Aufstehen gegen die Trolle?

Aufstehen gegen die Trolle?!

In www.evangelisch.de fällt mir ein Hinweis auf einen Blogeintrag ins Auge: Die Kirche und ihre Trolle und dort den Versuch einer Auseinandersetzung mit einem aktuellen evangelikalen Dokument, das Christen zum “Aufstehen” auffordert.

Warum es trotzdem besser ist, sitzen zu bleiben und nicht zu unterschreiben…

Ja, es gibt auch Trolle. Ob man die Initiatoren dieses Aufrufes so bezeichnen kann?

Ein kleiner Umweg. Es gibt einen exzellenten Aufsatz von Klaus Wengst über den Geburtsfehler der Reformation: Luthers Antijudaismus nämlich.
Kurz gesagt: Oft nimmt man den „späten Luther“ mit seinen drastischen Äußerungen mit dem „frühen Luther“ in Schutz, der sich doch so positiv über die Juden geäußert habe.
Wengst zeigt überzeugend, dass Luther die Juden niemals als ernsthaften Gesprächspartner in den Blick genommen hat, sondern immer nur als Missionsobjekt. Entsprechend sei es nur konsequent, dass Luther radikal umschaltete, als die Juden sich nicht so eben missionieren lassen wollte. War Luther ein Troll?

Ich befürchte, jener Aufruf steht vor einem ähnlichen Problem.

Der Anfang liest sich ja gar nicht mal schlecht:

Allein Christus, Allein aus Gnade, Allein durch Glauben. Allein die Schrift.

Und dann das Bekenntnis: Wir genügen dem nicht.
Und dennoch wollen wir für die Menschenwürde aufstehen und für die Religionsfreiheit.

Ja. Ja. Ja.

Aber dann wird es spannend. Dann kommt ein Zungenschlag, den ich nicht verstehe:

„Allein an ihm (Jesus) entscheidet sich das Heil aller Menschen.“
Wie meinen sie das?
Ich meine: In Jesus ist das Heil aller Menschen entschieden. Umfassend. Einmalig.

Warum muss man aufstehen dann „gegen alle Lehren, die die Versöhnung durch seinen Tod am Kreuz infrage stellen und seine leibliche Auferstehung leugnen“?

Ich verstehe es nicht! Das ist auch nicht biblisch. Mir scheint, hier tappen die Autoren in eine vergleichbare Falle, in die auch Luther schon getappt ist.

Was steht denn in der Bibel? Ist Jesus „aufgestanden“ gegen alle Lehren, die seine leibliche Auferstehung leugneten? Oder sagte er zu Thomas: „Lege Deinen Finger in meine Seite.“
Thomas hat es dann nicht getan, sondern er sagte: Mein Herr und mein Gott.

Warum meinen die Initiatoren dieses Aufrufes, sie müssten härter und konsequenter sein als der Herr selbst? Aus der Bibel können sie das so nicht haben. Sie werfen den „linken“ Kritikern vor, diese würden die Bibel verfälschen, aber letztlich machen sie es hier selber.

Warum bezeugen sie nicht einfach, dass sie selbst das so glauben? Warum sind sie unbarmherziger mit den Menschen, die sich mit der leiblichen Auferstehung schwer tun, als Jesus es war? Wer zwingst sie dazu?
Sie versuchen, die Versöhnung zu verteidigen – und werden unversöhnlich. Passt das zusammen?

Wer kann die Auferstehung verstehen? Ich kann es nicht. Man frage einen Intensivmediziner, ob jemand nach drei Tagen Herz-Kreislaufstillstand ohne schwerste Hirnschädigungen auferstehen kann. Das spricht nicht dagegen, dass Gott das nicht irgendwie hinbekommen kann. Aber es spricht gegen die Selbstverständlichkeit, mit der das Unverständnis des Unverstehbaren als „Leugnung“ diffamiert wird. Jesus ist mit Thomas anders umgegangen. Und darum wäre es besser, wenn die Autoren des Aufrufes von Jesus lernen und dem Text hier die Schärfe nehmen.

Für mich ist klar, dass die Botschaft vom Kreuz das Ausrufezeichen unter die Aussage von Gottes Versöhnung mit den Menschen ist. Kain erschlägt Abel. Und Gott schützt ihn mit dem Kainszeichen. Bereits das Kainszeichen macht deutlich, dass Gott ein versöhnender Gott ist. Auch wenn Kain sein Leben lang nicht abschütteln kann, was er getan hat. Er steht unter Gottes Schutz. Davon gibt es so viele Geschichten im Alten Testament, dass für mich völlig klar ist: Gott ist und bleibt ein gnädiger Gott. Auch wenn sich ihm immer wieder sein Magen umdreht angesichts dessen, was seine Gläubigen auf der Erde veranstalten. Warum soll er nicht auch mal aus der Haut fahren? Und trotzdem: Seine Güte währet ewiglich. Wie oft wird das in den Psalmen wörtlich so betont!

Nein, Gott ist nicht erst durch das Kreuz versöhnt, sondern das Kreuz zeigt unmissverständlich, dass Gott schon immer ein versöhnter Gott war.
Weil Gott ein versöhnter Gott war, „musste das so geschehen“.

Es ist ein grandioser Irrtum der Autoren, dass sie diesem alten philosophischen Konstrukt auf den Leim gehen, dass ein gerechter Gott nur durch das Kreuz versöhnt werden kann. Es ist ein grandioser Irrtum, wenn sie nun meinen, der Glaube werde zerstört, wenn jemand dieses Konstrukt infrage stellt, das sich eben nicht unmittelbar aus der Bibel ablesen lässt.

Sie stehen auf für Jesus Christus – und merken nicht, dass sie gegen ihn aufstehen.
Warum müssen sie aufstehen für Jesus Christus? Noch höher, als er ans Kreuz gegangen ist, können sie doch gar nicht aufstehen! Der erhöhte Christus am Kreuz zeigt, wie tief Gott zu uns herab kommt. Vielleicht sollte man dies einfach an sich geschehen lassen. Dieses „wir stehen auf“: Es klingt hochmütig wie Petrus. Kurz bevor er seinen Herrn verleugnete.

Und auch der zweite Punkt ist klasse. Jeder Mensch hat als sein Ebenbild eine unverlierbare Würde.
Ja. Ja. Ja.
Aber aus welcher Position heraus schreiben sie das?
Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie es aus der Position des geborenen, starken, gesunden, jungen, reichen Menschen schreiben, der alle Rechte und seine Heimat hat. Aber ist das nicht ein Irrglaube? Ulrich Bach (www.ulrich-bach.de) betont zu Recht, dass dies eine Selbsttäuschung ist. Erst wenn man zugibt, dass man eben selber auch schwach, krank, unperfekt, hilfebedürftig ist, kann man m.E. für die Würde der Menschen eintreten. Und wenn man das zugibt, dann wird man anders mit Menschen umgehen, die „anders“ sind. Aus der Position der vermeintlichen Stärke glaubt man, sich für die Schwachen einzusetzen, und man merkt nicht, wie sehr man gegen sie arbeitet.

Zu Punkt drei: Wer behauptet das eigentlich, dieses: „Menschen bräuchten keine Erlösung“? Ich kenne niemanden! Wen haben die Autoren im Blick? Was für ein Feindbild bauen sie mit diesem Satz auf?

So kommen wir zu Punkt vier. Es geht um die Bibel. Ich behaupte: Die Autoren glauben nicht das, was sie da schreiben. Und sie wissen nicht, was sie da schreiben.

Welche Bibel meinen sie? Es gibt kein einziges Original! Alle Handschriften, die wir haben, weichen irgendwo voneinander ab.
Nach welchen Kriterien wählen wir nun die Handschriften aus?

Die Bibel fordert uns heraus, sich mit ihr auseinander zu setzen!
Die Bibel fordert uns heraus, kritisch zu sein!
Die Bibel konfrontiert uns mit ganz unterschiedlichen Sichtweisen.
Man kann über den guten alten Bultmann sagen, was man will, in dem einen hat er sicher Recht: Die Bibel fordert uns zur Entscheidung heraus. Das nimmt sie uns nicht ab!

Wir lesen den Text, und wir lesen die Ansprüche, und dann ist nicht einfach alles klar, sondern es ist oft alles unklar. Und wir sind gefordert, das Richtige herauszufinden. Ist das „Kritik an der Bibel“? Die Bibel selbst fordert uns dazu heraus!
„Die Bibel ist immer aktueller als der jeweilige Zeitgeist.“ Was für ein richtiger Satz! Und dennoch zugleich: Was für ein himmelschreiender Blödsinn!

Die Bibel ist immer aktuell! Den Satz unterschreibe ich sofort! Aber trotzdem entbindet er mich nicht meiner Verantwortung, mich selbst zu entscheiden, was nun richtig ist oder falsch. Es entbindet mich nicht vom Bewusstsein darüber, dass ich mit meiner Entscheidung auch falsch liegen kann. Es nutzt überhaupt nicht, die Bibel gegen den Zeitgeist auszuspielen! Richtig wäre allein, die Bibel mit dem Zeitgeist ins Gespräch zu bringen. Dann erst zeigt sich ihre Autorität. Und dafür muss dann auch niemand „aufstehen“. Das braucht die Bibel doch gar nicht! Sie ist auch so Autorität! Heißt es nicht, dass Gott gerade in unserer Schwachheit mächtig ist? Was soll dann diese Aufsteherei?

Gott stellt uns in die Zeit. Also müssen wir uns mit der Zeit auseinander setzen. Also müssen wir in der Gegenwart Lösungen für die Gegenwart finden. Wer das ignoriert und als „Zeitgeist“ diffamiert, nimmt weder die Bibel ernst noch die Zeit, noch Gott, der uns in diese Zeit gestellt hat.

Punkt 5 enthält einen weit verbreiteten Fehler. Nein, in der Bibel steht nicht, dass der Mensch „als Mann oder Frau“ geschaffen wurde.

In der Bibel steht, dass der Mensch, egal ob männlich oder weiblich, als Gottes Ebenbild geschaffen wurde. Jeder Mensch. Man muss wissen, dass viele der antiken Herrscher glaubten, nur sie wären Gottes Ebenbild. Gott wäre die Sonne. Und der König ist Gottes Ebenbild. Die restlichen Menschen rangieren irgendwo weit darunter und müssen sich daher auch in den Staub werfen, wenn das selbstangemaßte Ebenbild Gottes vorbei geht.

Diese Voraussetzung muss man kennen, um die Bibel an dieser Stelle zu verstehen.

Erst sagt die Bibel: Sonne und Mond sind keine Götter. Sie sind einfach „das große und das kleine Licht“. Sie sind von Gott geschaffene Gegenstände. Und dann sagt die Bibel: (Nicht nur der König, sondern) jeder Mensch ist Gottes Ebenbild. Und zwar nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen. Gleichberechtigt. Damit ist nicht gesagt, wie die Rollenaufteilung funktioniert. Und damit ist nicht gesagt, wie die biologische Abstufung zwischen den Geschlechtern genau aussieht. Biologisch gibt es leider nicht nur „Mann“ oder „Frau“, sondern viele Abstufungen. Das hat etwas mit der frühen unterschiedlichen hormonellen Ausstattung zu tun. In der frühkindlichen Entwicklung werden die Gene unterschiedlich an- und abgeschaltet. Das führt dazu, dass man bei den meisten Menschen eindeutig „Mann“ oder „Frau“ sagen kann. Bei vielen aber nicht. Und bei manchen Menschen gibt es ein paar Gene zu viel oder zu wenig, so dass das auch durch die verbleibenden genetischen Schalter nicht mehr eindeutig umgeschaltet werden kann. Ist Gott nur der Schöpfer von denen, bei denen man das Geschlecht eindeutig feststellen kann? Sind die anderen dann nicht seine Ebenbilder? Selbstverständlich ist jeder Mensch Gottes Ebenbild, männlich wie weiblich und auch alle, die man irgendwie „dazwischen“ ansiedeln muss. Jeder Mensch hat seine Würde. Jeder Mensch ist auf ein Gegenüber hin angelegt. Darum wollen so viele Menschen auch unbekümmert in einer dauerhaften Partnerschaft leben. Manche entscheiden sich relativ früh dazu – und bekommen auch Kinder. Andere heiraten erst in einem Alter, in dem sie keine Kinder mehr bekommen können. Dürfen sie nicht mehr heiraten? Nicht mehr „Familie“ sein? Manche davon nehmen Pflegekinder auf. Sorgen für sie wie für die eigenen Kinder, weil die leiblichen Eltern das nicht können…

Andere empfinden gleichgeschlechtlich. Von ihnen zu verlangen, sie müssten sich einen gegengeschlechtlichen Partner, eine gegengeschlechtliche Partnerin suchen, wäre Blödsinn. Auch sie sind auf ein Gegenüber angewiesen. Suchen danach. Mit denselben Schwierigkeiten und Irrtümern wie alle anderen Menschen. Und finden sich dann doch. Wollen es miteinander versuchen. Versprechen sich die Treue, bis dass der Tod sie scheidet. Wird die Ehe in irgendeiner Weise entwertet, wenn man sagt: Diese Liebe verdient denselben Schutz wie jede andere Liebe zwischen gleichberechtigten Partnerinnen und Partnern, die sich die „ewige Treue“ versprechen?

Es gibt kinderlose Ehepaare, die Kinder adoptieren oder als Pflegekinder aufnehmen. Das ist ihre Weise, sich an den gesellschaftlichen Aufgaben zu beteiligen. Manches schwule oder lesbische Pärchen möchte das auch. Nicht, weil sie unbedingt ein eigenes Kind haben wollen. Sondern weil sie einem Kind gute Eltern sein können. Weil es immer noch Kinder gibt, bei denen die leiblichen Eltern dazu nicht in der Lage sind.
Mit welchem Recht soll manchen Kindern verwehrt werden, in einer Familie zu leben, nur weil die, die sie aufnehmen könnten, schwul oder lesbisch sind?

Wenn wir sehen, dass es in der Schöpfung real ein größeres Spektrum als „nur Mann“ und „nur Frau“ gibt, wenn wir feststellen, dass auch diese Menschen Gottes Ebenbilder sind: Mit welchem Recht dürfen sich Christen anmaßen, diese Menschen zu diskriminieren und abzuwerten und ihnen das vorzuenthalten, was sie für sich selbst in Anspruch nehmen?

Wenn in der Bibel ein Paar keine Kinder bekommen konnte und der Ehemann stirbt, war der Bruder dieses Mannes verpflichtet, mit seiner Schwägerin ein Kind zu zeugen. Was hat eigentlich seine Ehefrau zu dieser Art göttlich verordneten Ehebruchs gesagt? Was hat die betroffene Schwägerin gesagt, die um ihrer Altersabsicherung wegen mit dem Bruder ihres verstorbenen Mannes schlafen musste? Was hat dieser Bruder gedacht, der mit seiner Schwägerin schlafen musste? Macht die Bibel hier nicht selber deutlich, dass es Situationen geben kann, in denen es weder unsittlich noch unmoralisch sondern geradezu geboten ist, von der Regel abzuweichen und neue Regeln aufzustellen, damit das Leben in der menschlichen Gemeinschaft gelingen kann? Punkt 5 in dieser Art „Bekenntnis“ ist in seinen biblischen Voraussetzungen falsch, er ignoriert die Bibel an wesentlichen Stellen, und er ignoriert die Schöpfung, in die Gott selber uns gestellt hat.

Das heißt nicht, dass nicht die Ehe in besonderer Weise geschützt und gestärkt werden sollte. Aber es heißt, dass Christen mit offenen Augen durch die Welt laufen müssen, ob es nicht weitere Menschen und weitere Beziehungen gibt, die genau solchen Schutz nötig haben. Jesus stellt an einer einschlägigen Stelle infrage, ob es richtig ist, die Gebote zu halten. Der Priester und der Levit waren verpflichtet, sich nicht rituell zu verunreinigen. Sie waren auf dem Weg zum Tempel und mussten dort rituell rein ankommen. Sonst konnten sie den Dienst nicht aufnehmen, zu dem sie sich verpflichtet hatten. Sonst konnten sie ihre Kollegen am Tempel nicht ablösen. Sonst konnten sie Gott nicht dienen! Es war absolut ehrenhaft, was sie getan hatten. Der unter die Räuber Gefallene tat ihnen sicherlich leid. Und ganz bestimmt würde auch ein Nicht-Priester und ein Nicht-Levit kommen, der dem armen Kerl helfen kann.
Und trotzdem haben sie sich falsch verhalten.

Und genauso falsch verhalten sich Menschen, die aufgrund einer verkehrten Auslegung der Bibel anderen Menschen – nur weil sie nicht „klassisch gegengeschlechtlich“ empfinden können – elementare menschliche Beziehungen abwerten und vorenthalten.
Für manche Menschen ist eben auch ein gleichgeschlechtliches Gegenüber Gottes Schöpfungsgabe.

(Und mancher gegengeschlechtliche Ehepartner stellt irgendwann schmerzhaft fest, dass er oder sie sich offenbar geirrt hat und jemandem die Treue versprochen hat, den Gott offenbar doch nicht als Partner vorgesehen hat. Was nichts ausschließt, dass man in der Ehe oder einer eheähnlichen Beziehung gravierende Fehler machen kann, die jede auch von Gott so gewollte Partnerschaft gründlich zerstören können. Was also auch nicht ausschließt, dass man eine solche Partnerschaft retten kann, wenn man an diesen Fehlern arbeitet und sie in Zukunft vermeidet. Nicht jede Ehekrise ist ein Zeichen dafür, den falschen Partner gewählt zu haben.)

Zu Punkt 6 kann ich nur sagen: Ja, ja, ja. Darum also auch „Ja“ dazu, dass Muslime hier in Deutschland Moscheen bauen dürfen. Darum ein deutliches „Nein“ gegenüber Äußerungen von Christen, die gegen andere Religionen polemisieren, die sie lieblos abwerten. Wer für die Religionsfreiheit eintritt, der tritt auch für ein partnerschaftliches Gegenüber der Religionen ein. Damit verraten Christen auch nicht ihren eigenen Glauben. Das bedeutet auch nicht, auf Mission zu verzichten. Aber es bedeutet, fair zu bleiben. Es bedeutet, in jedem Menschen Gottes Ebenbild zu sehen.

