Patientenverfügung

Patientenverfügung

Bis vor kurzem war ich noch der Meinung, jeder sollte eine Patientenverfügung haben: Der mündige Patient überlegt sich rechtzeitig, wie der Arzt handeln soll. Zu oft hat man gehört oder vielleicht auch selbst erlebt, dass Ärzte den letzten Lebensfunken aus jemanden heraus-reanimiert haben, weil sie nicht damit fertig werden, dass auf ihrer Station auch einmal ein Patient stirbt. Und es klingt verlockend, dass der Arzt sich in jedem Falle an die Patientenverfügung halten muss.

Inzwischen bin ich vorsichtiger geworden. Wann ist man ein mündiger Patient? Reicht es, wenn man einen Erste-Hilfe-Kursus absolviert hat, oder muss man nicht doch mit einer Krankenschwester oder einem Krankenpfleger verheiratet sein? Sollte man gar Medizin studiert haben? Ich meine: Wofür studiert der Arzt oder die Ärztin denn eigentlich noch Medizin, wenn er oder sie in den schwierigen Fällen von seinem Patienten genau (oder auch nur recht schwammig) vorgeschrieben bekommt, was nun in genau diesem Falle zu geschehen hat, um diesem Patienten am besten gerecht zu werden? Woher will der “mündige Patient” lange Zeit vor dem befürchteten Ereignis wissen, welche Überlebenschancen er noch hat, welche Nebenwirkungen zu befürchten sind, nach wie langer Zeit der Bewusstlosigkeit oder sogar des Komas eine Besserung erwartet werden könnte?

Man muss es ganz klar sagen: Niemand kann das vorhersagen, und niemand ist in der Lage, auch nur annähernd genau eine Patientenverfügung zu verfassen, die vernünftigen Anforderungen entspricht. Eine solche Patientenverfügung müsste so dick sein wie der “Pschyrembel” (ein medizinisches Standard-Wörterbuch mit über 1800 Seiten). Darüber darf auch nicht hinweg täuschen, dass die Zahl der Vordrucke möglicher Patientenverfügungen die 200 überschritten hat.

Eine Patientenverfügung, die den Arzt in jedem Fall bindet, macht aus dem Arzt den Erfüllungsgehilfen des Todes: Er müsste lebenserhaltende Maßnahmen auch dann abstellen, wenn er  eine Wiederherstellung des Patienten erwarten müsste – und obwohl er den Patienten darüber nicht belehren konnte. Ich meine: Das kann und darf nicht sein.

Patientenverfügungen müssen dem Arzt einen Spielraum lassen, in dem er zusammen mit Vertrauenspersonen des Kranken nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden kann, wenn der Betreffende dazu selber nicht mehr in der Lage ist. Dazu sollten die betreffenden Menschen mit ihrem Arzt und ihren Vertrauenspersonen gesprochen haben. Wer eine Patientenverfügung ausfüllt, sollte sich möglichst konkrete Gedanken gemacht haben und diese in eigenen Worten beschreiben. Welche Krankheit habe ich vor Augen? Habe ich selber bei Bekannten Behandlungen erlebt, die ich als unerträglich belastend empfinde?

Wichtiger als eine Patientenverfügung ist in meinen Augen heute eine Vorsorgevollmacht, in der eine oder mehrere Vertrauenspersonen bevollmächtigt werden, über die eigenen Belange zu entscheiden, wenn man selber dazu nicht mehr in der Lage ist. Sie müssen wissen, welche Wünsche man hat, und es sicher gut, wenn diese Wünsche auch schriftlich niedergelegt sind. Aber für die konkrete Situation brauchen sie – um der eigenen Menschenwürde und der Würde dessen, der seinen Willen geäußert hat – einen Interpretationsspielraum.

Inzwischen sollte es selbstverständlich sein, dass Schmerzen mit Morphin oder anderen Schmerzmitteln gelindert werden, und dass dem Schwerkranken mit der Würde begegnet wird, die jedem Menschen zusteht. Die Hospizbewegung und die Palliativmedizin brauchen unbedingt jede nötige Unterstützung. Damit ist klar: Es geht nicht um Medizin um jeden Preis und auch nicht um eine Lebensverlängerung um jeden Preis. Auch das Sterben gehört zum Leben, auch das Sterben muss menschenwürdig bleiben.
Der letzte Papst, Johannes Paul II, hat das für mein Empfinden sehr vorbildlich vorgelebt. Er hat lange um sein Leben gekämpft. Bis Ostern 2005 gab es Stimmtherapie, den Segen Urbi et Orbi wollte er noch sprechen. Aber nicht vom Krankenzimmer aus, sondern von zuhause. Als das nicht mehr ging, beschloss er – so habe ich es über die Medien vermittelt erlebt – dass nun die ärztliche Kunst an ihre Grenzen gekommen ist. Er lebte in der Hoffnung auf das Ewige Leben, auf ein erfülltes Leben in der Nähe Gottes im Hier und Jetzt, das mit dem Tod nicht endet. In dieser Hoffnung konnte er leben und sterben.

