Slenczka und das AT
Beitrag zu einer Diskussion in Berlin unter www.theologiestudierende.de
Eine Antwort an Christopher (28.04.2015)
Wer das AT in die Apokryphen verbannen will, verändert damit auch die Bibelausgaben: Übrig bleibt das NT, wie ja auch jetzt schon in vielen protestantischen Bibelausgaben aufgrund falsch verstandenem „ad fontes“ 300 Jahre biblischer Geschichte fehlen. Daran ändert wenig, dass immer mehr Ausgaben mit den Apokryphen erscheinen. Sollte Slenczka sich durchsetzen, wäre für Christen nur noch das NT „die Bibel“. Doch, es ist auch für Slenczka eine Frage der Wertigkeit: Viel wert, sehr viel wert, sogar so viel wert wie die atl. Apokryphen und viele andere fromme Literatur, aber eben nicht so viel wert wie das NT.
Was gehört in den Kanon?
M.E.: Das, was drin ist und die atl. Apokryphen, die Luther aufgrund eines Denkfehlers rausgeworfen hatte. Zum Denkfehler: Seit „333 – Issos Keilerei“ wurde Griechisch nun mal Amtssprache – darum sind auch biblische Schriften des AT auf Griechisch entstanden. Das Kriterium Luthers: AT kann nur Hebräisch/Aramäisch sein, war von außen hereingetragen und führte m.E. zu einer Fehlentscheidung. (Das dürften unsere kath. Kollegen besser verstanden haben.)
Zurück zu Slenczka: Wer zwingt uns heute, Kriterien dafür aufzustellen, was in den Kanon hineingehört und was nicht?
Die Theologiegeschichte zeigt, dass in diesen Fällen nicht die Sache entscheidet, sondern die Kriterien, die man heute aufstellt.
Das ist völlig willkürlich und führt zu absurden Ergebnissen.
Wer vorne als Kriterium „Universalität“ hineinsteckt, wird hinten im Ergebnis alles ausscheiden müssen, was (angeblich) nicht universal ist.
An dieser Stelle oute ich mich als einer, der die Bibel für inspiriert hält. So, wie sie ist. Mit den nicht vorhandenen Urschriften. Mit den Unterschieden in den Abschriften. Mit den textkritischen Herausforderungen. Auch mit den Übersetzungen.
Warum mache ich das?
Weil die von außen herangetragenen Kriterien nicht weiter helfen.
Zwei der ersten Kriterien, die an die Bibel herangetragen wurden, waren die der Fehlerfreiheit und Widerspruchsfreiheit.
Man behauptete, ein allmächtiger Gott könne keine Bibel mit Fehlern und Widersprüchen inspiriert haben.
Also musste man alle Fehler und Widersprüche unbarmherzig weg interpretieren. (Und so wurde etwa aus der Kugel, deren Durchmesser bereits die alten Griechen mithilfe des Schattens an einem hohen Turm und zeitgleich in einem tiefen Brunnen fast richtig bestimmt hatten, bei den Christen eine Scheibe.)
Als sich diese Position nicht mehr halten ließ, gab man nicht etwa die Forderung der Fehlerfreiheit und der Widerspruchsfreiheit in Bezug auf Gott auf, sondern verlagerte das Ganze auf den Entstehungsprozess: Gott kann nicht irren, wohl aber die Menschen, und die sind nun für die Fehler und Widersprüche verantwortlich.
Und nun versuchte man Kriterien zu finden, was wohl Gottes (fehlerfreies und widerspruchloses) Wort ist, und was die Menschen daran verbockt haben können.
Bultmann kam dabei auf die witzige Idee eine Differenzkriteriums: Was griechisch aussieht, muss Gemeindebildung sein, was hebräisch aussieht, gehört zum AT, und nur wo beides nicht passt, hat Jesus selbst was Neues und Göttliches gesagt. Was für ein Blödsinn!
Warum soll sich Jesus nicht im Rahmen seines jüdischen Glaubens und im Rahmen seiner hellenisierten Welt geäußert haben?!
Andere kamen auf die Idee, das Christentum unbedingt an die Spitze einer religiösen Entwicklung setzen zu müssen. Was nicht auf dem Gipfel dieser Entwicklung ankam, war minderwertig und konnte als „Stammesreligion“ fallen gelassen werden.
Auch die Idee, das AT komplett christologisch auszulegen, ist nicht wirklich sachgerecht. Da hat Slenczka sicherlich recht. Aber hat das AT nur dann für Christen einen Wert, wenn alles auf Christus bezogen ausgelegt wird? Diese Behauptung bzw. dieses Kriterium sollte unbedingt hinterfragt werden! Wieso muss das AT in der Kirche irgendwelchen Normen entsprechen? Wieso ist das AT weniger wert als das NT, wenn es zuvor und zunächst eine jüdische Urkunde war?
Theologen sollten unbedingt einige Semester Mathematik und damit Logik und Aussagenlogik studieren, damit sie ein Gefühl einerseits für die Vielfalt von konkreten und abstrakten Denkmöglichkeiten bekommen und damit sie in die Lage versetzt sind, willkürliche Aussagen auf ihre innere Logik hin abzuprüfen.