Das schließt Spott nicht aus. Was müssen die Juden in Babylon gelacht haben, als ihnen zum ersten Mal 1. Mose 1,1 vorgetragen wurde. An der Stelle mit dem „großen und dem kleinen Licht“ gab es sicherlich Applaus, mindestens aber ein raunenden Schmunzeln. Jeder wusste, wieviel Angst der babylonische König vor dem Mond hatte, dass er wegen des Phasenwechsels regelmäßig die Regierungsgeschäfte unterbrach, und dass er sich selbst für das einzige Ebenbild von “Gott Sonne” hielt.  „Großes und kleines Licht“ spottet über den fremden Glauben und macht sich darüber lustig. Und dann die Stelle mit „Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde“. Jeden Menschen: Das ist biblisch-politisch-religiöses Kabarett von seiner schärfsten und schönsten Seite. Es spricht eine wichtige Wahrheit aus und spottet zugleich scharf über religiöse Auffassungen, die zu einer Abwertung von anderen Menschen führt.
Vielleicht ist es sogar eine Rechtfertigung der Themenstellung, ob man auch manche christliche Diskussionspartner nicht zu Recht als „Troll“ bezeichnen darf und muss. Was nichts davon wegnimmt, dass wir für Religionsfreiheit eintreten. Ohne Wenn und Aber. Auch der babylonische König war in seiner ganzen persönlichen und religiösen Selbstanmaßung Gottes Ebenbild.

Punkt sieben: Was für eine Anmaßung: „Wir stehen ein für die biblische Verheißung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde.“ Wie großkotzig. Jesus hat sich immerhin dafür ans Kreuz nageln lassen. Hier ist nur noch eine Unterschrift unter ein theologisch zweifelhaftes Dokument nötig.
„Wir stehen ein für ein Leben in Hoffnung und gegen jede Form der Resignation…“: Erst vor kurzem war ich bei einer Autofahrerin, die kurz zuvor nicht gemerkt hatte, dass die Ampel schon lange auf Rot umgesprungen ist, und ein anderes Auto rammte. Der Fahrer war sofort tot. Und diese Fahrerin war fassungslos über das, was sie da getan hatte. Das war Hoffnungslosigkeit und Resignation pur. Doch: Ich habe diese Situation ausgehalten. Doch: Ich habe versucht, diesem Menschen nach diesem schrecklichen Irrtum Hoffnung und Mut zu machen. Ich habe von Kain erzählt, den Gott selber unter seinen göttlichen Schutz genommen hat. Trotz allem, was er getan hat.
Ich halte es für richtig, Hoffnung und Mut zu machen.
Und trotzdem kann ich diese Anmaßung nur schwer ertragen, die aus diesem Punkt sieben dieser Erklärung herausquillt. Ich kann den Unfallgegner nicht mehr lebendig machen. Für seine Angehörigen und für die Unfallverursacherin kann ich allenfalls Zeugnis davon ablegen, dass Gott zu ihnen hält. Aber kann ich für etwas einstehen, für das nur Gott selber einstehen kann? Ich kann meinen Glauben bekennen. Aber kann ich nachempfinden, was dieser Mensch empfindet? Kann ich nachempfinden, was jene Eltern und Angehörigen empfinden? Kann ich ihnen gegenüber die Hoffnung so unbarmherzig und großkotzig um die Ohren hauen, wie es in der siebten These formuliert ist?
Diese These basiert auf einer riesigen Niederlage am Kreuz. Noch weiter in die Tiefe geht es nicht. Gott hat sich dieser Tiefe ausgesetzt. Dass aus dieser Tiefe ein Sieg erwachsen sein soll, bleibt für menschliches Empfinden völlig unverständlich – und für manchen Menschen anderen Glaubens auch völlig unglaubwürdig.
Wer diese großartige Hoffnung dennoch bezeugt, sollte die Bescheidenheit nicht vernachlässigen, die das Kreuz und die Katastrophen des menschlichen Lebens nahelegen.

Ja, ich bin dafür, dass Christen aufstehen. Ich bin dafür, dass sie zusammen mit Menschen anderen Glaubens aufstehen und Gottes Liebe weitertragen.

Auf diesem Weg können wir auch ins Gespräch kommen. Über die Religion und über unseren eigenen Glauben.

Wir dürfen aber auch sitzen bleiben. Wir dürfen auch bekennen, dass wir gerade Probleme haben mit unserem Glauben. Wir dürfen bekennen, dass wir gerade glauben wollen – und es nicht können. Wir dürfen Menschen eines anderen Glaubens die Hand reichen und gemeinsam trauern, dass wir darunter leiden, dass wir im Blick auf unsere Religion getrennt bleiben. Und wir dürfen uns ermutigen, trotzdem menschlich zu bleiben.

Wenn Religion großkotzig wird, wenn Christen im Blick auf ihren eigenen Glauben gegenüber Zweiflern und Andersgläubigen großkotzig werden, dann – das behaupte ich hier – haben sie weder Kreuz noch Auferstehung begriffen. Dann verraten sie die Bibel. Dann reden sie von Gottes Liebe und bringen den Hass. Und merken es nicht.

Ich bekenne voller Trauer: Wer dieses Dokument unterschreibt, merkt es nicht. Leider.

Bernd Kehren
9.5.2014

Ein Koffer für die letzte Reise

Ein Koffer für die letzte Reise
Der Bestatter Fritz Roth aus Bergisch-Gladbach lud 100 Menschen ein, einen “Koffer für die letzte Reise” zu packen.
Roth will herausfordern, sich über Sterben, Trauer und Tod Gedanken zu machen. Wer würde mitmachen?

Infos zum Projekt

Ich fand den Gedanken spannend, selber einen solchen Koffer zu packen. So manche Beerdigung habe ich selber gehalten, mir Gedanken gemacht.

Aber:

“Das letzte Hemd hat keine Taschen.” Wirklich mitnehmen kann man nichts, es kann meiner Meinung nach “nur” um Symbole gehen. “Nur”?

“Der Tod ist wie der Mond – niemand hat seinen Rücken gesehen” lautet ein Sprichwort in Afrika; Jürgen Thiesbonenkamp hat es als Titel für seinen Vergleich von Bestattung und Totengedenken in Kamerun und Deutschland gewählt.

Niemand weiß, was nach dem Tod sein wird. Ich weiß es auch nicht, auch wenn ich Pastor bin.

Und je genauer ich es mir vorstelle, desto größer sind die Widersprüche, in die ich mich dabei verwickle. Einfach so weitergehen wie hier auf der Erde kann es wohl nicht. Aber jede kleine Veränderung der Umstände führt dazu, dass ich es mir insgesamt doch nicht vorstellen kann. Es ist wohl besser, sich kein Bild davon zu machen.

Und wenn doch, dann nur unter der Voraussetzung, dass ich Bild und Realität des Lebens nach dem Tod immer sorgfältig unterscheide.

“Jetzt sehe ich nur durch einen Spiegel”, verschwommen und unscharf. Erst später einmal wird das Bild scharf werden. Wenn es dann noch so etwas wie Bilder gibt. Das ist das Risiko, das Glaubende eingehen. Es kann auch alles ganz anders sein.

Wenn ich mir das klar mache, kann ich viel leichter die Bilder auf mich wirken lassen, kann ich die Bilder ausmalen, kann ich mich davon trösten lassen.

Ursprünglich wollte ich Gegenstände hinein tun, die zu diesen Bildern passten. Bilder aus Psalm 23. Ein kleines Schaf vielleicht, einen Hirten…

Aber erstens war der Koffer, der dann eines Tages geliefert wurde, für einige der Gegenstände zu klein.

Und zweitens konnte ich nicht reale Dinge einzupacken, wo ich doch denke, dass ich über den Tod nur in Bildern sprechen und denken kann.

Also Bilder…

Und so entstand der Koffer.

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In der Mitte: Eine aufgeschlagene Bibel mit Psalm 23.

Dazu Bilder mit Assoziationen zu diesem Psalm.

Da findet sich ein Hirte. Eine “Biblische Erzählpuppe”, wie ich sie hin und wieder in Altenheimen verwende. Viele Menschen in den Gottesdiensten sind dement. Theoretische Gedanken verstehen sie nicht mehr besonders gut. Aber für Gefühle und  Stimmungen sind sie sehr aufgeschlossen. Mit “Biblischen Erzählpuppen” kann man Gefühle gut ausdrücken. So wurde eine dieser Puppen zum “Guten Hirten”, der seine Schafe weidet. Ein solches Schaf war als Handpuppe auch schon einmal im Gottesdienst dabei.

“Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln…” Ein schönes Bild für die Geborgenheit bei Gott. Ein schönes Bild für das Leben jetzt und nach dem Tod…

Es gibt jemanden, der aufpasst, der dabei ist, der mich hört. In guten und in schlechten Zeiten…

Die meisten der Gottesdienste in meinen Heimen sind Abendmahlsgottesdienste. So finden sich auf dem dritten Bild Kelch und Patene mit Oblaten und ein Gedeck mit unserem guten Geschirr. Ein herzliches Dankeschön an die Schwiegereltern, die uns nach der Hochzeit beim Kauf unterstützten.

“Du deckst vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkst mir voll ein.”

An vielen Stellen im Neuen Testament ist Jesus zu Gast, er trinkt und isst und hat Gemeinschaft. Er macht deutlich, wie nahe Gott ist. So wie die Gastfreundschaft auch im Alten Testament immer wieder eine wichtige Rolle spielt.

Gott lädt ein. Auch im Angesicht der Feinde. Auch im Angesicht des Todes.

Eines der schönsten Bilder der Bibel ist für mich das Gastmahl oder das Hochzeitsmahl am Ende der Zeiten.

Voller Genuss. Zusammen mit vielen anderen Gästen. Mit Gästen, die ich lange nicht gesehen habe. Mit Gästen, die ich noch nie gesehen habe, aber denen ich nun persönlich begegnen kann. Es gibt da einige, die ich noch sprechen würde, die aber leider nicht mehr leben. Auf dieses Festmahl freue ich mich schon.

Und feiere Abendmahl. Das kleine Stück Brot, der Schluck Wein (im Heim tauche ich immer die Oblate in den Wein), sie symbolisieren das große Gastmahl und nehmen uns jetzt schon mit dahin. Jesus Christus ist der Gastgeber, er stärkt uns auf eine ganz eigene Weise.

Und so fanden Kelch und Patene einerseits und das Gute Geschirr andererseits den Weg in den Koffer. Herzlichen Dank auch der Christuskirchengemeinde in Zülpich, die mir und den Gottesdienstbesucherinnen und -besuchern Kelch und Patene immer wieder ausleiht für die Gottesdienste in den vielen Heimen.

Die grünen Auen – ein Blick in unseren bunten Garten im Frühling. Ein Blick auch auf eine der Burgen aus dem letzten Sommerurlaub. Es sind schöne Bilder, die einladen zum Leben.

“Wenn ich auch wanderte im finsteren Tal…”

Ein Bild bleibt dunkel.

Immer wieder sagen mir Menschen, dass sie nun alt genug geworden sind. Nun würden sie gerne sterben, aber sie wissen nicht wann und wie.

Und andere sterben viel zu früh, wie das siebzehnjährige Mädchen, dessen Reanimierung fehlschlägt und dessen Freund und dessen Eltern  ich trösten musste.

Es gibt sie, diese finsteren Täler, und ich bin froh, dass die Bibel auch diese Bilder nicht verschweigt oder ignoriert. Das macht diese Bilder für mich so glaubwürdig.

Aber sie machen Mut. Jemand begleitet mich. Viele Menschen, aber auch sie sind Ebenbilder Gottes, auch sie repräsentieren den auferstandenen Christus; er selbst, der Auferstandene und in den Himmel Aufgefahrene (auch so ein schönes Bild) ist mit uns im Hier und Jetzt und begleitet uns…

“Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.”

So manche und mancher musste sein eigenes Haus verlassen und lebt nun im Seniorenheim. Das Zimmer im Hause des Herrn wird niemand mehr verlassen müssen. Auch dafür stehen die Bilder vom Garten und von der Burg…

Ich freue mich, dass ich bei diesem Projekt mitmachen darf.

Koffer und ein Begleittext sind in der Ausstellung an verschiedenen Orten zu sehen, zusammen mit 102 anderen. Am 19. Mai 2006  wurden sie in Bergisch-Gladbach der Öffentlichkeit vorgestellt.

Manche sehr kunstvoll, manche ganz leer, manche witzig, manche abstoßend oder verärgernd.

Und man kann sie zuhause sehen. Der Katalog der Ausstellung ist unter dem Titel “Einmal Jenseits und zurück” im Gütersloher Verlagshaus erschienen.

Und ich würde mich freuen, mit Besucherinnen und Besuchern meiner Homepage darüber ins Gespräch zu kommen.

Vielleicht unterstützt mich ja auch der eine oder andere in den Heimen. Es tut gut.

Es tut gut, sich über Tod und Leben Gedanken zu machen.

Am meisten beeindruckt hat mich dabei Manfred Elzenheimer, ein Fleischermeister, der nichts in den Koffer nahm als Zettel mit vier Worten. “Nein”, “Entschuldigung”, “Danke” und “Liebe”. Bei jedem der Tiere, die er schlachtet, möchtet er für sich und das Tier die Würde bewahren. Phillip Engel hat ihn und die Designstudentin Joa begleitet, als sie ihren Koffer packten, und einen schönen Film gedreht: Einmal Jenseits und zurück. (Erstausstrahlung am 15. Januar 2006 in der ARD – Leider wegen des Rundfunkstaatsvertrags nicht mehr abrufbar).

Das Buch zur Ausstellung ist im Buchhandel für 19,95 Euro erhältlich.
Fritz Roth (Hrsg.), Einmal Jenseits und zurück. Ein Koffer für die letzte Reise.
2006 Güterloher Verlagshaus. ISBN 3-579-03251-8

Gott widersprüchlich?

In “Kurz gefragt” (Chrismon 02/2008) fragt ein Leser danach, warum Gott die bösen Menschen in der Sintflut mit dem Tode bestraft und sich damit selber nicht an das Tötungsverbot hält, dass er nun selber erlässt.

Burkhard Weitz beginnt seine Antwort darauf mit den Worten:

„Die Bibel ist voller Widersprüche. Sie ist eben nicht verbal inspiriert, sondern von Menschen geschrieben.“

Dieser Satz hat eine Voraussetzung: Gott ist ohne Widersprüche. Widersprüchliches muss dann vom Menschen kommen.

Was wäre eigentlich, wenn wir erkennen, dass Gott sehr wohl widersprüchlich sein kann? Unfassbar? Rätselhaft? Manchmal auch brutal?

Könnte diese Erkenntnis uns Menschen nicht vielleicht sogar entlasten, weil wir auch widersprüchlich sein dürfen? Eben: Von Gott geliebte Sünder?

Was wäre eigentlich, wenn in diesem Sinne die widersprüchliche, von Menschen geschriebene Bibel tatsächlich „verbal inspiriert“ ist, damit wir Menschen bescheiden werden, unserem Perfektheitswahn (an dem wohl jeder hin und wieder leidet) den Abschied geben und erkennen, wir können nur als Gemeinschaft der Unperfekten leben und lieben?

Du sollst dir von Gott kein Bildnis machen. Auch nicht das Bild des unfehlbaren und widerspruchsfreien Gottes. Glaube ich.

Bernd Kehren
03.02.2008

Passion 2016 in Deutschland

Passion 2016 in Deutschland

Gedanken am Montag nach den drei Landtagswahlen in Deutschland.

Erschrecken
Einfache Antworten
Abgrenzung, Ausgrenzung, Merkel muss weg
Man wird doch wohl noch sagen dürfen!
Oder sind Sie etwa gegen Demokratie?
Lügenpresse…
Früher riefen Sie:
Ans Kreuz mit ihm!
Zum Glück nicht alle
Aber die Mehrheiten waren gerade so
Die Mehrheiten und die Macht
Und dann hing er da oben
Am Kreuz
Der Friedensstifter
Der Versöhner
Der auch an die anderen im Blick hatte
Die da unten
Die Abgehängten

Sind wir wieder auf dem Weg dorthin?
Wer ist heute abgehängt?
Flüchtlinge?
Wer sucht Sicherheit?
Sicherheit vor einer komplexen Welt
Sicherheit vor den Globalisierungsverlieren
Sicherheit vor den Traumatisierten
Sicherheit vor den Bombardierten

Wer sagt laut und deutlich:
Es gibt keine Sicherheit
Wer sagt laut und deutlich:
Das Leben ist unsicher. Das Leben bleibt unsicher. Das Leben wird immer unsicher bleiben.
Nur eines bleibt sicher:
Es geht nicht
ohne Krankenhäuser und Friedhöfe
Zum Glück
werden viele gesund entlassen
Zum Glück gehen wir oft nur zu einem Besuch dorthin

Zum Glück glauben wir:
Der eine geht mit.
Der vom Kreuz.
Mit den Abgehängten.
Mit denen, die ihn aufhängten.

Zum Glück glauben wir:
Der eine geht mit
Mit uns
Mit denen
Mit Tätern
Mit Opfern

Einmal werden wir alle froh sein

Bis dahin
Hoffentlich sind es nur
Ganz wenige
Schläge
Schläge auf die Nägel
Im Kreuz

Darum bitten wir
Und um Versöhnung
Mit denen
Die wissen
Und denen
Die nicht wissen
Was sie tun.
Um Versöhnung
Bitten wir

Amen.

Bernd Kehren

Pfingsten & Angst

Und Pfingsten war die Angst weg?

“Pfingsten sprengt doch verschlossene Türen auf, reißt ängstliche Jünger von ihren Hockern und treibt sie hinaus in die Öffentlichkeit.” So lese ich es in einer Arbeitshilfe zu Pfingsten 2007, so ähnlich höre ich es im WDR-Fernsehen: Ein Priester erklärt darin, was Pfingsten ist, weil viele Menschen es nicht mehr wissen.

Nur:

Dass die Jüngerinnen und Jünger zu Pfingsten ängstlich in ihren Zimmern gehockt hätten, davon steht in der ganzen Bibel nichts.

Richtig ist: Zu Ostern hatten die Jüngerinnen und Jünger Angst vor dem, was kommt und Angst vor dem, was sie an unglaublichen Neuigkeiten gehört haben. In den Ostergeschichten schließen sie sich ein. In den Ostergeschichten kommt Jesus mit den Worten “Friede sei mit euch”. In der Thomasgeschichte im Johannesevangelium ist von den verschlossenen Türen die Rede.

Richtig ist aber auch: Diese Begegnung war ausgesprochen trostreich. So heißt es bei Lukas in der Himmelfahrtserzählung:

“Sie aber beteten ihn an und kehrten zurück nach Jerusalem mit großer Freude und waren allezeit im Tempel und priesen Gott.”

Da hört man nichts mehr davon, die Jüngerinnen und Jünger hätten sich eingeschlossen: Im Gegenteil, sie gehen öffentlich in den Tempel, sie wissen, dass Jesus Christus auferstanden ist, sie loben Gott und warten auf den versprochenen Heiligen Geist.