Wir müssen den Sterbeprozess wieder nach Hause holen. In die Familie, in die eigenen vier Wände. Dazu braucht es ehrenamtliches Engagement in Hospizinitiativen, um Sterbende und ihre Familien zu unterstützen. Dazu braucht es Hospize und Palliativmedizin, also Medizin, die Leiden lindert und Symptome behandelt, wenn es keine Aussicht auf Heilung mehr gibt. Dazu braucht es Hausärzte, die im Umgang mit Demenz und Schmerzbehandlung geschult sind. Und es braucht eine öffentliche Aufmerksamkeit für die Tatsache, dass immer mehr Menschen alleine alt werden, ohne Kinder und soziale Absicherung durch die Familie.

Dazu braucht es auch eine Patientenverfügung, in der man bestimmte Themen wie PEG-Sonde, also künstliche Ernährung, und weitere Themen, mit denen man sich intensiv auseinander gesetzt hat, anspricht.

Aber eine zu 100 Prozent bindende Patientenverfügung, die dem Arzt, den Angehörigen oder Vertrauenspersonen keinerlei Ermessensspielraum lässt, wie in der aktuellen, so nicht vorhersehbaren Situation konkret im Sinne des Patienten entschieden werden soll, darf es meiner Meinung nach nicht geben.

Nachtrag 27.05.2013:

Ich bin jetzt auf das Buch “Patientenverfügung” von Thomas Klie und Johann-Christoph Student getroffen. Es sei eine Quadratur des Kreises, eine rechtlich zu 100 Prozent bindende Vorausverfügung zu machen, wenn sich die Rahmenbedingungen dafür ständig ändern und ändern müssen. Sie schlagen daher eine “Dialogische Patientenverfügung” vor:

“Wirklich zu leben bedeutet, im Dialog zu bleiben – mit sich selbst und anderen. …

Eine Patientenverfügung, die wirkliches Leben bis zum Ende zulässt, muss diesem urmenschlichen Bedürfnis nach Kommunikation gerecht werden und sie fördern.

Die meisten der gängigen Patientenverfügungen haben eher eine Tendenz, Kommunikation zu stören. Häufig sind sie abschließend, ‘definitv’, also letztlich unkommunikativ formuliert. Damit gefährden sie gerade das, was den meisten Menschen am Lebensende so sehr am Herzen liegt: Sicherheit und Selbstbestimmung. Nur wenn Patientenverfügungen dazu anregen, ja dazu auffordern, sich in den Dialog mit dem Schwerkranken zu begeben, können sie auch sichern, dass seine Wünsche und Bedürfnisse wirklich erfüllt werden.” (S. 175 ff.)

Die Autoren schlagen vor, rechtzeitig Anlässe für das Gespräch zu suchen und zu finden und mit den Menschen zu sprechen und Wünsche zu formulieren: “Wer soll für mich medizinischen Entscheidungen treffen, wenn ich dazu nicht mehr in der Lage bin? … Welche Art von medizinischer Behandlung wünsche ich jetzt noch? Wie soll für mein Wohlergehen gesorgt werden? Wie sollen Menschen in meiner Umgebung mit mir umgehen?” Was möchte ich Menschen mitteilen, die mir besonders wichtig sind? (S. 179-191 mit detaillierten Vorschlägen, wie solche Wünsche aussehen könnten)

Bernd Kehren

Literatur:

Vorsorge für Unfall, Krankheit und Alter
durch Vollmacht, Betreuungsverfügung, Patientenverfügung
Herausgegeben vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz
Als Download (bitte nach “Vorsorge Unfall” suchen!)
4,90 Euro
Verlag C.H. Beck

Besonders wichtig erscheint mir der Hinweis dieses Heftes, dass eine Vollmacht keinerlei Bedingungen enthalten sollte. Also nicht: “Für den Fall, dass ich geistig nicht mehr in der Lage sein sollte” o.ä., sondern: “Ich, n.n., bevollmächtige n.n.”
Einzelheiten dazu in diesem Heft

Patientenverfügung. So gibt sie Ihnen Sicherheit.
Thomas Klie / Johann-Christoph Student. Kreuz Verlag 2011
www.kreuz-verlag.de

Die persönliche Patientenverfügung
Ein Arbeitsbuch zur Vorbereitung mit Bausteinen und Modellen

Rita Kielstein, Hans-Martin Sass
LitVerlag Münster
www.lit-verlag.de

Das Wichtigere hieran ist die Einladung, sich mit konkreten Situationen auseinander zu setzen, um im zweiten Schritt eine eigene Verfügung formulieren zu können.
(Update des Textes am 25.09.2006 und am 27.05.2013)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert