wenn er dort welche finde, die sich an diese Richtung hielten, wolle er sie, Männer wie Frauen, gefesselt nach Jerusalem bringen. 3 Als er auf der Reise nahe an Damaskus herankam, umstrahlte ihn plötzlich Licht vom Himmel her. 4 Er stürzte zu Boden und hörte, wie eine Stimme zu ihm sagte: »Saul, Saul, was verfolgst du mich?« 5 Er sagte: »Wer bist du, Herr?« Der antwortete: »Ich bin Jesus, den du verfolgst. 6 Jetzt aber: Steh auf und geh in die Stadt! Dort wird dir gesagt werden, was du tun sollst.« 7 Die Männer, die mit ihm reisten, standen sprachlos da; sie hörten zwar die Stimme, sahen aber niemanden. 8 Saulus erhob sich vom Boden. Obwohl er die Augen offen hatte, konnte er nichts sehen. So führte man ihn an der Hand nach Damaskus hinein. 9 Drei Tage lang konnte er nicht sehen; und er aß nicht und trank nicht.

10 In Damaskus gab es einen Jünger namens Hananias. Zu ihm sagte der Herr in einer Vision: »Hananias!« Der sagte: »Da bin ich, Herr,« 11 Darauf der Herr zu ihm: »Auf, geh zur >Geraden Gasse< und suche im Haus des Judas einen Saulus aus Tarsus auf! Er wird dir auffallen, weil er betet. 12 Und er hat in einer Vision einen Mann namens Hananias gesehen, wie er hereinkam und ihm die Hände auflegte, damit er wieder sehe.« 13 Hananias antwortete: »Herr, ich habe von vielen über diesen Mann gehört, was alles er deinen Heiligen in Jerusalem Böses angetan hat. 14 Auch hier hat er Vollmacht von den Oberpriestern, alle festzunehmen, die deinen Namen anrufen.« 15 Der Herr sagte zu ihm: »Geh nur hin! Denn diesen habe ich mir als Werkzeug ausgewählt, um meinen Namen vor Völker zu tragen, vor Königinnen und Könige und vor das Volk Israel. 16 Ich will ihm nämlich zeigen, wie viel er für meinen Namen leiden muss.« 17Hananias ging weg, ging in das Haus, legte ihm die Hände auf und sagte: »Saul, lieber Bruder, der Herr hat mich geschickt, Jesus, der dir auf dem Weg, den du kamst, erschienen ist. Du sollst wieder sehen und von heiliger Geistkraft erfüllt werden.« 18 Sogleich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und er konnte wieder sehen. Er stand .auf und ließ sich taufen, 19 nahm Speise zu sich und kam wieder zu Kräften.

Er hielt sich einige Tage bei den Jüngerinnen und Jüngern in Damaskus auf 20 und verkündete .sogleich in den Synagogen, dass Jesus der Sohn Gottes sei.

 

Wir alle kennen diese Geschichte als die Bekehrung des Saulus zum Paulus.
Hinweisen möchte ich dabei, dass Paulus auch danach immer noch „Saulus“ genannt wird, und dass Paulus auch danach immer noch Jude blieb und in den Synagogen gepredigt hat.

Paulus hat sich nicht vom Judentum abgewandt und zum Christentum bekehrt! Einer solchen Vorstellung müssen wir ausdrücklich widersprechen.

Ich glaube, dass das, was da geschehen ist, gar nichts einer speziellen Religion zu tun hat. Es kann sich so in fast jeder Religion so ereignen.

In allen Religionen gibt es Menschen, die glauben, sie müssten die Sache Gottes in die eigenen Hände nehmen. Ihnen ist zwar einerseits klar, dass nur Gott allmächtig ist.
Trotzdem kommen diese Anhänger Gottes auf die Idee, dass sie selber nicht nur Anteil an dieser Unfehlbarkeit haben, sondern dass sie selber unfehlbar sind und das Recht haben, an Gottes Stelle handeln zu dürfen.
Sie haben mit ihrer Auffassung recht und die anderen Unrecht. Und wer Unrecht hat, kann auch verfolgt werden.

Paulus kam nicht damit zurecht, dass die Jesusanhänger anders glaubten, als er es tat.
Dabei ist das Judentum durchaus eine Religion der Diskussion. Im babylonischen Talmud werden ganz unterschiedliche Auslegungen überliefert, damit die Nachfahren sich aus den unterschiedlichen Auslegungen eine eigene Meinung bilden können.
Paulus wollte nicht, dass sich die Nachfahren eine eigene Meinung bilden. Die Meinung dieser Christusanhänger sollten zum Schweigen gebracht werden.