Bis zur Kindergottesdiensthelfer-Tagung in Duisburg vor einigen Jahren dachte ich auch noch, dass sich die Jünger bis Pfingsten erschrocken und verängstigt in ihren Räumen eingeschlossen hätten.

Es war die Jüdin Chana Safrai, die an diesem Pfingsttag davon erzählte, was Juden am ShWU’OTh-Fest tun, dem großen Fest nach Pessach. Pessach ist das Fest der Erinnerung an den Auszug aus Ägypten. Shawouth erinnert an die Verkündung der Gebote an Mose am Sinai. Und so lesen fromme Juden zu Shawouth den ganzen Tag in der Tora, in den fünf Büchern Mose. Das darf man nicht als fromme Pflicht verstehen, die man unter Mühen auf sich nimmt. Chana Safrai erzählte die Geschichte von den zwei frommen Juden, die mal “richtig einen draufmachen wollten”, und sie beschlossen – in der Tora zu lesen. Sie suchten sich eine Herberge, vertieften sich in die Schriften, sie lasen und diskutierten, sie wurden von Gottes Geist erfüllt und gerieten dabei so sehr in Extase, das es zu rauchen begann und Flammen aus dem Zimmer schlugen. “Haltet ein!”, rief der Wirt, “wollt ihr meine Herberge abbrennen?”

Flammen, war da Pfingsten nicht etwas mit Flammen? Auf dem Hintergrund dieser Anekdote, auf dem Hintergrund, dass fromme Juden zum Pfingstfest in der Bibel lesen, und dass Extase und Bibellesen keine Widersprüche sind, auf den Hintergrund der Himmelfahrtserzählung des Lukas kam Chana Safrai zu dem Schluss: Auch die Jüngerinnen und Jünger lasen als überzeugte Juden voller Erwartung auf den Heiligen Geist in der Tora. Nicht verzagt, sondern froh. Und wenn das Neue Testament vom Heiligen Geist in Form von Flammen erzählt, der sich auf die Männer und Frauen setze, die sich an diesem Tage alle in einem Raum versammelt hatten, dann wunderte das diese Jüdin aufgrund ihrer eigenen Tradition nicht.

Ich finde es immer wieder spannend, wie sich in der Begegnung mit dem Judentum überraschende Einsichten auftun. Immer wieder merke ich, dass sich in unseren Köpfen christliche Interpretationen festgesetzt haben, die im Widerspruch zu dem stehen, wie es in der Bibel steht.

So findet sich nirgends in der Bibel die Behauptung, in einem jener Länder, in denen die Gastfreundschaft sprichwörtlich ist, hätte ein böser Wirt (oder sogar zahlreiche Wirte) einer hochschwangeren Frau die Tür vor der Nase zugeschlagen. Wer die Häuser damals kennt, mit dem Eingangsbereich für Tiere und dem erhöhten Wohnbereich im hinteren Teil der Wohnung, der wundert sich nicht über eine Futterkrippe in diesen Räumen, und der wundert sich auch nicht darüber, dass das Kind in Windeln dort hinein gelegt wird, “weil es sonst keinen Platz in dieser Herberge gab”. Für mich ist das traditionelle Krippenspiel inzwischen Tradition gewordener Antijudaimus, eine Beleidigung des Volkes, in dem die Gastfreundschaft zum obersten Gebot gehörte, wie man es an Geschichten wie über Lot und seine Gäste in 1. Mose 19 nachlesen kann. Leider wird man die durch zahlreiche Krippenspiele verfestigte Auffassung in absehbarer Zeit nicht korrigieren können.

Und es findet sich eben nirgends ein Beleg dafür, dass die Jüngerinnen und Jünger vor Pfingsten verzagt gewesen seien…

Bibellesen ist spannend, und immer wieder überraschend. Wir Christen sollten uns mehr darauf besinnen…

Bernd Kehren

siehe auch: Pfingstpredigt 2001

Patientenverfügung

Patientenverfügung

Bis vor kurzem war ich noch der Meinung, jeder sollte eine Patientenverfügung haben: Der mündige Patient überlegt sich rechtzeitig, wie der Arzt handeln soll. Zu oft hat man gehört oder vielleicht auch selbst erlebt, dass Ärzte den letzten Lebensfunken aus jemanden heraus-reanimiert haben, weil sie nicht damit fertig werden, dass auf ihrer Station auch einmal ein Patient stirbt. Und es klingt verlockend, dass der Arzt sich in jedem Falle an die Patientenverfügung halten muss.

Inzwischen bin ich vorsichtiger geworden. Wann ist man ein mündiger Patient? Reicht es, wenn man einen Erste-Hilfe-Kursus absolviert hat, oder muss man nicht doch mit einer Krankenschwester oder einem Krankenpfleger verheiratet sein? Sollte man gar Medizin studiert haben? Ich meine: Wofür studiert der Arzt oder die Ärztin denn eigentlich noch Medizin, wenn er oder sie in den schwierigen Fällen von seinem Patienten genau (oder auch nur recht schwammig) vorgeschrieben bekommt, was nun in genau diesem Falle zu geschehen hat, um diesem Patienten am besten gerecht zu werden? Woher will der “mündige Patient” lange Zeit vor dem befürchteten Ereignis wissen, welche Überlebenschancen er noch hat, welche Nebenwirkungen zu befürchten sind, nach wie langer Zeit der Bewusstlosigkeit oder sogar des Komas eine Besserung erwartet werden könnte?

Man muss es ganz klar sagen: Niemand kann das vorhersagen, und niemand ist in der Lage, auch nur annähernd genau eine Patientenverfügung zu verfassen, die vernünftigen Anforderungen entspricht. Eine solche Patientenverfügung müsste so dick sein wie der “Pschyrembel” (ein medizinisches Standard-Wörterbuch mit über 1800 Seiten). Darüber darf auch nicht hinweg täuschen, dass die Zahl der Vordrucke möglicher Patientenverfügungen die 200 überschritten hat.

Eine Patientenverfügung, die den Arzt in jedem Fall bindet, macht aus dem Arzt den Erfüllungsgehilfen des Todes: Er müsste lebenserhaltende Maßnahmen auch dann abstellen, wenn er  eine Wiederherstellung des Patienten erwarten müsste – und obwohl er den Patienten darüber nicht belehren konnte. Ich meine: Das kann und darf nicht sein.

Patientenverfügungen müssen dem Arzt einen Spielraum lassen, in dem er zusammen mit Vertrauenspersonen des Kranken nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden kann, wenn der Betreffende dazu selber nicht mehr in der Lage ist. Dazu sollten die betreffenden Menschen mit ihrem Arzt und ihren Vertrauenspersonen gesprochen haben. Wer eine Patientenverfügung ausfüllt, sollte sich möglichst konkrete Gedanken gemacht haben und diese in eigenen Worten beschreiben. Welche Krankheit habe ich vor Augen? Habe ich selber bei Bekannten Behandlungen erlebt, die ich als unerträglich belastend empfinde?

Wichtiger als eine Patientenverfügung ist in meinen Augen heute eine Vorsorgevollmacht, in der eine oder mehrere Vertrauenspersonen bevollmächtigt werden, über die eigenen Belange zu entscheiden, wenn man selber dazu nicht mehr in der Lage ist. Sie müssen wissen, welche Wünsche man hat, und es sicher gut, wenn diese Wünsche auch schriftlich niedergelegt sind. Aber für die konkrete Situation brauchen sie – um der eigenen Menschenwürde und der Würde dessen, der seinen Willen geäußert hat – einen Interpretationsspielraum.

Inzwischen sollte es selbstverständlich sein, dass Schmerzen mit Morphin oder anderen Schmerzmitteln gelindert werden, und dass dem Schwerkranken mit der Würde begegnet wird, die jedem Menschen zusteht. Die Hospizbewegung und die Palliativmedizin brauchen unbedingt jede nötige Unterstützung. Damit ist klar: Es geht nicht um Medizin um jeden Preis und auch nicht um eine Lebensverlängerung um jeden Preis. Auch das Sterben gehört zum Leben, auch das Sterben muss menschenwürdig bleiben.
Der letzte Papst, Johannes Paul II, hat das für mein Empfinden sehr vorbildlich vorgelebt. Er hat lange um sein Leben gekämpft. Bis Ostern 2005 gab es Stimmtherapie, den Segen Urbi et Orbi wollte er noch sprechen. Aber nicht vom Krankenzimmer aus, sondern von zuhause. Als das nicht mehr ging, beschloss er – so habe ich es über die Medien vermittelt erlebt – dass nun die ärztliche Kunst an ihre Grenzen gekommen ist. Er lebte in der Hoffnung auf das Ewige Leben, auf ein erfülltes Leben in der Nähe Gottes im Hier und Jetzt, das mit dem Tod nicht endet. In dieser Hoffnung konnte er leben und sterben.

Wir müssen den Sterbeprozess wieder nach Hause holen. In die Familie, in die eigenen vier Wände. Dazu braucht es ehrenamtliches Engagement in Hospizinitiativen, um Sterbende und ihre Familien zu unterstützen. Dazu braucht es Hospize und Palliativmedizin, also Medizin, die Leiden lindert und Symptome behandelt, wenn es keine Aussicht auf Heilung mehr gibt. Dazu braucht es Hausärzte, die im Umgang mit Demenz und Schmerzbehandlung geschult sind. Und es braucht eine öffentliche Aufmerksamkeit für die Tatsache, dass immer mehr Menschen alleine alt werden, ohne Kinder und soziale Absicherung durch die Familie.

Dazu braucht es auch eine Patientenverfügung, in der man bestimmte Themen wie PEG-Sonde, also künstliche Ernährung, und weitere Themen, mit denen man sich intensiv auseinander gesetzt hat, anspricht.

Aber eine zu 100 Prozent bindende Patientenverfügung, die dem Arzt, den Angehörigen oder Vertrauenspersonen keinerlei Ermessensspielraum lässt, wie in der aktuellen, so nicht vorhersehbaren Situation konkret im Sinne des Patienten entschieden werden soll, darf es meiner Meinung nach nicht geben.

Nachtrag 27.05.2013:

Ich bin jetzt auf das Buch “Patientenverfügung” von Thomas Klie und Johann-Christoph Student getroffen. Es sei eine Quadratur des Kreises, eine rechtlich zu 100 Prozent bindende Vorausverfügung zu machen, wenn sich die Rahmenbedingungen dafür ständig ändern und ändern müssen. Sie schlagen daher eine “Dialogische Patientenverfügung” vor:

“Wirklich zu leben bedeutet, im Dialog zu bleiben – mit sich selbst und anderen. …

Eine Patientenverfügung, die wirkliches Leben bis zum Ende zulässt, muss diesem urmenschlichen Bedürfnis nach Kommunikation gerecht werden und sie fördern.

Die meisten der gängigen Patientenverfügungen haben eher eine Tendenz, Kommunikation zu stören. Häufig sind sie abschließend, ‘definitv’, also letztlich unkommunikativ formuliert. Damit gefährden sie gerade das, was den meisten Menschen am Lebensende so sehr am Herzen liegt: Sicherheit und Selbstbestimmung. Nur wenn Patientenverfügungen dazu anregen, ja dazu auffordern, sich in den Dialog mit dem Schwerkranken zu begeben, können sie auch sichern, dass seine Wünsche und Bedürfnisse wirklich erfüllt werden.” (S. 175 ff.)

Die Autoren schlagen vor, rechtzeitig Anlässe für das Gespräch zu suchen und zu finden und mit den Menschen zu sprechen und Wünsche zu formulieren: “Wer soll für mich medizinischen Entscheidungen treffen, wenn ich dazu nicht mehr in der Lage bin? … Welche Art von medizinischer Behandlung wünsche ich jetzt noch? Wie soll für mein Wohlergehen gesorgt werden? Wie sollen Menschen in meiner Umgebung mit mir umgehen?” Was möchte ich Menschen mitteilen, die mir besonders wichtig sind? (S. 179-191 mit detaillierten Vorschlägen, wie solche Wünsche aussehen könnten)

Bernd Kehren

Literatur:

Vorsorge für Unfall, Krankheit und Alter
durch Vollmacht, Betreuungsverfügung, Patientenverfügung
Herausgegeben vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz
Als Download (bitte nach “Vorsorge Unfall” suchen!)
4,90 Euro
Verlag C.H. Beck

Besonders wichtig erscheint mir der Hinweis dieses Heftes, dass eine Vollmacht keinerlei Bedingungen enthalten sollte. Also nicht: “Für den Fall, dass ich geistig nicht mehr in der Lage sein sollte” o.ä., sondern: “Ich, n.n., bevollmächtige n.n.”
Einzelheiten dazu in diesem Heft

Patientenverfügung. So gibt sie Ihnen Sicherheit.
Thomas Klie / Johann-Christoph Student. Kreuz Verlag 2011
www.kreuz-verlag.de

Die persönliche Patientenverfügung
Ein Arbeitsbuch zur Vorbereitung mit Bausteinen und Modellen

Rita Kielstein, Hans-Martin Sass
LitVerlag Münster
www.lit-verlag.de

Das Wichtigere hieran ist die Einladung, sich mit konkreten Situationen auseinander zu setzen, um im zweiten Schritt eine eigene Verfügung formulieren zu können.
(Update des Textes am 25.09.2006 und am 27.05.2013)

Welcher Friedhof?

Gedanken zur Wahl der Grabes oder des Friedhofs

Wenn ich gefragt werde, ob ich eine Beerdigung übernehmen kann, ist die Entscheidung für eine Bestattungsart, für ein bestimmtes Grab oder einen bestimmten Friedhof meist gefallen. Aber vielleicht schauen Sie vorher hier vorbei. Dann finden Sie hier einige persönliche Gedanken, welcher Friedhof oder welche Bestattungsart zu Ihnen passen könnte. Dabei spare ich in einigen Fällen auch meine Zweifel nicht aus.

Im Laufe der Jahre habe ich an vielen unterschiedlichen Gräbern gestand und weiß immer noch nicht, welches für mich das geeignetste Grab ist. Bei vielen Gesprächen habe ich aber gelernt, wie wichtig dabei die Angehörigen sind.

Manche brauchen ein Grab als Ort ihrer Trauer. Manche Menschen sind todunglücklich, wenn sie keine Gelegenheit habe, das Grab eines lieben Verstorbenen zu pflegen und zu gestalten.
Andere wiederum brauchen gar kein Grab, sondern finden in ihrem Herzen oder an ganz anderen Stellen den Ort, den sie zum Trauern brauchen. Dazwischen gibt es viele Abstufungen. Es lohnt sich auch, die teilweise ganz unterschiedlichen Kosten für das Grab, den Grabschmuck und die Grabpflege im Detail zu vergleichen und dabei auch daran zu denken, wie lange diese Gräber jeweils bestehen werden.

Anonyme Gräber?

Ich glaube, dass dies nur in ganz wenigen besonderen Fällen eine wirklich gute Lösung ist. Ich merke das immer wieder, wie schwer es Angehörigen fällt, den “letzten Weg” nicht begleiten zu können. Nach der Trauerfeier müssen sie die Halle verlassen oder wird der Sarg weggefahren. Völlig fremde Menschen werden ihn oder später die Urne beisetzen – und man kann nicht dabei sein. Viele Friedhöfe haben die große Not von Freunden und Angehörigen erkannt und erlauben es, zumindest im kleinen Kreis bei der Beisetzung dabei zu sein und ein Vaterunser sprechen zu können.

Gepflegt soll es sein! Oder jedenfalls nicht ungepflegt aussehen!

Bestattungswälder

Sie heißen z.B. “Friedwald”, “Ruheforst” oder “FinalForrest”, um nur zwei bekanntere Namen von Bestattungswäldern zu nennen. Kirchlich waren sie kritisch beäugt wegen ihrer anfangs etwas esoterisch angehauchten Auffassung, dass der Leichnam über die Asche in den ewigen Kreislauf der Natur eingeht. Für mich ergeben sich zwei Hauptvorteile dieser Bestattungsform: Es entfällt jegliche Grabpflege und es wird in der Regel keine Brief am Ende der Liegezeit kommen und fragen, was nun mit dem Grab und dem Grabstein geschehen soll. Diese Bestattungswälder sind meist vor noch gar nicht so langer Zeit eingerichtet und für 99 Jahre im Grundbuch eingetragen. Wer jetzt beerdigt wird, kann oft noch bis zu 90 Jahre dort liegen bleiben. Inzwischen werden dort aber auch preisgünstigere Gräber mit kürzeren Liegezeiten angeboten.

Hinzu kommt eine in der Regel sehr angenehme Atmosphäre. Nachteile sehe ich vor allem für ältere Menschen, denen es mit zunehmender Gebrechlichkeit schwer fallen wird, das Grab mit Rollator oder Rollstuhl zu erreichen. Die Trauerfeier selbst ist natürlich auf gutes Wetter angewiesen, weil es in der Regel keine Trauerhalle gibt. An den Bäumen kann eine kleine Namensplakette angebracht werden. Weitere Formen des Gedenkens sind in der Regel nicht möglich. Diese Bestattungswälder liegen in der Regel etwas weiter von den Angehörigen entfernt, soweit sie nicht direkt im Ort wohnen.

Gärten der Bestattung

Eine Ausnahme, die ich kenne, sind die “Gärten der Bestattung” in Bergisch-Gladbach (der erste Privatfriedhof in Deutschland, ein Projekt von Fritz Roth). Dort sind keine anonymen Bestattungen möglich. Die Angehörigen haben aber große Freiheiten, wie sie die Urnengräber unter den Bäumen gestalten. Solange keine Waldbrandgefahr besteht, sind auch Lampen möglich, regelrechte kleine Grabsteine ebenso wie Findlinge mit dem Namen. Ich erinnere mich z.B. an eine E-Gitarre mit Grabinschrift… Hier bestehen sehr individuelle Möglichkeiten, seiner Trauer Ausdruck zu verleihen. Wer allerdings nicht direkt in Bergisch-Gladbach wohnt, wird lange Wege zu diesem Friedhof inkauf nehmen müssen.