Hat überhaupt mal einer darüber nachgedacht, wie gotteslästerlich es letztlich ist, in der Theologie wissenschaftliche Kriterien dafür zu entwickeln, wie man Gotteswort und Menschenwort in der Bibel unterscheiden könne? Wir sollen in der Lage sein, Kriterien dafür zu entwickeln und diese auch noch sachgerecht anwenden zu können??! Wenn Menschen sein wollten wie Gott, ist dieser Schuss noch fast immer nach hinten los gegangen. Ein großer Teil der Theologen im Neuen Testament kam dabei zum Urteil, dass nach ihren Kriterien (nicht sie, sondern) Jesus Gott lästerte und organisierten seine Hinrichtung am Kreuz.
Was macht uns Theologen so sicher, dass wir das besser könnten als die damals, wenn wir anfangen, unsere Kriterien aufzustellen?
Hat sich nicht so manches dieser Kriterien in der Theologiegeschichte im Nachhinein als Hammerschlag auf die Nägel im Kreuz erwiesen?
Es gibt keinen einzigen logischen Grund, das AT in seiner Bedeutung für das Christentum auf den Rang von Apykryphen herabzustufen, nur weil es zuerst eine Urkunde für Juden war, oder weil das Judentum in seiner Entwicklung eine Stammesreligion war.
Man kann solche Kriterien aufstellen: ja; und man wird dann entsprechende Ergebnisse hervorbringen: Ja.
Aber diese Ergebnisse sagen vor allem etwas aus über diese Kriterien und die, die diese Kriterien aufgestellt haben.
Was ist das also für ein merkwürdiger „Selbstanspruch“ der Kirche?
Seit wann darf die Kirche „Selbstansprüche“ an die Bibel stellen?
Ist es nicht umgekehrt, dass die Bibel Ansprüche an die Kirche stellt?
Darum halte ich auch die Bibel für inspiriert.
Aber was will sie uns damit sagen, dass wir nicht ein Evangelium haben, sondern vier, die sich in manchen sehr wichtigen Details unvereinbar unterscheiden?
Warum sind so viele Dinge doppelt überliefert? Warum gibt es Fehler und Irrtümer?
Steckt da vielleicht eine Aussage dahinter gegen unseren (nicht nur religiösen) Perfektheitswahn?
Ein Schlüssel ist für mich nach wie vor 1. Kor 13,13: Gegen allen theologisch-gläubigen Machbarkeitswahn wird dort die Liebe über den Glauben gestellt.
Wir dürfen als Christen unterschiedlicher theologischer Meinung sein. Wir dürfen uns irren. Wir sollten auch nett mit Mitmenschen umgehen, von denen wir glauben, dass sie irren. (Ob das in der Auseinandersetzung hier immer eingehalten wird, sollte man hinterfragen.)
Und dann lautet die Frage heute eben nicht: Nach welchen Kriterien können wir eine Wertigkeit biblischer Schriften aufstellen? Nach welchen Kriterien sollten wir den Kanon neu justieren?
Sondern sie lautet: Was bedeutet es, dass die Bibel so ist, wie sie ist?
Wie gehen wir damit um, dass etwas zu Alten gesagt ist, und dass wir heute eine neue Interpretation versuchen?
Wie gehen wir damit um, dass wir uns immer wieder zwischen unterschiedlichen Sachverhalten entscheiden müssen?
An dieser Stelle halte ich Bultmann immer noch für unverzichtbar, der auf diese Entscheidungssituation aufmerksam gemacht hat.
Wir finden in der Bibel eine fast unerträgliche Exklusivität, die alles, was nicht der frommen Norm entspricht, ausgrenzt und zum Gräuel erklärt. Und wir finden in der Bibel eine grandiose Inklusivität, in der wir aufgefordert werden, die Grenzen dieser Gräuel zu überschreiten und die Feinde zu lieben.
Inwiefern ist dann die Bibel für uns „normativ“?
Dass wir jeden einzelnen Satz Wort für Wort umsetzen, wie es etwa Olaf Latzel mit seiner unsäglichen Gideon-Predigt meinte tun zu müssen (und dann faktisch doch gegen seine Behauptung eben nicht umsetzte, sondern mehrfach abschwächte)?
Oder indem wir uns auf diese Bibel einlassen, unsere Religiosität hinterfragen lassen, und dann eigene Entscheidungen treffen, die von Glaube und Hoffnung geprägt sind, am meisten aber von der Liebe?
Meiner Meinung nach ruft uns die Bibel in der Form, wie wir sie haben, immer wieder auf, eigene Entscheidungen zu treffen;
damit zu rechnen, dass diese Entscheidungen falsch sind;
damit zu rechnen, dass auch andere Meinungen legitim sind;
und dennoch eine eigene Position zu finden;
für die wir uns vor Gott verantworten müssen;
der uns einmal die Folgen und die Opfer unserer Entscheidungen aufzeigen wird.
Da gäbe es viel zu sagen. Da gibt es in der Bibel viel zu entdecken.
Das ist unsere Aufgabe. Aber es ist nicht die Aufgabe, Kriterien zur Bewertung der Bibel zu entwickeln. Sondern es erscheint mir als Aufgabe, die Kriterien zu finden, die die Bibel an uns stellt. Da ist genügend zu tun.