Kommt Ihnen dabei auch die gegenwärtige Entwicklung in der Türkei in den Sinn? Redaktionen werden geschlossen, Redakteure werden entlassen oder verhaftet. Die Opposition soll aus dem gesellschaftlichen Leben gedrängt werden. Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich. Angst und Misstrauen machen sich breit.

Ich muss aber auch an Menschen denken, die sich selbst „bibeltreu“ nennen und denen, die die Bibel anders auslegen als sie, die Bibeltreue absprechen. Da wird zwar meist niemand physisch verfolgt, aber man findet in den Äußerungen mancher dieser „Bibeltreuen“ ein Maß an Verachtung, das einen nur traurig stimmen kann. Und geht man in manches andere Land in der Welt, in der nicht nur das Christentum, sondern auch der Staat homophob geprägt ist, dann kann mit dieser Form Bibeltreue durchaus auch die Todesstrafe für Homosexuelle begründet werden.

Unsere Geschichte spielt also nicht nur in der Vergangenheit, sondern ist oft auch noch Teil unserer Gegenwart. Und es sind nicht nur die anderen Religionen, sondern es betrifft auch unsere eigene Religion.

Paulus damals hat es besonders schlimm getrieben. Aber Gott hat mit ihm noch eine Menge vor. Es trifft ihn wie ein Blitz. „Saul, Saul, warum verfolgst Du mich?“

Es kling ein wenig vorwurfsvoll. Aber noch viel mehr klingt es traurig. Als wolle Jesus sagen: „Was habe ich dir eigentlich getan? Ich bin doch Jude wie du! Ich glaube an den Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat. Ich glaube an den Gott, der jeden Menschen zu seinem Ebenbild erschaffen hat. Wir sind doch Ebenbilder! Gibt es wirklich einen Grund, so miteinander umzugehen? Saul, Saul, warum verfolgst du mich?“

Ist es diese Erfahrung, die wie ein Blitz bei Paulus einschlägt und ihn förmlich umhaut, so dass er nichts mehr sehen kann?

Oder ist es diese Frage, die ihn so infrage stellt, dass ihm die Augen für drei Tage versagen? Ich möchte nicht wissen, was einer der Psychiater oder Neurologen auf einer der Stationen dazu sagt, auf denen ich in Euskirchen Patienten seelsorglich betreue.

Aber es geht nicht darum, diese Erzählung psychologisch zu erklären. Es geht um die Beziehung zu Gott.

Paulus hatte sich gegen Gott gestellt. So wie damals Jona in Ninive. Wie Jona drei Tage im Bauch des Wals in Sicherheit gebracht wurde, so wurde Saulus in den Tagen seiner Blindheit für drei Tage gut betreut.

Und Gott sorgt für einen Neuanfang. Es fällt Hananias nicht leicht, zu Saulus zu gehen. Zu viel hatte Saulus den Jesus-Leuten angetan. Aber Hananias bleibt in der Liebe, die Jesus immer gepredigt hat. Die Liebe Gottes und die Liebe der Menschen spricht aus seinen Worten: „Jesus hat mich geschickt, und Du sollst von seinem Geist erfüllt sein!“

Jetzt weiß ich gar nicht, was Saulus mehr beeindruck hat: Die vorwurfsvoll-traurige Frage vor Damaskus – oder die Zusage von Gottes Geist durch Hananias.

„Es fällt ihm wie Schuppen von den Augen.“

Und wie selbstverständlich lässt er sich taufen, noch bevor er etwas isst, um wieder zu Kräften zu kommen. Und fast harmonisch klingt es, wie er sich bei den Jüngerinnen und Jüngern aufhält.
Und wie selbstverständlich geht er in die Synagoge und bekennt sich zu Jesus als dem Gottessohn.

Nein, Paulus hat nicht das Judentum verlassen. Paulus ist Jude geblieben.

Aber die Liebe hat ihn überwunden. Nicht seine Religion ist einer andere geworden, sondern er ist ein anderer geworden. Gottes Liebe, und die Liebe der Jünger haben ihn verändert.
„Warum verfolgst du mich?“
»Saul, lieber Bruder, der Herr hat mich geschickt, Jesus, der dir auf dem Weg, den du kamst, erschienen ist. Du sollst wieder sehen und von heiliger Geistkraft erfüllt werden.«

Was ist daran für uns wichtig?

Derzeit wird in der Türkei die Todesstrafe diskutiert und ich zweifle nicht daran, dass es Präsident Erdogan gelingen wird, sein Volk so zu manipulieren, dass sie tatsächlich eingeführt wird.