Baumbestattungen

Als Reaktion auf die Bestattungswälder gibt es inzwischen auf vielen Friedhöfen das Angebot einer Baumbestattung. In kleinen Kreisen können bis zu 10 oder 12 Urnen auf der Rasenfläche rund um die teilweise neu gepflanzten Bäume beigesetzt werden. Eine Namensplakette im Boden erinnert an den Verstorbenen. Grabschmuck soll nicht abgelegt werden, damit der Rasen ständig problemlos gemäht werden kann. Auf manchen Friedhöfen sind die Bäume mit Gussstahl-Gittern geschützt, in die man ein kleines Grablicht oder eine kleine Blumenvase einhängen kann. Hier (wie auch in den “Gärten der Bestattung” sind die Liegezeiten ähnlich wie auf einem “normalen” Friedhof. Nach regional unterschiedlichen Zeiten zwischen 15 bis 35 Jahren werden die Gräber eingeebnet bzw. aufgelöst und können neu vergeben werden. Im Vergleich zu den Bestattungswäldern sind diese Gräber relativ ortsnah und können auch mit Rollstühlen und Gehhilfen gut erreicht werden.

Grüne Wiese, grüne Reihe: Rasengräber

Es geht pflegeleicht auch ohne Baum. Die meisten Friedhöfe haben unterschiedliche Angebote von Reihengräbern, bei denen entweder Namensplaketten in den Rasen eingelassen werden oder die Grabsteine so gestaltet werden, dass davor eine Rasenfläche einfach gemäht werden kann. Manchmal ist es dann sogar möglich, auf den Sockel neben dem Grabstein eine Blumenvase aufzustellen. Auf manchen Friedhöfen gibt es zentrale Gedenksteine, vor denen Blumen abgelegt werden können, manchmal ist es möglich, den Namen und das Geburts- und das Sterbedatum eingravieren zu lassen.

Bestattungsgärten

In manchen Großstädten haben sich so viele Menschen für eine Bestattung in einem Bestattungswald entschieden, dass die Einnahmeseite von Friedhöfen, Steinmetzen und Friedhofsgärtnern in eine grobe Schieflage geraten ist. Aus der Not heraus haben sie in Einzel- oder Gemeinschaftsinitiative begonnen, vor Ort auf ihren Friedhöfen pflegeleichte Gärten anzulegen, in denen Feuer- und zum Teil auch Erdbestattungen möglich sind. Dabei sind echte kleine Schmuckstücke entstanden, zum Teil Hochbeete in gemauerten labyrinthähnlichen Anlagen, Lavendel-, Stein- und Rosengärten mit geschmackvollen Stelen-Ensemblen als Grabsteinen. Die Grabpflege ist im Verhältnis gar nicht so teuer und im Vergleich zu mancher klassischen Grabgestaltung fühlen auch jüngere Menschen sich dort im Trauerfall in einer Weise geborgen, mit der sie selber gar gerettet hätten.

Leider gibt es diese Möglichkeiten noch nicht überall. Es lohnt sich aber, sich rechtzeitig zu informieren. Schöne Beispiele finden Sie z.B. auf dem Melatenfriedhof Köln. Und vielleicht können Sie ja auch Ihre örtliche Kommune, einen örtlichen Friedhofsgärtner oder eine Genossenschaft auf Friedhofsgärtnern und Steinmetzen anregen, die diese Idee auch bei Ihnen umsetzt.
Der eigenen Kreativität sind durch das Gartenkonzept Grenzen gesetzt. Der zuständige Gärtner wird Sie zum  Entfernen Ihrer Pflanzen oder Gestaltung auffordern, wenn es nicht in das pflegeleichte und gestalterische Konzept passt.

Kolumbarium

Kolumbarien sind Urnenwände, die teilweise auf Friedhöfen, zunehmend auch in entwidmeten Kirchen angelegt werden. Sie sind meist sehr stilvoll, im Freien leider nicht immer genügend witterungsbeständig und werden zunehmend nachgefragt. Sie sind auch für Menschen mit körperlichen Einschränkungen gut zu erreichen, meistens können Blumen abgelegt werden. Ich persönlich empfinde sie aber als “vorletzte Ruhe”, weil die Urne nach Ablauf der Liegezeit dort entfernt wird und (erst) anschließend einen endgültigen Platz findet.

Verstreuung

Verstreuungen sind je nach Landesgesetzgebung nur möglich, wenn der Verstorbene sich zu Lebzeiten damit (hand-) schriftlich einverstanden erklärt hat. Manche Krematorien bieten eine Verstreuung auf ihren benachbarten Friedhöfen sehr kostengünstig an.

Bei der Bestattung wird oft eine “Verstreuungsurne” verwendet, die man unten öffnen kann. Auf der Erde sieht man dann einen entsprechenden Asche-Hügel oder je nach Verstreuung ein entsprechendes Muster. Mancherorts wird daher ein Stück Grasnarbe abgehoben, die Asche an dieser Stelle verstreut und anschließend wieder mit dem Stück rasen bedeckt.

Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Asche mithilfe der Streuurne relativ großflächig zu verstreuen. Mancherorts wird auch die Aschekapsel mit großem Schwung entleert. Es kann gut geschehen, dass man anschließend den Staub auf Schuhen und Kleidung hat.

Bei dieser Bestattungsart sollte vorher besonders gut überlegt und abgesprochen sein, wie sie gestaltet wird. Wichtig ist, dass diese Bestattung gut begleitet wird. Die Anwesenden sollten wissen, was sie erwartet.

Gute Bekannte waren einmal völlig entsetzt, als der Bestatter ohne Vorankündigung plötzlich hinter einem Busch verschwand und plötzlich mehrfach eine Aschewolke zu sehen war.

Im Gegensatz dazu habe ich eine sehr würdevolle Verstreuung erlebt, bei der der Redner im Rahmen der Zeremonie die Asche in einer feinen Schicht großflächig auf dem Rasen verteilte. Diese Schicht wird nach dem nächsten Regen nicht mehr zu sehen sein. Für andere ist es gerade wichtig, dass die Asche an einer bestimmten Stelle noch länger zu sehen ist.
Wenn man vorher darüber nachgedacht hat, kann man auch diese Bestattungsart sehr würdevoll gestalten.

Noch einmal: Anonyme Beisetzung

Beim Besuch des hiesigen Krematoriums wurde von einem Konkurrenten erzählt, der auch sehr günstige anonyme Beisetzungen anbietet. Der Betreiber kommt aus dem Tiefbaugewerbe und soll entsprechende Rohre senkrecht in der Erde versenkt haben. Auf diese Weise muss er zur Beisetzung nur oben die Grasnabe abheben, den Deckel öffnen und kann kurz und schmerzlos ein Dutzend (?) Urnen übereinander gestapelt “beisetzen”.

In der Historie wurden einmal die Christen gelobt, weil man deren Haltung auch daran ablesen konnte, mit welcher Ehrfurcht sie den Verstorbenen begegneten. Wenn es bei der Beisetzung nur noch auf eine möglichst preisgünstige Entsorgung ankommt, dann ist es an der Zeit, diese gesellschaftliche Fehlentwicklung laut zu beklagen.

Andererseits ist vor einer zu offensichtlichen Verklärung zu warnen. Wenn man eine malerische gut geschmückte Trauerfeier am Sarg erlebt und hinterher eine ebenso schön gestaltete persönliche und zugewandte Verabschiedung, dann kann man durchaus einen heftigen Widerspruch erleben (“Gegenwart” – Dokumentation auf Arte), wie fabrikmäßig mancherorts die Einäscherung organisiert wird und die Urnen völlig ungeschmückt im Schwerlastregal auf den Weiterversand warten.
Eine schematische Darstellung der Einäscherung kann man auf Youtube anschauen.

Diamantbestattung

Manchmal hört man auch von einer Diamantbestattung. In einem kostspieligen Prozess wird der in der Asche enthaltene Kohlenstoff gereinigt, konzentriert und unter hohen Druck zu einem kleinen Diament gepresst. Dazu sollte man Folgendes wissen: In einem “normalen” Krematorium läuft der Verbrennungsprozess so ab, dass der im Körper enthaltene Kohlenstoff vollständig zu Kohlenstoffdioxid verbrannt wird. Es ist also gar kein Kohlenstoff mehr da, der gepresst werden könnte. In der Urne sind daher vor allem Kalzium-Reste aus den Knochen. Es soll Anbieter geben, die daher kleine Diamanten in diese Asche legen, deren “Kraft” in diese Diamanten übergeht. Fragen Sie mich bitte nicht, was ich davon halte. In anderen Fällen wird der Verbrennungsprozess im Krematorium so gestaltet, dass dabei in der Tat noch Kohlenstoff für eine Diamantenpressung vorhanden ist. Wer sich dafür interessiert, sollte sicherlich sehr sorgfältig nachfragen, ob tatsächlich genau das passiert, was man sich darunter vorstellt.

Weltraumbestattung

Zur “Weltraumbestattung” sollte man anmerken, dass nur eine lippenstiftgroße Patrone ins All geschossen wird. Der Rest bleibt dann irgendwo hier auf der Erde. Wird die “Rakete” mit einem Feuerwerkskörper in die Luft geschossen, dass ist das sicherlich außerhalb der Grenzen des deutschen Rechts geschehen – und wie alle derartigen Raketen handelt es sich um verhältnismäßig niedrige Höhen, die derartige Geschosse erreichen. Wenn sie nicht als  Irrläufer quer über den Boden rasen, wie man auf diversen Filmen im Internet nachverfolgen kann.

Seebestattung

Wesentlich seriöser erscheint mir die Seebestattung. Mit einem kleinen Kutter fahren die Angehörigen zu einer der Stellen im Meer, die dafür z.B. in der Nordsee vorgesehen sind. Die Schiffsbesatzung lässt die wasserlösliche Urne mit einem Blütenkranz zu Wasser. Sie löst sich in kurzer Zeit auf, die Asche geht in diesem Bereich auf den Boden nieder. Über den genauen Ort erhalten die Angehörigen eine Seekarte.

Reihen- und Wahlgräber

Daneben gibt es nach wie vor die klassischen Reihen- oder Wahlgräber. Hier hat man alle Möglichkeiten der eigenen und beauftragten Grabgestaltung. Die Friedhöfe sind meist in der Nähe des letzten Wohnorts, was gerade für Ehepartner sehr hilfreich sein kann. In diesen Fällen hat man ggf. alle gestalterischen Möglichkeiten. Auch wenn meine Kommentierung hier besonders knapp ausfällt, ist und bleibt das eine angemessene und für viele Menschen hilfreiche Möglichkeit, bei der ich Trauernde gerne begleite.

Wenn bis hierher etwas fehlt, das Ihnen wichtig erscheint oder aus Ihrer Sicht richtig gestellt werden müsste, bin ich übrigens für einen Hinweis dankbar.

Große Beerdigung – kleine Beerdigung

n manchen Fällen ist von vorneherein klar, dass es eine große Beerdigung werden wird: Wenn ein Mensch, den viele gut kannten, plötzlich und viel zu früh stirbt, wird sein Tod mit großer Anteilnahme bedacht. Manchmal ist die für Eltern ein großer Trost zu spüren, dass sie in ihrer Trauer nicht allein sind, dass diese Trauer von vielen Menschen geteilt wird.
Das gilt oft auch für die weniger spektakulären Trauerfälle. In vielen Fällen gibt es nur noch wenige Angehörige, manchmal gar keine. Dann ist es gut, wenn vor Ort Menschen da sind, die auch in diesen Fällen dafür sorgen, dass niemand einsam beerdigt wird. Immer wieder aber haben Menschen verfügt, dass ihre Beisetzung nur im ganz kleinen Kreis stattfinden soll, obwohl viele Menschen um sie trauern und den Angehörigen gerne ihr Mitgefühl ausdrücken würden. Ich kann nicht müde werden zu betonen, wie wichtig daher das Gespräch darüber ist.

Wozu soll man sich entscheiden?

Das muss und darf im Rahmen seiner Möglichkeiten jeder für sich entscheiden. Manchmal merkt man es Sterbenden förmlich an, wie gut es ihnen tut, wenn sie wissen, dass alles in Ihrem Sinne geregelt wird.
Tragisch wird es allerdings dann, wenn die Verstorbenen zu Lebzeiten nicht mit Ihren Nachkommen darüber gesprochen und dann Dinge und Abläufe bestimmt haben, die den Angehörigen nicht gut tun. Ich habe schon so viele Trauerfeiern erlebt, die im kleinen Kreis stattfanden, obwohl es den Angehörigen gut getan hätte, Unterstützung bei Freunden und Nachbarn zu finden. Sie mussten darauf verzichten, weil der Verstorbene es anders festgelegt hatte.

Wie oft habe ich mit einem Unbehagen im Bauch zusammen mit Angehörigen die Trauerhalle mit dem Sarg oder der Urne verlassen, weil der Verstorbene dies so verfügt hatte, ohne mit den Angehörigen zu sprechen, was dies für sie bedeutet!

Der Tod gehört zum Leben. Wir können uns ihm nicht entziehen, auch wenn wir den Gedanken daran verdrängen. Aber wir können ihn in gewisser Hinsicht so gestalten und vorbereiten, dass wir gut sterben und dass unsere Nachkommen damit gut leben können. Dazu braucht es das offene Gespräch, zu dem ich an dieser Stelle ausdrücklich Mut machen möchte.

Bestattungs- und Grabpflege-Vorsorgeverträge

Es ist nicht verkehrt, sich rechtzeitig darum zu kümmern, wie die Beerdigung und die Grabpflege finanziert wird. Welche Möglichkeiten bieten die unterschiedlichen Bestatter? Wie viel Zeit nehmen sie sich für die Angehörigen? Wie viel Zeit können sie den Angehörigen geben, damit sich diese bis zur Beisetzung am offenen Sarg verabschieden können? Haben sie eigene Räume dafür oder können sie örtlich vorhandene kirchliche oder kommunale Räume dazu nutzen? Können sie durch Krankheit oder Unfall verunstaltete Leichname so herrichten, dass man mit ihrer Hilfe trotzdem Abschied nehmen und den Tod im wahrsten Sinne des Wortes “begreifen” kann? Könnten solche Möglichkeiten für Sie wichtig sein? Was kostet dann eine Beerdigung?

In unserer Zeit wird auch die finanzielle Vorsorge wichtiger. Wenn Menschen pflegebedürftig werden, muss oft das Sozialamt einspringen. Die “Schonbeträge” für das eigene Vermögen sind relativ gering. Angemessene Beträge für die Beerdigung und die Grabpflege dürfen zusätzlich zurück gelegt werden, solange bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Man könnte die Beerdigung beim Bestatter schon bezahlen. Wichtige Fragen: Wer erhält die Zinsen aus diesem Geld? Wie hoch ist die Verzinsung? Wer bezahlt dafür die Steuern? Ist das Geld verloren, wenn der Bestatter einmal Insolvenz anmelden oder das Institut aufgeben muss? Was passiert mit diesem Vorsorgevertrag, falls man einmal umziehen muss? Kann man dann dieser Vertrag mühelos zu einem Bestatter vor Ort “umziehen”? Wer kontrolliert die Einhaltung des Vertrags gerade in den Fällen, in denen Alleinstehende vorsorgen möchten?

Ein seriöser Bestatter wird für diese Fragen Verständnis haben. Die Bestatterverbände bieten Treuhandverträge an, bei denen die angelegten Gelder gegen Insolvenz geschützt sind und die Umsetzung der Verträge kontrolliert werden. Auch der “Umzug” der Verträge ist möglich.

Den Trauernden und sich selber Spielraum lassen

In manchen Fällen hat man sich sehr detailliert Gedanken gemacht und entsprechende Vorbereitungen getroffen. Dass man noch viele Jahre leben würde, hat man gar nicht erwartet. Und dass sich in der Zwischenzeit die eigenen Vorstellungen ändern können oder das Recht oder die Lebensumstände: Damit hat man nicht gerechnet. Aber der Stein ist schon fertig (bis auf das Sterbedatum)… Vielleicht sollte man das eine oder andere doch noch offen lassen oder zumindest seine diesbezügliche Verfügung regelmäßig aktualisieren.

Bernd Kehren
01.06.2015

Die 150-Prozentigen sind die Schlimmsten

14. August 2016 – 10:00 Uhr
Gottesdienste im Dietrich Bonhoeffer-Haus, Odendorf

Apostelgeschichte 9, 1-20
Eine Predigt über einen Mann, den Gott nicht mit Wattebäuschchen von seinem Wahnsinn abbrachte.

 

Liebe Gemeinde,

beim Predigttext wird es heute um die Bekehrung des Saulus zum Paulus gehen.

Man kann über diese Geschichte vom Paulus her nachdenken: Was ist da passiert, dass er sich bekehrt hat. Und man kann vergleichen, ob und wie wir uns bekehrt haben.

Ich möchte heute einen anderen Weg gehen und nach den Religionen fragen: Wie man sie aussucht, wann man sie wechselt, und schließlich, ob Paulus seine Religion überhaupt gewechselt hat und ob da nicht etwas ganz anderes passiert ist.

 

Die 150-Prozentigen sind oft die Schlimmsten

Übrigens in allen Religionen. Und auch bei den Atheisten. Daher zuerst die Frage: Was möchte Religion? Was möchten eigentlich alle Religionen?

Antwort:
Immer geht es der Religion darum, dass Menschen gut und friedlich miteinander leben können. Dass das Leben einen Sinn hat. Dass man in einer guten Gemeinschaft leben kann. Dass man von Liebe und nicht vom Hass geprägt ist. Dass man frei leben kann. Dass niemand im Stich gelassen wird.

Das Christentum und das Judentum sind solche Religionen. Sicher nicht die einzigen. Aber wir sind nun mal Christen, da können wir uns gerne auch darauf beschränken.

Müssen wir unsere Religionen mit anderen vergleichen? Das kann durchaus sinnvoll sein. Und dabei fallen mir hin und wieder Dinge auf, bei denen ich mich freue, Christ zu sein. An diesen Stellen empfinde ich es so, dass es mir im Christentum doch besser geht als in anderen Religionen. Und doch möchte ich vorsichtig sein und mir nicht zu viel drauf einbilden. Zu viel Schaden haben Menschen angerichtet, die ihre eigene Religion als die beste und höchste und schönste angesehen haben.

Manch einer tut so, als sei seine Religion die beste und größte und schönste. Eine ganze Zeit lang hat man sich da von einer fehlgeleiteten Vorstellung von Evolution leiten lassen. Man hat diesen Gedanken von Evolution auf die Religionen übertragen – und schwups galt das Christentum im Rahmen der weltweiten  Religionsgeschichte als die Krone der Religionen. Und auf die anderen wurde hinabgeblickt. Das Judentum – eine Gesetzesreligion. Davor – und zum Teil wurde auch das Judentum hinzu gezählt – gab es die primitiven Stammesreligionen. Und der Islam: Der ist zwar nach dem Christentum entstanden, aber die Höhe und Größe des Christentums habe er niemals erreicht. Die Nationalsozialisten versuchten, noch eins drauf zu setzen, das Christentum von allen niederen Bestandteilen zu reinigen und auf dieser evolutionären Entwicklung die allerhöchste Krone zu erobern.

Auf die anderen kann man dann herabblicken. Den anderen kann man dann den Wert absprechen. Sie sind doch selber schuld, wenn sie auf ihrer primitiven Stufe stehen bleiben wollen. Sie sind minderwertig. Und es schadet nichts, wenn man sie ausmerzt. Im Gegenteil. Von solchen Elementen gereinigt, kann die eigene Religion einen viel größeren und edleren Glanz entwickeln.

Aber warum sollte man eine Religion entwickeln, wo es doch so viel Auswahl gibt?

Manche der Religiösen probieren die Religionen gewissermaßen der Reihe nach durch, suchen nach der perfekten Religion, und lassen voller Verachtung hinter sich, was den hohen Ansprüchen nicht genügt. Und mache davon setzen noch eines drauf. Ihnen genügt es nicht, die beste Religion gefunden zu haben. Sie müssen auch die anderen, die mit den weniger guten Religionen aktiv bekämpfen. Wer sich dieser hohen Religion nicht anschließt, hat plötzlich sein Recht auf Leben verwirkt. Man muss ihn zwar nicht umbringen, aber wenn man es doch tut, ist es auch nicht schade um ihn. Auf jeden Fall kann er dann der eigenen Religion nicht mehr im Wege stehen. Selbst unser Reformator Martin Luther war leider nicht ganz frei von solchen Gedanken.

Und Paulus war es auch nicht. Die Religion soll Frieden bringen. Aber wehe, jemand hat eine andere Religion.

Hören wir auf Apostelgeschichte, Kapitel 9:

In Anlehnung an die Bibel in gerechter Sprache, Apg 9,1-20

1 Saulus schnaubte immer noch Drohung und Mord gegen die Schülerinnen und Schüler des Herrn. Er trat an den Hohenpriester heran 2 und erbat sich von ihm Briefe an die Synagogen in Damaskus: Wenn er dort welche finde, die sich an diese Richtung hielten, wolle er sie, Männer wie Frauen, gefesselt nach Jerusalem bringen. 3 Als er auf der Reise nahe an Damaskus herankam, umstrahlte ihn plötzlich Licht vom Himmel her. 4 Er stürzte zu Boden und hörte, wie eine Stimme zu ihm sagte: »Saul, Saul, was verfolgst du mich?« 5 Er sagte: »Wer bist du, Herr?« Der antwortete: »Ich bin Jesus, den du verfolgst. 6 Jetzt aber: Steh auf und geh in die Stadt! Dort wird dir gesagt werden, was du tun sollst.« 7 Die Männer, die mit ihm reisten, standen sprachlos da; sie hörten zwar die Stimme, sahen aber niemanden. 8 Saulus erhob sich vom Boden. Obwohl er die Augen offen hatte, konnte er nichts sehen. So führte man ihn an der Hand nach Damaskus hinein. 9 Drei Tage lang konnte er nicht sehen; und er aß nicht und trank nicht.

10 In Damaskus gab es einen Jünger namens Hananias. Zu ihm sagte der Herr in einer Vision: »Hananias!« Der sagte: »Da bin ich, Herr,« 11 Darauf der Herr zu ihm: »Auf, geh zur >Geraden Gasse< und suche im Haus des Judas einen Saulus aus Tarsus auf! Er wird dir auffallen, weil er betet. 12 Und er hat in einer Vision einen Mann namens Hananias gesehen, wie er hereinkam und ihm die Hände auflegte, damit er wieder sehe.« 13 Hananias antwortete: »Herr, ich habe von vielen über diesen Mann gehört, was alles er deinen Heiligen in Jerusalem Böses angetan hat. 14 Auch hier hat er Vollmacht von den Oberpriestern, alle festzunehmen, die deinen Namen anrufen.« 15 Der Herr sagte zu ihm: »Geh nur hin! Denn diesen habe ich mir als Werkzeug ausgewählt, um meinen Namen vor Völker zu tragen, vor Königinnen und Könige und vor das Volk Israel. 16 Ich will ihm nämlich zeigen, wie viel er für meinen Namen leiden muss.« 17Hananias ging weg, ging in das Haus, legte ihm die Hände auf und sagte: »Saul, lieber Bruder, der Herr hat mich geschickt, Jesus, der dir auf dem Weg, den du kamst, erschienen ist. Du sollst wieder sehen und von heiliger Geistkraft erfüllt werden.« 18 Sogleich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und er konnte wieder sehen. Er stand .auf und ließ sich taufen, 19 nahm Speise zu sich und kam wieder zu Kräften.

Er hielt sich einige Tage bei den Jüngerinnen und Jüngern in Damaskus auf 20 und verkündete .sogleich in den Synagogen, dass Jesus der Sohn Gottes sei.

 

Wir alle kennen diese Geschichte als die Bekehrung des Saulus zum Paulus.
Hinweisen möchte ich dabei, dass Paulus auch danach immer noch „Saulus“ genannt wird, und dass Paulus auch danach immer noch Jude blieb und in den Synagogen gepredigt hat.

Paulus hat sich nicht vom Judentum abgewandt und zum Christentum bekehrt! Einer solchen Vorstellung müssen wir ausdrücklich widersprechen.

Ich glaube, dass das, was da geschehen ist, gar nichts einer speziellen Religion zu tun hat. Es kann sich so in fast jeder Religion so ereignen.

In allen Religionen gibt es Menschen, die glauben, sie müssten die Sache Gottes in die eigenen Hände nehmen. Ihnen ist zwar einerseits klar, dass nur Gott allmächtig ist.
Trotzdem kommen diese Anhänger Gottes auf die Idee, dass sie selber nicht nur Anteil an dieser Unfehlbarkeit haben, sondern dass sie selber unfehlbar sind und das Recht haben, an Gottes Stelle handeln zu dürfen.
Sie haben mit ihrer Auffassung recht und die anderen Unrecht. Und wer Unrecht hat, kann auch verfolgt werden.

Paulus kam nicht damit zurecht, dass die Jesusanhänger anders glaubten, als er es tat.
Dabei ist das Judentum durchaus eine Religion der Diskussion. Im babylonischen Talmud werden ganz unterschiedliche Auslegungen überliefert, damit die Nachfahren sich aus den unterschiedlichen Auslegungen eine eigene Meinung bilden können.
Paulus wollte nicht, dass sich die Nachfahren eine eigene Meinung bilden. Die Meinung dieser Christusanhänger sollten zum Schweigen gebracht werden.

Kommt Ihnen dabei auch die gegenwärtige Entwicklung in der Türkei in den Sinn? Redaktionen werden geschlossen, Redakteure werden entlassen oder verhaftet. Die Opposition soll aus dem gesellschaftlichen Leben gedrängt werden. Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich. Angst und Misstrauen machen sich breit.

Ich muss aber auch an Menschen denken, die sich selbst „bibeltreu“ nennen und denen, die die Bibel anders auslegen als sie, die Bibeltreue absprechen. Da wird zwar meist niemand physisch verfolgt, aber man findet in den Äußerungen mancher dieser „Bibeltreuen“ ein Maß an Verachtung, das einen nur traurig stimmen kann. Und geht man in manches andere Land in der Welt, in der nicht nur das Christentum, sondern auch der Staat homophob geprägt ist, dann kann mit dieser Form Bibeltreue durchaus auch die Todesstrafe für Homosexuelle begründet werden.

Unsere Geschichte spielt also nicht nur in der Vergangenheit, sondern ist oft auch noch Teil unserer Gegenwart. Und es sind nicht nur die anderen Religionen, sondern es betrifft auch unsere eigene Religion.

Paulus damals hat es besonders schlimm getrieben. Aber Gott hat mit ihm noch eine Menge vor. Es trifft ihn wie ein Blitz. „Saul, Saul, warum verfolgst Du mich?“

Es kling ein wenig vorwurfsvoll. Aber noch viel mehr klingt es traurig. Als wolle Jesus sagen: „Was habe ich dir eigentlich getan? Ich bin doch Jude wie du! Ich glaube an den Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat. Ich glaube an den Gott, der jeden Menschen zu seinem Ebenbild erschaffen hat. Wir sind doch Ebenbilder! Gibt es wirklich einen Grund, so miteinander umzugehen? Saul, Saul, warum verfolgst du mich?“

Ist es diese Erfahrung, die wie ein Blitz bei Paulus einschlägt und ihn förmlich umhaut, so dass er nichts mehr sehen kann?

Oder ist es diese Frage, die ihn so infrage stellt, dass ihm die Augen für drei Tage versagen? Ich möchte nicht wissen, was einer der Psychiater oder Neurologen auf einer der Stationen dazu sagt, auf denen ich in Euskirchen Patienten seelsorglich betreue.

Aber es geht nicht darum, diese Erzählung psychologisch zu erklären. Es geht um die Beziehung zu Gott.

Paulus hatte sich gegen Gott gestellt. So wie damals Jona in Ninive. Wie Jona drei Tage im Bauch des Wals in Sicherheit gebracht wurde, so wurde Saulus in den Tagen seiner Blindheit für drei Tage gut betreut.

Und Gott sorgt für einen Neuanfang. Es fällt Hananias nicht leicht, zu Saulus zu gehen. Zu viel hatte Saulus den Jesus-Leuten angetan. Aber Hananias bleibt in der Liebe, die Jesus immer gepredigt hat. Die Liebe Gottes und die Liebe der Menschen spricht aus seinen Worten: „Jesus hat mich geschickt, und Du sollst von seinem Geist erfüllt sein!“

Jetzt weiß ich gar nicht, was Saulus mehr beeindruck hat: Die vorwurfsvoll-traurige Frage vor Damaskus – oder die Zusage von Gottes Geist durch Hananias.

„Es fällt ihm wie Schuppen von den Augen.“

Und wie selbstverständlich lässt er sich taufen, noch bevor er etwas isst, um wieder zu Kräften zu kommen. Und fast harmonisch klingt es, wie er sich bei den Jüngerinnen und Jüngern aufhält.
Und wie selbstverständlich geht er in die Synagoge und bekennt sich zu Jesus als dem Gottessohn.

Nein, Paulus hat nicht das Judentum verlassen. Paulus ist Jude geblieben.

Aber die Liebe hat ihn überwunden. Nicht seine Religion ist einer andere geworden, sondern er ist ein anderer geworden. Gottes Liebe, und die Liebe der Jünger haben ihn verändert.
„Warum verfolgst du mich?“
»Saul, lieber Bruder, der Herr hat mich geschickt, Jesus, der dir auf dem Weg, den du kamst, erschienen ist. Du sollst wieder sehen und von heiliger Geistkraft erfüllt werden.«

Was ist daran für uns wichtig?

Derzeit wird in der Türkei die Todesstrafe diskutiert und ich zweifle nicht daran, dass es Präsident Erdogan gelingen wird, sein Volk so zu manipulieren, dass sie tatsächlich eingeführt wird.

Wer die Todesstrafe einführt, rechnet nicht damit, dass aus Feinden Freunde werden. Wer die Todesstrafe einführt, spricht jemandem, der einen großen Fehler begangen hat, die Fähigkeit zu einem Neuanfang ab.

Paulus ist ein sehr gutes Beispiel für einen Neuanfang. Wer die Geschichte von der Bekehrung des Paulus ernst nimmt, kann nicht für die Todesstrafe sein. Die Bekehrung des Paulus setzt gegen die Todesstrafe die liebevolle Zuwendung, die aber ein unmissverständliches Stopp-Signal nicht ausschließt.
Viele Menschen lachen regelmäßig, wenn etwa Margot Käßmann im Angesicht von Terror und Gewalt davon sprechen, man müsse Terroristen mit Liebe begegnen.

Das Schlimme ist: Wie viele Christen lachen regelmäßig über den Vorschlag, selbst brutalen Gegnern mit Liebe zu begegnen!

An der Bekehrung des Paulus kann man sehen, dass Liebe und hartes Eingreifen keine Gegensätze sein müssen. Wenn man so will: Der liebe Gott hat bei der Bekehrung des Paulus nicht mit Wattebäuschchen geworfen. Paulus war wie vom Blitz gerührt, er war drei Tage lang schwerbehindert und konnte nichts essen und trinken.

Liebe schließt nicht aus, dass Menschen für eine begrenzte Zeit aus dem Verkehr gezogen werden. Bei Paulus waren es nur drei Tage, aber drei sehr intensive Tage im Dunkeln.

Wer Menschen in Liebe begegnet, muss sich nicht alles gefallen lassen.

Wer Menschen in Liebe begegnet, kann ihnen auch entgegen treten.
Aber nicht hasserfüllt, sondern voll Trauer und Liebe.

„Paulus, warum verfolgst du mich?“ Liebe und Trauer sind kein Grund, der Aggressivität eines Terroristen enge Grenzen zu setzen.

Wer Aggressivität mit Aggression begegnet, wird die Gewalt nur steigern.

Die Geschichte der Bekehrung des Paulus ist eines von vielen Beispielen dafür, dass Aggression durch Liebe überwunden werden kann.
Es blieben genug weitere Aggressoren. Im weiteren Fortgang wird Paulus fliehen müssen, weil er mit dem Tode bedroht wird.
Ich selber habe damals den Wehrdienst verweigert und Zivildienst absolviert. Das war sicher gut. Aber es muss auch eine effektive Polizei und auch ein effektives Militär geben. Man kann sich nicht alles gefallen lassen. Aggressoren müssen gestoppt werden können.

Aber ich glaube, dass nicht – oder jedenfalls nicht nur die Gewalterfahrung Paulus zu Besinnung gebracht hat. Die vielleicht auch: Der Blitz und die Blindheit. Aber mir scheint, dass viel mehr die traurig-vorwurfsvolle Frage bewirkt hat und die Zusage, dass Gott einen Plan mit Paulus hat.

Letzten Sonntag haben wir von Gottes Gnade gepredigt.

Im Grunde habe ich das heute auch. So wie Gott mit Paulus gnädig war und einen Plan für ihn hatte, so hat er auch mit uns einen Plan und ist gnädig mit uns. Auch wir sind nicht perfekt. Wir verfolgen zwar nicht andere Menschen, jedenfalls nicht so, wie Paulus es getan hat. Aber wenn uns etwas quer kommt, dann können auch wir hin und wieder ganz schön ekelig sein.

Und dann wäre es gut, wenn wir Jesu Stimme hören können: „Warum tust Du mir das an? Warum bist Du gerade so ekelig?“

Manchmal hören wir diese Stimme nicht. Das liegt auch daran, dass Gott nicht in jedem Fall mit Blindheit straft. War es eine Strafe, das Paulus für drei Tage krank war? Oder war es ein Liebesbeweis, der ihm half, zur Vernunft zu kommen?

Manch einer von uns muss tatsächlich ins Krankenhaus kommen, braucht eine erzwungene Auszeit, um mit seinem ganzen Leben vernünftig zu werden.

Manchmal ist es Gottes Strafe, dass wir eben nicht so radikal gebremst werden.

Dass es uns nicht wie Schuppen von den Augen fällt.
Dass wir in unserer Wut gefangen bleiben.

Aber die Zusage bleibt und gilt auch uns: Gott verheißt uns seinen Geist. Gott ist bei uns mit seinem Geist. Wir dürfen leben aus Gottes Geist. Halleluja! Amen!

Taize-Andachten für Demente

Meine Gottesdienste in den Altenheimen werden von mehr oder weniger dementen Menschen besucht. Diese Gottesdienste halte ich relativ klassisch mit lutherisch orientierter gesungener Liturgie:

GottesdienstbesucherInnen ohne Demenz werden durch die Predigt besonders angesprochen, GottesdienstbesucherInnen mit leichter Demenz werden sich zwar nicht mehr an die Predigt erinnern können, aber sie werden merken, dass sie ihnen gut getan hat.

GottesdienstbesucherInnen mit ausgeprägterer Demenz werden von den geprägten Stücken der lutherischen Liturgie angesprochen, die durch vergleichbare Stücke in der katholischen Liturgie in ökumenischer Verbundenheit auch katholischen GottesdienstbesucherInnen vertraut wirkt.

Allerdings ist es organisatorisch nicht zu schaffen, auch jene Bewohnerinnen mit einer ausgeprägteren Demenz in diese Gottesdienste zu bringen. Also muss man sich auf den Weg in die Wohngruppen und in die Zimmer der Bettlägerigen machen.

Angeregt durch einen Artikel von Mechthild Lärm habe ich “Taizé-Andachten” entwickelt, die ich mit meiner Gitarre durch einfache Zupfmuster begleite und mit mehreren ehrenamtlichen Gemeindegliedern gestalte.

Dazu bringe ich Panesamt-Tücher mit und gestalte mit ihnen, mit Kerze und Kreuz sowie Schmucksteinen und Tee-Lichtern eine Mitte. Je nach den Gegebenheiten auf der Station setzen wir uns darum im Kreis, manchmal wird auch nur der Tisch in der Mitte entsprechend gestaltet, und wenn wir anschließend die bettlägerigen Bewohnerinnen und Bewohner in ihren Zimmern besuchen, wird diese Mitte direkt auf einem Tee-Wagen gestaltet.

Eine Verdunklung der Räume wäre in der Regel zu aufwendig, die Andachten sollen bewusst auch organisatorisch einfach gehalten werden.

Der Zielgedanke war, diese Andachten so zu gestalten, dass möglichst viele Sinne angesprochen werden. Darum verwende ich besonders als optischen Reiz gerne das leuchtend rote Tuch, auch wenn vom Kirchenjahr her eher “grün” angesagt wäre. Aber auch die Tücher in den gedeckteren Farben zeigen an, dass jetzt der gewohnte Alltag unterbrochen wird. Unterstützt wird der optische Impuls durch Kerze und Teelichter und die übrigen Materialien.

Der akustische Reiz geschieht durch die Lieder. Zwar sind die Lieder aus Taizé den Bewohnerinnen und Bewohnern in der Regel nicht bekannt. Durch die mehrfachen Wiederholen wirken sie aber sehr beruhigend, wie das Pflegepersonal immer wieder neu feststellt.

Dennoch fühlte ich mich schon nach wenigen Andachten nicht wohl damit, nur fremde Gesänge zu präsentieren. So wurden die Lieder aus Taizé durch möglichst ökumenisch bekannte alte Kirchenlieder und weiterhin speziell durch Abendlieder ergänzt. Letztere sind offenbar dadurch sehr gut im Gedächtnis verankert, dass sie in der Kindheit immer wieder gesungen wurden. Auch wenn die Andachten in der Regel nicht abends stattfinden, passen sie durch ihre Abschiedssymbolik immer wieder auch gut zu den Gedanken um Hohes Alter, Tod und Sterben. Reine Volkslieder, auch wenn sie sehr gut bekannt sind, wollte ich in diesen geistlich geprägten Minuten nicht singen.