Wer die Todesstrafe einführt, rechnet nicht damit, dass aus Feinden Freunde werden. Wer die Todesstrafe einführt, spricht jemandem, der einen großen Fehler begangen hat, die Fähigkeit zu einem Neuanfang ab.

Paulus ist ein sehr gutes Beispiel für einen Neuanfang. Wer die Geschichte von der Bekehrung des Paulus ernst nimmt, kann nicht für die Todesstrafe sein. Die Bekehrung des Paulus setzt gegen die Todesstrafe die liebevolle Zuwendung, die aber ein unmissverständliches Stopp-Signal nicht ausschließt.
Viele Menschen lachen regelmäßig, wenn etwa Margot Käßmann im Angesicht von Terror und Gewalt davon sprechen, man müsse Terroristen mit Liebe begegnen.

Das Schlimme ist: Wie viele Christen lachen regelmäßig über den Vorschlag, selbst brutalen Gegnern mit Liebe zu begegnen!

An der Bekehrung des Paulus kann man sehen, dass Liebe und hartes Eingreifen keine Gegensätze sein müssen. Wenn man so will: Der liebe Gott hat bei der Bekehrung des Paulus nicht mit Wattebäuschchen geworfen. Paulus war wie vom Blitz gerührt, er war drei Tage lang schwerbehindert und konnte nichts essen und trinken.

Liebe schließt nicht aus, dass Menschen für eine begrenzte Zeit aus dem Verkehr gezogen werden. Bei Paulus waren es nur drei Tage, aber drei sehr intensive Tage im Dunkeln.

Wer Menschen in Liebe begegnet, muss sich nicht alles gefallen lassen.

Wer Menschen in Liebe begegnet, kann ihnen auch entgegen treten.
Aber nicht hasserfüllt, sondern voll Trauer und Liebe.

„Paulus, warum verfolgst du mich?“ Liebe und Trauer sind kein Grund, der Aggressivität eines Terroristen enge Grenzen zu setzen.

Wer Aggressivität mit Aggression begegnet, wird die Gewalt nur steigern.

Die Geschichte der Bekehrung des Paulus ist eines von vielen Beispielen dafür, dass Aggression durch Liebe überwunden werden kann.
Es blieben genug weitere Aggressoren. Im weiteren Fortgang wird Paulus fliehen müssen, weil er mit dem Tode bedroht wird.
Ich selber habe damals den Wehrdienst verweigert und Zivildienst absolviert. Das war sicher gut. Aber es muss auch eine effektive Polizei und auch ein effektives Militär geben. Man kann sich nicht alles gefallen lassen. Aggressoren müssen gestoppt werden können.

Aber ich glaube, dass nicht – oder jedenfalls nicht nur die Gewalterfahrung Paulus zu Besinnung gebracht hat. Die vielleicht auch: Der Blitz und die Blindheit. Aber mir scheint, dass viel mehr die traurig-vorwurfsvolle Frage bewirkt hat und die Zusage, dass Gott einen Plan mit Paulus hat.

Letzten Sonntag haben wir von Gottes Gnade gepredigt.

Im Grunde habe ich das heute auch. So wie Gott mit Paulus gnädig war und einen Plan für ihn hatte, so hat er auch mit uns einen Plan und ist gnädig mit uns. Auch wir sind nicht perfekt. Wir verfolgen zwar nicht andere Menschen, jedenfalls nicht so, wie Paulus es getan hat. Aber wenn uns etwas quer kommt, dann können auch wir hin und wieder ganz schön ekelig sein.

Und dann wäre es gut, wenn wir Jesu Stimme hören können: „Warum tust Du mir das an? Warum bist Du gerade so ekelig?“

Manchmal hören wir diese Stimme nicht. Das liegt auch daran, dass Gott nicht in jedem Fall mit Blindheit straft. War es eine Strafe, das Paulus für drei Tage krank war? Oder war es ein Liebesbeweis, der ihm half, zur Vernunft zu kommen?

Manch einer von uns muss tatsächlich ins Krankenhaus kommen, braucht eine erzwungene Auszeit, um mit seinem ganzen Leben vernünftig zu werden.

Manchmal ist es Gottes Strafe, dass wir eben nicht so radikal gebremst werden.

Dass es uns nicht wie Schuppen von den Augen fällt.
Dass wir in unserer Wut gefangen bleiben.

Aber die Zusage bleibt und gilt auch uns: Gott verheißt uns seinen Geist. Gott ist bei uns mit seinem Geist. Wir dürfen leben aus Gottes Geist. Halleluja! Amen!