Auch wenn meine Altenheim-Gottesdienste in der Regel durch Glockengeläut vom MP3-Player eingeläutet werden, beginne ich die Taize-Andachten nicht mit Geläut, sondern durch eine Begrüßung mit einer kurzen Erläuterung.

Leider war ich selber noch nie in Taizé, aber einzelne Lieder sind mir in der Gemeinde immer wieder begegnet. Sie liegen daher auch der Auswahl zugrunde. Um nicht unnötige Irritationen dadurch zu erzeugen, dass unbekannte Lieder in einer fremden Sprache gesungen werden, wird bei allen Lieder der deutsche Texte verwendet. Vor kurzem habe ich allerdings gelesen, dass gerade katholische demente Menschen erstaunlich gut auf ihnen aus der Kindheit bekannte lateinische Texte reagieren, aber ich habe dies noch nicht bewusst vergleichen können.

Somit werden bereits die Sinne “Hören” und “Sehen” angesprochen. Gegen Ende der Andacht wird das Lied “Bleib mit deiner Gnade bei uns” gesungen. Während dieses Liedes werden reihum jedem Anwesenden die Handflächen mit einem kleinen Kreuz gesalbt. Ich habe dazu auf der Basis von naturgepresstem Olivenöl mit einigen Tropfen Lavendelöl ein Duftöl zubereitet, mit dessen Hilfe auch die Sinne “Riechen” und “Spüren/Fühlen” angesprochen werden.

Bei mir hat sich folgender Ablauf herausgebildet
(Nummern aus dem Evangelischen Gesangbuch,
Ausgabe Rheinland-Westfalen-Lippe):

  • „Im Namen des Vaters…“
  • Lobt Gott, ihr Völker alle (Laudate omnes gentes – EG 181.6)
  • Lesung: Ps 95,1+2
    1 Kommt herzu, lasst uns dem HERRN frohlocken
    und jauchzen dem Hort unsres Heils!
    2 Lasst uns mit Danken vor sein Angesicht kommen
    und mit Psalmen ihm jauchzen!
    Freuet euch im Herrn (EG-RWL 579)
  • Lesung
    Mt 5,2-9 (Seligpreisungen)
    oder 1. Kor 13,2+13 (Hoheslied der Liebe)
  • Wo die Liebe wohnt (ubi caritas – EG-RWL 587)
  • Unsere Augen sehn stets auf den Herren (oculi nostri – EG-RWL 582)
  • Heilig, Heilige Herr Gott Zebaoth (sanctus – EG-RWL 583)

Bekannte Kirchenlieder:

  • Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren (EG 317,1+2+5)
  • Nun danket alle Gott (EG 321)
  • So nimm denn meine Hände (EG 376)
  • Großer Gott, wir loben dich (EG 331,1+2+11)
  • Geh aus, mein Herz (EG 503, 1+2+8)
  • Befiehl du deine Wege (EG 361, 1+2+12)
    (12 singe ich besonders gerne bei reaktionsarmen bettlägerigen Patienten)

Aus der Kinderzeit sind viele Abendlieder bekannt:

  • Nun wollen wir singen das Abendlied (EG-RWL 684)
  • Abend ward, bald kommt die Nacht (EG 487)
  • Der Mond ist aufgegangen (EG 482,1-3+7)
  • Nun ruhen alle Wälder (EG 477, 1+3+5)
  • Weißt du, wieviel Sternlein stehen (EG 511)
  • Guten Abend, gut Nacht (?)

Die Reihenfolge behalte ich immer bei, aber die Auswahl erfolgt relativ spontan. Ich habe mir für den Eigenbedarf mithilfe des Elektronischen Gesangbuches einige Liedheftchen zusammen gestellt, in dem ich während des Weiterblätterns aussuche.

  • Hieran schließt sich eine Salbung an mit Olivenöl und Lavendelduft, und zwar zum Lied:
    Bleib mit deiner Gnade bei uns (EG-RWL 586)
    Dazu werden die Hände mit einem kleinen Kreuz gesalbt. Das Lied wird so
    lange wiederholt, bis alle die Salbung erhalten haben.
    Meine Erfahrung ist: Gerade weil diese Salbung so unspektakulär “inszeniert” ist, wird sie so gut angenommen.
  • Fürbittengebet zu „Kyrie, Kyrie eleison“ (EG 187.12)
  • Vaterunser
  • Trinitarischer Segen
  • Geh’n wir in Frieden den Weg, den wir gekommen. (EG Oldenburg 560)

Eine Predigt gibt es nicht oder allenfalls rudimentär und ganz spontan aus der Situation heraus.

Die Mitarbeitenden reagieren ganz unterschiedlich. Manche sehen es als Chance und sehen zu, dass möglichst viele Menschen kommen können. Andere nutzen es als Ruhephase. In einem der Häuer habe ich Frauen gefunden, die sogar eine Oberstimme begleitend singen können. Ich habe die Andacht aber auch schon ganz alleine gehalten. Ich zupfe die Gitarre mit einfachen Zupfmustern. Bin ich alleine, singe ich „Bleib mit deiner Gnade bei uns“ ohne Gitarrenbegleitung und salbe selber.

Haben wir für die Andacht einen Teewagen gestaltet, dann gehen wir im Anschluss an diese Andacht durch die Zimmer zu den Bettlägerigen, singen eines der Lieder und das „Bleib mit deiner Gnade bei uns“ und salben bei letzterem den Pflegebedürftigen die Handflächen.

Gottes Gericht?

15.11.2015 – 10:00 Uhr
Gastpredigt Heilig-Geist-Kirche, Bergisch Gladbach
Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr – Mt 25,31-46

Gedanken zum Gleichnis vom Großen Weltgericht nach Mt 25
unter dem Eindruck des Terrors in Paris

Wochenspruch:
Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi.
2 Korinther 5,10

Eingangslied
Ich sing dir mein Lied, in ihm klingt mein Leben

Psalm 50 (EG 726)

Sündenbekenntnis
Guter Gott, wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi.
Was war gut in unserem Leben? Was haben wir richtig gemacht?
Wo haben wir anderen Menschen geschadet – oder auch uns selbst?
Du weißt, wie es in uns aussieht.
Du kennst unsere guten und unsere schlechten Seiten.
Hilf uns, dass wir Dir und Deiner Gnade vertrauen – gerade auch dann, wenn schreckliche Ereignisse uns bedrohen. Darum bitten wir um Dein Erbarmen.

Lied: EG 382
Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr

Evangelium: Matthäus 25, 31-46
(nach: Bibel in gerechter Sprache)

Lied: EG 16
Die Nacht ist vorgedrungen

Predigt

Liebe Gemeinde,
dass ich diese Predigt halte, steht schon etwas länger fest. Und man überlegt sich, was man sagen kann – und dann kommt es wieder einmal ganz anders.
Nicht ein Terroranschlag, sondern gleich sieben in Paris. Bomben, Maschinengewehre, Geiseln. Tote, Verletzte, Blut. Trauernde. Hassvolle Glaubenskrieger.
Immer neue Nachrichten, Festnahmen, Ermittlungen, Gerüchte. Der Terror kommt uns plötzlich so nah.

„Die Nacht ist vorgedrungen.“ Mir kam es vor allem auf die letzte Strophe an: „Als wollte [Gott] belohnen, so richtet er die Welt.“
Dass die Nacht zu Samstag aber so dunkel und so traurig sein würde, dass sie so viele Tränen bringen würde, so viel Angst, so viel Unsicherheit, damit habe ich nicht gerechnet.
Aber so ist unsere Welt. Auch wenn wir es nur zu gerne ausblenden. Krankheit, Leid, Krieg, Not, Tod – gehören zu unserem Leben. Und wenn wir uns gerade besonders sicher fühlen, trifft es uns besonders hart.
Dabei müsste uns der Glaube an den Gekreuzigten und Auferstandenen immer wieder ermahnen, eben das Kreuz und das Leid nicht zu vergessen.

Und damit sind wir direkt beim Kern des Gleichnisses vom Großen Weltgericht, das wir in der Evangelienlesung gehört haben und das heute unser Predigttext ist.

Stimmt der Vorwurf, den man manchmal hört, die Pfarrer sprächen zu wenig vom Gericht und davon, dass Menschen ewig verloren gehen können? Denn für viele steht genau das fest, auch wegen unseres Gleichnisses. Heißt es nicht in seinem letzten Vers:

„Und sie werden in die °endlose Strafe fortgehen, die Gerechten aber ins °ewige Leben.“

Was wollte Jesus mit diesem Gleichnis sagen?

Ist es eine Beschreibung dessen, was wir das Weltgericht nennen?

Alle Völker versammelt, die Menschen in großen Gruppen in einer riesigen Ebene, und dann werden sie aufgeteilt wie die Schafe und die Böcke im Frühjahr.

Hintergrund dieses Bildes aus der Viehzucht ist die Erkenntnis, dass die Männchen vor allem nutzlose Esser sind; man braucht in der Herde nur wenige, um Nachwuchs zu erzeugen. Die Männchen gebären keine Nachwuchs, sie geben keine Milch, und wenn sie jung geschlachtet werden, sind sie besonders lecker. Also kommen sie im Frühjahr unter das Messer – die Weibchen, die Schafe, sie dürfen weiter leben.

Und diesem Bild entsprechend werden die Menschen aller Völker eingeteilt.

Die Männer hier können beruhigt sein. Der große Weltenrichter wird nicht nach dem Geschlecht unterscheiden. Aber wonach denn?

Weder die auf der einen Seite noch die auf der anderen Seite können sich einen Reim darauf machen.

Sie haben doch alle versucht, ein gottgefälliges Leben zu führen. Sie haben doch alle versucht, das Beste daraus zu machen. So stehen sie zusammen und warten ab, was der Richter sagen wird. Zum Glück sind sie nicht ganz allein in jeweils ihrer Gruppe. Noch haben sie kein besonders schlechtes Gewissen. Alle sind gespannt, was gleich passieren wird.

Es sind – in diesem Bild – riesige Menschenmassen. Und dann wendet sich diese königliche Person der Gruppe zu seiner Rechten zu:

„Ich war hungrig, ihr gabt mir zu essen; ich war durstig, ihr gabt mir Wasser; ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen. Ich war nackt, ihr habt mich gekleidet; ich war krank, ihr habt mich gepflegt; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.“

Große Verblüffung: „Sorry, aber wann haben wir das alles für dich getan?“ Sie können sich keinen Reim darauf machen.
Und auch die anderen nicht: Wann soll das bitte gewesen sein, als wir so heftig versagt haben sollen?

Große Ratlosigkeit auf allen Seiten.

Und dann die Auflösung:

„Was ihr für eine oder einen von diesen Geringsten getan oder nicht getan habt, habt ihr auch für mich getan oder nicht getan.“

Soweit dieses Gleichnis. Sola scriptura, so steht es in der Bibel. Jetzt ist doch alles klar.-  Ist es wirklich so einfach?

Es wäre ganz einfach, wenn wir in unserem Leben nur wenigen Menschen begegnen würden, die alt oder krank oder arm sind. Und wenn wir ihnen dann etwas Gutes getan hätten, kämen wir auf die richtige Seite. Und wenn wir ihnen nicht Gutes getan hätten, dann kämen wir auf die zur Strafe bestimmten Seite.

Aber wir sind nicht nur wenigen Menschen begegnet: Tagtäglich begegnen wir vielen Menschen. Tagtäglich sind viele Menschen im Gefängnis, viele im Krankenhaus. Gerade jetzt kommen viele Flüchtlinge zu uns und es braucht viele Menschen, die ihnen helfen, und es ist gut, dass sich so viele Menschen finden.

Gerade dieses Gleichnis kann einen ungeheuren Stress erzeugen:

Habe ich schon genug getan? Muss ich nicht noch viel mehr tun? Und wenn ich nicht noch mehr tue, mich nicht noch mehr aufreibe, riskiere ich dann meinen Platz im Himmel?

Es gibt viele Ehrenamtliche, die überhören sämtliche Warnsignale ihres Körpers und ihrer Psyche und verausgaben sich in ihren Ehrenämtern bis zum Zusammenbruch. Irgendjemand muss es doch tun, heißt es dann. Und wenn man nur einen Hilfebedürftigen übersehen hat, kommt man auf die verkehrte Seite, und dann kommt die Verdammnis?

Hat Jesus das wirklich so gemeint?

An dieser Stelle erst einmal ein herzliches Dankeschön an alle die vielen Ehrenamtlichen, die sich hier in der Kirche oder an einer anderen Stelle engagieren. Das muss einmal gesagt werden.

Und zugleich muss gesagt werden: Achten Sie gut auf sich. Achten Sie auf Ihre Grenzen. Wenn Sie wieder einmal eine neue Aufgabe übernehmen, überlegen Sie bitte, welche alte Aufgabe Sie dafür abgeben!
Das ist wichtig! Denn Sie sind nicht der liebe Gott, Sie können nicht die Welt retten, Sie haben wie jeder andere Mensch ihre Grenzen, und es ist gut, wenn Sie darauf achten. Jeder Mensch darf auch einmal sagen: Das schaffe ich nicht. Ich brauche Hilfe. Jetzt muss auch mal jemand anderes ran.

Und auch auf der anderen Seite: Gibt es das wirklich, dass jemand grundsätzlich an allen Menschen in Not vorbei gegangen ist, dass jemand niemals jemandem geholfen hat und immer nur an sich selber dachte?

Und so kommen wir nicht nur an unsere eigenen Grenzen, sondern auch an die Grenze dessen, was dieses Gleichnis aussagen kann und was es aussagen will.

Wenn wir es konsequent zu Ende denken, gibt es keinen von uns, der genug getan hätte. Es hätte immer noch etwas mehr getan werden können.

Wir würden feststellen: Wir haben alle versagt. Die Seite zur Rechten des Weltenrichters wäre leer. Die Seite der Hölle (oder wie immer wir es bezeichnen wollten), sie wäre übervoll.

Ist es wirklich das, was Jesus sagen wollte? Es gibt eine ganze Reihe anderer Stellen, die in dieselbe Verzweiflung führen – bis Jesus dann sagt: Nach Eurer menschlichen Logik unmöglich. Aber verlasst Euch auf Gott, der macht das für Euch: Bei Gott sind alle Dinge möglich!

Geht es bei diesem Gleichnis wirklich darum, wie wir uns das Gericht vorstellen sollen? Menschenmassen in langen Prozessionen, die sich auf einem riesigen Platz mit Milliarden von Menschen versammeln und aufgeteilt werden?

Und warum soll man dann bedürftige Menschen gut behandeln? Damit man selber in den Himmel kommt? Ulrich Bach erzählt die Geschichte eines Kranken, der sich für die gute Pflege bedankt. „Ach wissen _Sie, ich habe es für meinen Gott getan“, sagt die Pflegerin. „Schade, sagt der ehemalige Kranke, ich dachte, sie haben es für mich getan!“

Oder geht es möglicherweise um etwas ganz anderes?

Sicherlich haben sie aufgemerkt, als in der „Bibel in gerechter Sprache“ ganz am Anfang der Lesung vom „Menschen“ und nicht wie in der gewohnten Lutherübersetzung vom „Menschensohn“ die Rede war.

Menschensohn: Das klingt wie ein besonderer Titel, der nur zu Jesus gehört.

Aber ist daran nicht viel mehr wichtig, wie nahe uns Gott sein möchte? Wie sehr er für uns Mensch sein möchte? Wo er uns doch, wie es im ersten Schöpfungsbericht heißt, jede und jeden als sein Ebenbild erschaffen hat? „Seht in jedem Menschen das Ebenbild Gottes“, so könnte man die Aufforderung verstehen.

Denkt bei Gott nicht zuerst an die richtige Religion, an den korrekt gefeierten Gottesdienst, an die richtige Konfession… Denkt bei Gott daran, dass ihr ihm in jedem Menschen begegnen könnt. Nein, dass ihr ihm in jedem Menschen begegnet.

„Was ihr für eine oder einen von diesen Geringsten getan habt, habt ihr auch für mich getan“.

Das ist der eigentliche Clou dieses Gleichnisses. Ändert Eure Sichtweise. Behandelt nicht nur die mit Ehrfurcht, von denen ihr etwas erwartet, Vorgesetzte etwa oder Fürsprecher. Sondern behandelt auch jene Menschen so, die alt oder schwach oder unansehnlich sind.

Behandelt übrigens auch euch selber so! Nehmt Euch selber wichtig, denn auch ihr seid Gottes Ebenbilder.

Gerade sehr religiösen Menschen fällt das sehr schwer. Wie oft setzen religiöse Menschen ihre Religion an die wichtigste Stelle und richten damit verheerendes Unheil an?

Es sind nicht nur die Terroristen, die mit „Gott ist groß“ als Schlachtruf und der Kalaschnikow im Arm grausames Unheil anrichten. Es sind auch jene Menschen, die in den Religionen etwas Trennendes sehen und Gott eben in einem Andersgläubigen nicht erkennen wollen.

Sie können die schönsten Gottesdienste feiern und die innigsten Gebete formulieren – aber statt aus ihrem Glauben heraus in jedem Gesicht Gott zu suchen, teilen sie die Welt in Gläubige und Ungläubige, sehen sich selbst selbstverständlich bei den Gläubigen und nur die anderen kommen halt nicht in den Himmel.

Stopp, sagt Jesus, so macht Ihr alles kaputt.
Es geht nicht um ein Szenario mit Milliarden von Menschen, die in zwei Gruppen eingeteilt werden: Es geht darum, dass Ihr jedem, wirklich jedem Menschen seine Menschenwürde zubilligt. Jedem Menschen.

Und dann wird es wieder spannend.

Wenn es um die vielen Toten in Paris geht: Denen sprechen wir diese Menschenwürde zu.

Aber was ist mit den vielen anderen Menschen, deren Menschenwürde uns wenig bis gar nicht interessiert haben? Die irgendwo in der Welt unsere Klamotten im Akkord zusammen nähen, damit wir sie hier preiswert kaufen können? Die unter fürchterlichen Bedingungen für uns die “Seltenen Erden” aus dem Boden kratzen, damit unsere Handys funktionieren? Denen das Land weggenommen wird, damit dort Palmölplantagen angelegt werden können? Denen man an der Afrikaküste die Fische weggefischt und sie so arbeitslos gemacht hat und deren Kunden man in den Hunger trieb? – Bis sie sich nun aufmachten über das Mittelmeer, um auch etwas von jenem Wohlstand abzubekommen, den sie für uns erarbeitet haben.

Wenn die Saudis einem klammen deutschen Industriekonzern mit ihren Öldollars helfen, vergessen wir nur zu gerne, wie sehr sie an anderer Stelle die Menschenwürde mit Füßen treten.

Es gibt so viele Gelegenheiten, an denen uns auf den ersten Blick nicht klar ist, wessen Menschenwürde wir ignorieren. Viele dieser Menschen kommen als Flüchtlinge zu uns. Und manche dieser Menschen, deren Menschenwürde wir ignoriert haben, kommen als Terroristen wieder zu uns.

Manchmal ist es zu schnell, wenn wir anfangen, die Welt in Gute und Böse, in Schafe und Böcke einzuteilen, in Erwählte und in Verdammte.

Macht es wie Gott, sagt Jesus, und teilt die Menschen nur in eine einzige Gruppe ein: In Gottes Ebenbilder, die jede und jede und jeder eine unveräußerliche Menschenwürde haben. Und bei denen es sich rächt, wenn ihr diese Menschenwürde zu lange mit Füßen tretet. Dann werden Menschen stark, die die Menschenwürde viel grausamer mit Füßen treten können. Und die Euch verleiten, es ihnen nachzumachen. Die Euch verleiten, im Kampf für die Menschenwürde genau diese Menschenwürde mit Füßen zu treten.
Die Euch verleiten, das Gericht selber in Hand zu nehmen, statt in jedem Menschen Gott selber zu sehen…

Geht es also in unserem Lesungstext aus dem Matthäusevangelium wirklich ums Gericht? Oder geht es um eine Einstellungssache: Nämlich in jedem Menschen ein Ebenbild Gottes zu sehen? Übrigens auch in sich selbst?

Die Terroristen wollen vor allem unsere Angst schüren.

Aber Jesus ist kein Terrorist. Er möchte uns nicht Angst machen, sondern er möchte uns ermutigen. Ihr seid Gottes Ebenbilder, vergesst das nicht. Ihr selber und Eure Gegenüber. Wenn Ihr das nicht vergesst, kommt Euch der Himmel ganz nahe. Trotz des Terrors. Trotz Eurer Begrenztheit.

Gott will Euer Bestes. Vertraut ihm. Dann wird das Gericht kein Thema für Euch sein. Und ihr werdet immer mehr versuchen, so zu leben, dass ihr damit anderen nicht die Würde nehmt. Lasst Euch auf seine Liebe ein! Es ist jetzt wichtiger denn je.

Lied EG 432
Gott gab uns Atem, damit wir leben

Fürbitten

Guter Gott, Du gibst uns Atem und Augen und die Erde.
Du gibst uns Ohren und Worte und Hände und Füße, damit wir die Erde verwandeln.
Du machst uns Mut:
Wir können neu ins Leben gehen.
Darum bitten wir Dich, gerade nach Tagen wie gestern und vorgestern.
Hilf uns, dass wir nicht unbarmherzig werden sondern für Deine Barmherzigkeit einstehen.
Hilf uns, dass wir gnädig mit uns sind, wenn wir unsere Wut und Angst herausschreien wollen. Wir sind auch nur Menschen.
Hilf uns, dass wir die Menschen sehen lernen, die für uns arbeiten, überall auf der Welt. Für Erdöl und Palmöl, für die seltenen Erden, mit denen unser Handy funktioniert. Sie arbeiten für uns. Haben wir im Blick, dass es ihnen dabei gut geht?
Hilf uns, dass wir und unsere Politiker das Geld gut einsetzen. Für den Wert eines einzigen Panzers könnte man ein ganzes Krankenhaus bauen. Warum bauen wir so wenig Krankenhäuser und so viele Panzer in der Welt? Wie viele unschuldige Menschen sterben, weil Krankenhäuser fehlen und Panzer zerstören, was Menschen lieben?
Hilf uns, die drei Finger zu sehen, die auf uns zurück weisen, wenn wir auf die Terroristen zeigen.
Vielleicht wird es dann ein wenig mehr Frieden geben in der Welt.
Und darum bitten wir. Um Frieden. Für die Menschen in Paris, in Frankreich, hier bei uns – überall auf der Welt.

Vaterunser

Segen

Schuld zu Gnade: 3 zu 1000

1000 zu 3
So gewichtet Gott Gnade und Schuld.
Mit Gedanken zu Abgrenzung und Öffnung der Völker

Gottesdienst am 26.10.2014
Evangelische Kirchengemeinde Swisttal
Predigteihe VI

19. Sonntag nach Trinitatis
2. Mose 34,4-10

Wochenspruch für den 19. Sonntag nach Trinitatis:

Heile du mich, HERR, so werde ich heil;
hilf du mir, so ist mir geholfen.
Jeremia 17,14

Begrüßung

Herzlich willkommen zu diesem Gottesdienst. Ich bin Pastor Kehren und freue mich, dass ich wieder zu Ihnen in den Gottesdienst eingeladen wurde.
Im Evangelium heute werden wir von der Heilung des Gelähmten hören – und von der Sündenvergebung. Heil und Heilung, Sündervergebung und Gesundung. Und das eingebettet in eine Mosegeschichte, die es in sich hat. – Dazu gleich mehr.

Zum ersten Lied aber möchte ich jetzt einen Hinweis geben. Das Lied ist jetzt 40 Jahre alt und wurde einem alten hebräischen Lied nach Hoheslied 2,8 nachempfunden. Kommt herbei, singt dem Herrn, er ist der, der uns befreit.
Der ursprüngliche Text aus dem Hohenlied ist ein Liebeslied. „Horch, die Stimme meines Geliebten, er hüpft über die Berge, er springt über die Hügel“.
Und man wundert sich, dass sich solche hocherotischen Liebeslieder in der Bibel finden.
Aber genau darum geht es: Nachzuspüren, was für ein Freund Gott ist, wie er immer wieder zu uns kommt – auch wenn wir es nicht mehr verdient hätten.
Darum machen wir uns auf und kommen zu ihm …

EG RWL 577,1-6 Kommt herbei, singt dem Herrn

Liturgische Begrüßung

Psalm EG 716 RWL 716 Psalm 32

Gemeinde: Ehr sei dem Vater und dem Sohn

Sündenbekenntnis

Guter Gott, wie ein Geliebter kümmerst Du Dich um uns.
Kein Berg ist Dir zu hoch, kein Hügel zu weit, als dass Du nicht den Weg zu uns findest.
Und wir?
Wir zeigen Dir so oft die kalte Schulter.
Wir tanzen um unsere goldenen Kälber, denken vor allem an uns selbst und so wenig an Dich oder unsere Nächsten.
Wir vertrauen dem Fortschritt, oder vertrauen darauf, dass es doch schon immer gut gegangen ist.
Guter Gott, wir brauchen Dein Erbarmen.

Kyrie-Gesang

Zuspruch

Gott hat uns erwählt, wir gehören nun zu seinem Volk, damit wir seine Barmherzigkeit erlangen.

EG RWL 580 Gloria

Kollektengebet

Guter Gott, du willst heilen, was zerbrochen ist,
du willst zusammenbringen, was zertrennt,
du willst aufrichten, was zerstört ist.
Sei du jetzt mitten unter uns mit deiner heilenden Kraft.
Gib uns Geduld und Ausdauer zu warten –
und mitzuarbeiten, wo du am Werk bist.
Berühre uns mit deiner Gegenwart durch Jesus Christus.
(nach ev Gottesdienstbuch)

Lesung
Mk 2,1-12 (nach: Bibel in gerechter Sprache)

1 Als Jesus Tage später wieder nach Kafarnaum kam, sprach sich herum, dass er im Haus sei.
2 Es versammelten sich so viele, dass auch vor der Tür nicht genug Platz war. Er verkündigte ihnen das Wort Gottes.
3 Da schleppten vier Leute eine gelähmte Person herbei, die sie zu ihm tragen wollten.
4 Doch sie kamen nicht an ihn heran, weil so viele andere da waren. Da deckten sie das Dach des Hauses ab, in dem er sich aufhielt. Sie rissen das Dach auf uns ließen die Schlafmatte herab, auf der die gelähmte Person lag.
5 Als Jesu ihr Vertrauen sah, sagte er zu dem kranken Menschen: „Kind, Gott hat dir dein ungerechtes Tun vergeben.“
6 Einige toragelehrte Frauen und Männer saßen dabei und dachten in ihrem Herzen:
7 „Wie kann der so reden? Er lästert Gott! Nur eine Macht kann unrechtes Tun vergeben, Gott allein.“
8 Sogleich merkte Jesus, in welche Richtung ihre Gedanken gingen, und sagte zu ihnen: „Wie könnt ihr so etwas bei euch denken?
9 Was ist leichter – zu einer gelähmten Person zu sagen: ‚Gott hat dir dein unrechtes Tun vergeben‘, oder ‚Steht auf, nimm deine Schlafmatte und geh?’
10 Damit ihr erfahrt, dass Menschen die Vollmacht haben, auf der Erde unrechtes Tun zu vergeben“ – so sprach Jesus zur gelähmten Person -,
11 sagte ich Dir: Steht auf, nimm diene Schlafmatte und geh nach Hause.“
12 Sie stand auf, nahm sogleich die Schlafmatte und ging vor aller Augen davon. Da gerieten alle außer sich, lobten Gott, und riefen: „So etwas haben wir noch nie gesehen!“

Halleluja

Halleluja.
HERR, deine Güte ist ewig. *
Das Werk deiner Hände wollest du nicht lassen.
Psalm 138,8b

EG RWL 579 Halleluja.

Glaubensbekenntnis

Lied EG 320,1+2+6-8 Nun lasst uns Gott

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus!

Liebe Gemeinde,

der Predigttext heute finde sich im 2. Buch Mose 34,4-10. Gott will Mose zwei neue Steintafeln mit den Geboten geben und nach dem Tanz ums Goldene Kalb den Bund mit seinem Volk neu schließen. Ein halsstarriges Volk, so heißt es, und trotzdem will Gott immer wieder vergeben.

Ein wunderbarer Text – und trotzdem habe ich heute Probleme. Damit die Situation etwas klarer wird, setze ich drei Verse vorher ein. Und meine Probleme werden Sie sofort erkennen, wenn ich noch einige Verse weiter lese. Ich lese nach der Bibel in gerechter Sprache.

Ex 34,4-10 (nach: Bibel in gerechter Sprache)

[1 Der Herr sprach zu Mose: „Haue dir zwei neue Steintafeln zurecht genau wie die vorigen. Ich schreibe darauf die Worte, die auf den ersten Tafeln gestanden haben, welche du zerbrochen hast.
2 Sei bereit, morgen früh auf den Berg Sinai zu steigen und mir auf dem Gipfel gegenüber zutreten.
3 Niemand darf dich begleiten, auf dem ganzen Berg soll sich kein Mensch blicken lassen, und weder Schaf noch Rind dürfen auf ihn zu weiden.“]
4 Mose richtet die beiden Steintafeln wie die vorigen her und machte sich frühmorgens auf den Weg. Wie der Ewige es ihm aufgetragen hatte, stieg er auf den Berg Sinai; die beiden Steintafeln trug er bei sich.
5 Da kam der Ewige in einer Wolke herunter, stellte sich zu Mose und rief seinen Namen aus: [Der] „ICH-BIN-DA“.
6. Dann ging der Ewige an Mose vorbei und rief erneut: „ICH-BIN-DA. ICH, der EWIGE.
7 Ich sorge für 1000 Generationen und bin bereit, Schuld, Verirrung und Verfehlung zu vergeben. Doch ich lasse nicht alles durchgehen, ich ahnde auch Schuld der Eltern an Kindern, Enkeln und Urenkeln.“
8 Mose warf sich schnell zur Erde und nahm die Gebetshaltung ein .
9 Er sagte: „Mein Herr, wenn du mir wohl willst, dann gehe doch mit uns, Herr, es ist ein starrköpfiges Volk, doch du kannst uns unsere Schuld und Verfehlungen vergeben. Nimm uns doch als dein Eigentum an.“
10 Gott erwiderte; „Gut, ich will einen Bund mit euch schließen. Vor dem ganzen Volk werde ich Erstaunliches tun, wie es auf der ganzen Erde und unter allen Nationen noch nie geschehen ist. Alle Menschen der Gemeinde, in der du lebst, sollen meine Taten miterleben; gewaltig ist, was ich für euch tun werde.
[11 Beachte sorgfältig, was ich dir heute auftrage. Ich werde die anderen Völker vor euch vertreiben, die amoritischen, kanaanäischen, hetitischen, perisitischen, hiwitischen und jebusitischen Stämme.
12 schließt nur ja keine Verträge mit diesen Menschen, die du dort antriffst. Das würde euch ins Verderben stürzen.
13 Ihr sollt vielmehr ihre Altäre zerstören, ihre Mazzeben zerschlagen, ihre heiligen Bäume fällen.
14 Denn ihr dürft einfach keine andere Gottheit verehren. Ich bin der ICH-BIN-DA, voll Leidenschaft, eine verzehrende Liebe ist in mir.
15 Ihr dürft keinen Bund mit Landesbevölkerung eingehen. Sonst passiert Folgendes: Sie laufen hinter ihren Gottheiten her, opfern ihnen und laden euch eventuell zu ihren Mahlzeiten ein.
16 Oder ihr sucht euch unter ihnen Frauen für eure Söhne, und dann laufen die Schwiegertöchter hinter deren Gottheiten her und verführen eure söhne zu fremdem Gottesdienst.“
17 Du darfst Dir keine Gottesstatuen gießen. …
[Es folgen eine Reihe von Einzelgeboten über die Erstgeborenen und Opfer. Und dann heißt es noch: ]
26 … das Böckchen dürft ihr nicht in der Milch seiner Mutter zubereiten.“

Liebe Gemeinde, ich habe heute etwas mehr vorgelesen.

Den letzten Vers deswegen, weil er die Ursache für die strenge Trennung bei den jüdischen Mahlzeiten ist:

Das Böckchen dürft ihr nicht in der Milch seiner Mutter zubereiten: Das ist der Vers, warum im Judentum Milch und Fleisch streng getrennt zubereitet und gegessen werden. Dieser Vers aus 2. Mose 34 (und 2 Mose 23) ist der Grund, warum, es in einem jüdischen Haushalt zwei Spülmaschinen, zwei Kühlschränke, zweierlei Geschirr und zweierlei Besteck gibt und warum niemals Milch und Fleisch oder Wurst gemeinsam serviert werden.
Das wollte ich Ihnen an dieser Stelle einfach nicht vorenthalten.

Die Probleme machen mir die Verse vorher. In Zeiten, in denen Krieg mit einer Organisation IS „Islamischer Staat“ geführt wird, treffe ich immer wieder auf Christen, die sagen: ‘Im Gegensatz zum Christentum und Judentum ist der Islam auf Konflikt und Krawall angelegt. Wir haben so etwas nicht.’

Wenn ich Ihnen heute nur den Predigttext vorgelesen hätte, hätten wir wieder einmal nicht gemerkt, dass die Bibel auch nicht ohne ist.
„Ich werde die anderen Völker vor Euch vertreiben“ – und dann werden diese Völker aufgezählt.

Schließt keine Verträge mit denen, das gibt nur Ärger.
Zerstört ihre Heiligtümer – wem fallen da nicht die Freveltaten der Isis ein und der Taliban, die Jahrtausende alte Kulturgüter zerstörten und sprengten und sich völlig intolerant denen gegenüber verhalten haben, die etwas anders oder weniger streng glaubten als sie selber.
Sucht Euch keine Schwiegertöchter oder Schwiegersöhne bei denen, denn sonst werden Eure Kinder vom wahren Glauben abfallen.
Und wir – wir können uns an die Erzählungen unserer Eltern erinnern oder haben vielleicht sogar noch eigene Erinnerungen daran, wie das war, als der Partner, in den man sich verliebt hat, leider die verkehrte Konfession hatte und zu welchen Problemen dies geführt hatte.
Wie gehen wir damit um?

Wir lesen in der Bibel von einem strengen und doch vergebenden Gott. Es ist uns wichtig, dass die Bibel die Richtschnur für unser Leben ist. Wir glauben daran, dass Gott sie uns gegeben hat. Ich halte es für wichtig, dass wir sie uns nicht einfach zurecht biegen, wie es uns am besten passt.

Wie oft höre ich genau diesen Vorwurf.
Die konservativen Kardinäle haben es den liberalen Kardinälen auf der letzten Bischofssynode in Rom vorgeworfen, als es schien, dass die römisch-katholische Gottes Gnade endlich etwas offener verkünden könnte.
Die konservativeren Protestanten werfen es immer wieder und wieder der EKD und den Pfarrerinnen und Pfarrer unserer Landeskirche vor: Wir würden mit unserer historisch-kritischen Theologie die Bibel nicht mehr ernst nehmen und unsere eigenen Regeln finden.

Vielleicht ist an diesem Vorwurf sogar etwas dran. Ich gestehe nämlich, dass für mich Völkerverständigung ein eminent wichtiger Bestandteil meines Glaubens ist.
Wenn es gleich am Anfang der Bibel heißt, dass Gott den Menschen geschaffen habe als sein Ebenbild, dann ist damit jeder Mensch gemeint – und nicht nur Juden oder Christen: Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild. Auch die, die anders glauben als ich, auch deren Nase mir nicht passt. Auch die, die eine andere Sprache sprechen und in einer anderen Kultur leben.

Und dann diese Verse hier, die so sehr auf Abgrenzung setzen.
Wie können wir damit umgehen?

Es ist der Versuch, den eigenen Glauben sauber zu halten. Es ist der Versuch, Gott treu zu bleiben – dem Gott, dem wir doch so viel zu verdanken haben.

Wenn wir genau hinschauen, dann finden wir in der ganzen Bibel genau diese Auseinandersetzung zwischen der Abgrenzung von anderen, damit der eigene Glaube bewahrt bleibt, und der Integration und der Vermittlung, weil Gott ein Gott aller Menschen ist.

Wir merken es selbst in der Abgrenzung des Bibeltextes.
Vollmundig heißt es, „ich werde die Menschen dort vertreiben.“ Wenn diese Menschen alle vertrieben sind – mit wem soll man denn noch Verträge schließen können? Wie soll man dort Schwiegersöhne und Schwiegertöchter finden? Wie soll man dort Götzenopfer finden – wenn sie doch alle vertrieben wurden?
Wie nehmen wir den Bibeltext wahr, wenn wir ihn ganz wörtlich nehmen?

Mein Jüngster ärgert sich gerade, dass sich die ganze Klasse zu Halloween verabredet – und seine Gemeinde hat ausgerechnet den Reformationsgottesdienst als verpflichtenden Gottesdienst für die Konfis angesetzt.
Wie ernst nimmt man es, dass alle Kinder feiern – aber leider nicht das Reformationsfest?
Mir ist schon klar, dass sowohl Halloween als auch Reformationsfest etwas mit Allerheiligen zu tun haben!
Der 31. Oktober ist nun mal der Vorabend vor Allerheiligen, der für die katholische Sündenvergebungslehre, für Ablass und Volksglauben eminent wichtig ist. Luther hat sich etwas dabei gedacht, wenn er seine Thesen ausgerechnet am Vorabend an die Schlosstür von Wittenberg geschlagen hat.
Und Halloween hat auf volkstümliche Weise eine ganz eigene Vorstellung von den verstorbenen Heiligen und ihren Geistern geformt, der sich unsere Kinder jetzt auch nicht mehr ganz entziehen können.
Wie verhält man sich da, wenn der Jüngste fragt, ob er diesen Gottesdienst nicht blaumachen kann, der doch nun extra auch für die Konfis gestaltet werden soll?
Ausgerechnet dir fromme Oma ergreift auch noch Partei für ihn!
Wie gehen wir um mit Abgrenzung und Integration, wenn es um unseren Glauben geht?

Wir können den Bibeltext so lesen, dass wir versuchen, ihn radikal umzusetzen: Das wird uns nicht gelingen.

Wir können die Problemanzeige darin lesen: Wie schwer es schon immer war und ist, eine reine Glaubensposition durch die Generationen durchzuhalten. Die Liebe fällt, wo sie will, man trifft auf Menschen, die anders sind, und man ist immer in der Notwendigkeit, eine eigene Position zu finden.

Und es geht ja nicht um irgendwelche Kleinigkeiten, sondern es geht um den einen Gott!

Deutlich wird jedenfalls an den zusätzlich gelesenen Versen, dass es den reinen Glauben in einem auf absolute Abgrenzung bedachten Gottesvolk niemals gegeben hat. Andere Bibeltexte wie etwa der Stammbaum Jesu zeigen, dass selbst in der Herkunft des Gottessohnes viele von denen auftauchen, die es anderen Versen zufolge dort niemals geben dürfte.

Andere Bibeltexte zeigen, wie wichtig es ist, zu den eigenen Kindern zu halten – und dass die im Zweifel wichtiger als alle göttlichen Gebote erscheinen mögen – und dann gibt es wieder die Feststellung, dass selbst Jesus sich erheblich von seiner eigenen Familie distanzieren kann.

Ich kann nicht anders: Die Bibel hat mich gepackt und ich komme von ihr nicht los.

Aber die Beobachtung heute macht mich vorsichtig bei Vorwürfen gegenüber den Glaubensurkunden anderer Religion, wie z. B. gegenüber dem Koran.

Denn auch in der eigenen Bibel finde ich Stellen, die mich verstören, die Gewalt provozieren und feindliche Abgrenzung, Unfrieden und Intoleranz. Wenn ich auf andere mit dem Finger zeige, zeigen drei Finger auf mich zurück.

Es ist nicht so einfach mit unserer Bibel. Und an vielen Stellen bleibt sie eine Zumutung.

Das gilt auch für den eigentlichen Predigttext. Auch er mutet uns eine Menge zu.

Da ist zunächst der Hauptakteur: Mose.
Nach den jüdischen Geboten dürfte es ihn gar nicht geben, denn Amram, der Vater von Mose, hatte Jochebed, die Schwester seines Vaters, zur Frau genommen. Mose, ein Pflegekind in der ägyptischen Oberschicht wird zum Terroristen und erschlägt einen Ägypter. Man fragt sich ja heute, warum so mancher verzogener gutsituierter Mensch zum Terroristen wird. So ungewöhnlich ist das gar nicht. Mose lernt beim heidnischen Schwiegervater das Priesterhandwerk, und ausgerechnet ihm offenbart sich Gott, ausgerechnet ihn sucht sich Gott aus, um sich ihm als Gott zu offenbaren und nur er darf nun die neu gemeißelten Gebotstafeln in Empfang nehmen.
Er und nur er. Und wenn er vor Gott auf die Knie und auf den Boden fällt, ist es genau die Gebetshaltung, die wir von den Bildern aus den Moscheen kennen.

Und dann Gott. Ich bin, der ich bin. Ich bin der „ich bin da“. Er lässt sich greifen. Er lässt sich nicht in ein Schema packen. Er ist Gott. Kein Götze. Allein schon die Frage, ob es berechtig ist, „er“ zu Gott zu sagen, kann viele Menschen aufregen. Gott ist nicht Mann, Gott ist nicht Frau. Manchmal zornig, das lässt Gott sich nicht nehmen. Aber dann legt er sich doch fest.

„ICH-BIN-DA. ICH, der EWIGE.
Ich sorge für 1000 Generationen und bin bereit, schuld, Verirrung und Verfehlung zu vergeben. Doch ich lasse nicht alles durchgehen, ich ahnde auch Schuld der Eltern an Kindern, Enkeln und Urenkeln.“

1000 Generationen gegen drei Generationen.

1000 Generationen Vergebung. 3 Generationen Schuld.

1000 : 3 – das ist die Verhältnisbestimmung von Gnade und Schuld. Gott ist, der er ist. Gott will sich nicht greifen lassen. Aber er will als gnädiger Gott wahrgenommen werden. Das darf man nie vergessen, wenn an anderen Stellen von Abgrenzung und Gewalt die Rede ist. Die Geschichte mit Abraham und Lot zeigt, wie sehr Gott darin auch mit sich handeln lässt.

Und jene 3 Generationen? Mein Professor für altes Testament, ein exzellenter Kenner des Judentums, erklärte es anhand der alten jüdischen Tora-Auslegungen so: Wenn du in deinem Leben Fehler machst, werden die sich auswirken. Und wenn du genügend lange lebst, wirst du an deinen Urenkeln sehen können, welche Folgen sie haben. Pass genau auf, was du tust. Du hast eine Verantwortung für deine Kinder und Enkel und Urenkel. Alles, was du tust, hast Folgen. Nicht nur für Dich, sondern auch für andere Menschen. Denke daran.

Ich habe gerade den Artikel im Stern angelesen, in dem Hape Kerkeling vom Suizid seiner Mutter erzählt. Er war damals 8 Jahre lang.

Wir diskutieren gerade einen neuen Gesetzentwurf, wer Menschen möglicherweise bei einem Suizid beistehen darf. Ich bin selber für eine relativ liberale Regelung. Die Geschichte von Hape Kerkeling aber zeigt, dass auch dieses Handeln Folgen hat. Auch wenn man sie nicht mehr direkt an seinen Urenkeln miterleben kann, weil man sich dem entzogen hat. Gestern im Stadtanzeiger fragte ein Arzt nach genau diesen Folgen. Von jedem Suizid sind mindestens 10 Menschen betroffen. Haben das alle Menschen bedacht, die, – wie man so schön sagt – „in die Schweiz gehen“ wollen?

Drei Generationen – man könnte sagen: Dann ist auch genug! Die Erfahrung eines Pflegevaters zeigt: Manchmal sind es in der Realität viel mehr Generationen!

Ein letzter Gedanke:

Viel zu oft hat man im Christentum gedacht, das Neue Testament habe das Alte Testament abgelöst. Die Guten, das sind die Christen, die Bösen, das sind die Juden.

Ich möchte sagen: Wir sind keinen Deut besser, wir waren auch nie besser.

Die ersten Jünger waren allesamt raue Kerle mit Ecken und Macken, die immer wieder zeigten, wie wenig sie von dem verstanden haben, was Gott ihnen gepredigt hat. Wenn ich mir die gegenwärtigen Diskussionen in der ev. Kirche anschaue, auf die besonders im Rheinland große Probleme zukommen oder die Bischofssynode in Rom, dann wird auch da das ganze Spektrum deutlich.

Wenn wir mit ernst Christen sein wollen, dann können wir gar nicht anders, als es Mose nachzusprechen:

„Mein Herr, wenn du mir wohl willst, dann gehe doch mit uns, Herr, es ist ein starrköpfiges Volk, doch du kannst uns unsere Schuld und Verfehlungen vergeben. Nimm uns doch als dein Eigentum an.“

Auch wir gehören dazu. Zu den Halsstarrigen gegenüber Gott. Zu denen mit Schuld. Zu denen mit Verfehlungen.

Sind wir es Wert? Weißt Du Gott, worauf Du dich einlässt, wenn Du Dich mit uns einlässt? Du wirst nichts als Ärger haben mit uns. Naja, manchmal wirst Du auch lächeln können, und vieles wird dir gefallen. Aber willst du wirklich unser Gott sein?

Gott wollte der Gott dieses halsstarrigen Volkes sein. Es ist bis heute halsstarrig – und es ist sein Volk geblieben. Die Juden wurden über alle Kontinente verteilt, aber sie sind Gottes Volk geblieben.

Und wir? Sind wir weniger halsstarrig? Gott hat uns hinzugenommen. In seinen Bund.

Er will auch unser Gott sein.

Er will uns vergeben. Er will uns trotzdem mit Haut und Haaren. Trotz der Dinge, die wir anstellen.

Und immer wieder erinnert er uns: Denkt an die Folgen. Nichts, was ihr tut bleibt ohne Folgen. Andere werden es mit ausbaden müssen.
Aber ich will Euer Gott sein und bleiben. Einer der lieber vergibt, als zu strafen. Einer, der am liebsten überhaupt nicht straft. Einer, der auch dann bei euch bleibt, wenn ihr die Folgen Eures Handelns ertragen müsst. Und wenn ihr ertragen müsst, dass auch andere euer Handeln ausbaden müssen.

1000 zu 3: Das ist meine Verhältnisbestimmung von Gnade.

Soweit der Abend vom Morgen lasse ich Eure Übertretungen von Euch sein.

Wenn Ihr euch auf mich einlassen könnt und wollt:
Ich lasse mich auf euch ein. Das ist unser Gott.
(Phil 4,7)

7 Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

EG RWL 677,1-4 Die Erde ist des Herrn

Fürbitten

Guter Gott,
du willst unser Gott sein und wir wollen zu dir gehören.
Du bist ein Gott, der bei uns ist ein Leben lang – und der uns im Tod nicht loslässt. Wir denken an HP und EM. Bei Dir wissen wir sie geborgen. Und trotzdem tut ihr Tod uns weh und besonders den Menschen, für die sie da waren. Gib ihnen Trost und hilf uns, bei den Trauernden zu sein. Hilf den Trauernden, auf uns zuzukommen. Du bist unser Gott. Hilf uns, das Richtige zu tun.

Guter Gott, wenn wir in der Bibel lesen, erschrecken wir, wenn wir von Flucht und Vertreibung lesen, von Hass und Gewalt, von Grenzen zwischen den Menschen und Völkern, von Grenzen zwischen Nachbarn.

Guter Gott, diesen Hass und diese Gewalt gibt es nun schon so lange. Warum ist damit nicht endlich Schluss? Warum fühlen sich religiöse Menschen so oft als etwas so Besonderes, dass sie auf andere Menschen herabschauen und sie bedrängen und unterjochen und vertreiben?

Guter Gott, wir möchten zu Dir gehören. Wir möchten Deine Bibel lesen und sie Richtschnur für unser Leben sein lassen. Hilf uns, dass wir uns und unseren Glauben nicht missbrauchen lassen für Hass und Gewalt, für Grenzen zwischen Menschen, die allesamt Deine Ebenbilder sind.

Hilf uns, das Nötige zu tun. Hilf uns, großzügig zu sein, wenn wir für Bibeln in Ruanda spenden. Es geht um viel mehr als nur um Bibeln. Noch gilt Ruanda als frei von Ebola. Wie lange noch? Auch dort haben die Menschen Angst. Auch sie brauchen unsere Unterstützung zu einem Glauben, der Menschen vereint und sie nicht trennt.

Guter Gott, hilf uns zu glauben, dass wir uns in unserem Glauben nicht einigeln müssen. Hilf uns zu glauben, dass wir eine Botschaft haben, die Menschen auch ohne Gewalt und Druck überzeugt. Hilf uns an die frohe Botschaft zu glauben, dass das Lachen eines Babys mehr überzeugt und größere Kraft hat als Bomben und Waffen. Und hilf uns, wenn trotzdem Waffen benötigt werden, um Menschen zu schützen, dass sie in die richtigen Hände gelangen und nicht mehr Unheil anrichten als nötig ist, um andere Menschen gegen Hass und Gewalt zu verteidigen.

Guter Gott, wir können nicht leben, ohne schuldig zu werden. Guter Gott, es tut oft so weh, an Kindern, Enkeln oder Urenkeln zu sehen, welche Folgen unser Handeln oder unser Unterlassen hat. Im Kleinen und im Großen. In der Familie und auch weltweit.

Steh denen bei, die wegen uns leiden müssen. Die für uns schuften für selten Erden oder die unsere Jeans nähen. Die für unsere Nahrung von ihrem Land vertrieben wurden – und wir wissen oft gar nicht davon.

Steh uns bei, wenn wir erkennen, wo unsere Schuld liegt. Wie sehr wir in Schuld verknüpft waren und in Schuld verknüpft sind. Weil Du trotzdem unser Gott sein möchtest, beten wir Dein Gebet:

Vaterunser

EG RWL 607 Herr, wir bitten: Komm und segne uns

Segen

Gehet hin im Frieden des Herrn.

Der Segen und die Güte Gottes
führe uns von der Ungerechtigkeit
zur Gerechtigkeit.

Der Segen und die Güte Gottes
führe uns vom Krieg
zum Frieden.

Der Segen und die Güte Gottes
führe uns
von den Ersten
zu den Letzten.
(Gottesdienst in gerechter Sprache, 2003, S. 129)

24 Der HERR segne euch und beschütze euch!
25 Der HERR blicke euch freundlich an und schenke euch seine Liebe!
26 Der HERR wende euch sein Angesicht zu und gebe euch Glück und Frieden!

Überwinde das Böse mit Gutem

13.07.2014 – 10:00
Dietrich-Bonhoeffer-Haus, Swisttal-Odendorf
Gottesdienst zum
4. Sonntag nach Trinitatis (VI) Röm 12,17-21

Wochenspruch:
Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen. Galater 6,2

Eingangslied
EG 671 Unfriede herrscht auf der Erde

Liturgische Begrüßung

“Vergeltet nicht Böses mit Bösem, überwinde das Böse mit Gutem!” –
Geht es Ihnen auch so wie mir? Man freut sich über die Erfolge auf der Fußball-Weltmeisterschaft – und dann bleibt einem die Freude im Halse stecken, wenn man von den Raketen in Israel hört, von Toten und Verletzten. Und dann diese Nacht Raketen auf Städte in Israel, Jerusalem, auf den Flugplatz in Tel Aviv, Abwehrraketen, zum Glück nur Verletzte, Raketen auf Gaza, mehr als 56 Tote dort, Israel ist mit ersten Bodentruppen in Gaza.
Dazu schlimme Nachrichten aus der Ost-Ukraine.
Irgendwie kommt dieser Gottesdienst heute zu spät.
Soll ich heute meine Stola ablegen? Ist sie zu bunt? Oder soll ich sie anbehalten als Zeichen dafür, dass Gottes Liebe trotz allem grenzenlos bleibt?
Gerade wegen der Entwicklung in der Welt möchte ich stellvertretend als Sündenbekenntnis gleich ein Gebet für Israel / Palästina lesen.

Psalm EG 709.2
Ps 22,23.24a.25-29.32

Ehr sei dem Vater …

Gebet für Israel / Palästina
Du Gott des Friedens:
Wir alle leben davon,
dass du unsere Bosheit
nicht mit Bösem vergiltst,
und an die Stelle von Rache
dein barmherziges Recht setzt.
Du bist Anwalt der Schwachen,
weist die Starken in Grenzen
und schaffst Versöhnung.
An dich wenden wir uns,
ratlos und empört
angesichts der neuen Welle von Gewalt
im Nahen Osten.
Wir können die Trauer ganz Israels
über den Mord an drei Schülern verstehen.
Wir teilen den Zorn der Palästinenser
über den grausamen Rachemord.
Aber die Hassparolen auf beiden Seiten,
die Bereitschaft zu Gewalt
und der Ruf nach weiterer Vergeltung
wecken die Sorge um die Zukunft
der ganzen Region.
Nach unserem Ermessen
gibt es kaum noch Möglichkeiten
der Versöhnung,
und wir fürchten die Folgen eines Flächenbrandes
auch für uns.
Gott, bewahre uns davor,
uns in den Konflikt hineinziehen zu lassen,
einseitig Schuld zuzuweisen,
und die Verletzungen und Ängste
der anderen Seite
nicht anzuerkennen.
Wir haben keine tauglichen Rezepte.
Deshalb bitten wir dich:
Schaffe du Frieden
für Israel und Palästina,
und für die angrenzenden Staaten.
Heile die Wunden,
die Hass und Gewalt geschlagen haben
und führe die Menschen zusammen
in Respekt füreinander
und im Geist der Versöhnung.
Sylvia Bukowski, 7. Juli 2014
http://www.reformiert-info.de/13278-0-12-2.html

Kyrie-Gesang
EG 600 Meine engen Grenzen

Zuspruch
Gott kennt unsere Grenzen, und Ohnmacht und unsere Sehnsucht. Seine Liebe ist der Schlüssel, dass wir auf sein Erbarmen vertrauen und uns auch in Schwierigkeiten stark und frei fühlen dürfen. Bei ihm sind wir zu Hause – auch in Angst um das, was in der Welt geschieht. Gott ist der Gott aller Menschen.

Ehre sei Gott in der Höhe

Kollektengebet
Gott voll Barmherzigkeit und Liebe,
hilf, dass auch wir barmherzig sind und die ertragen, die du erträgst.
Gib, dass wir einander verstehen lernen.
Durch Jesus Christus, unsern Herrn.
(EG zum 4. S.n.Tr.)

Evangelium: Lk 6,36-42

Halleluja
Das ist ein köstlich Ding, dem HERRN danken *
und lobsingen deinem Namen, du Höchster.
Psalm 92,2 Halleluja.

Glaubensbekenntnis

Lied
EG RWL 665 Liebe ist nicht nur ein Wort

Predigt
Römer 12, 17-21
17  Vergeltet niemandem Böses mit Bösem.  Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.
18 Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so  habt mit allen Menschen Frieden.
19  Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5. Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.«
20 Vielmehr,  »wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22).
21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.

Liebe Gemeinde,

leichter gesagt als getan.

Wenn man uns fragte, wie konfliktfähig wir sind, die meisten von uns würden sich wohl bescheinigen, dass wir eine ganze Menge aushalten können, und dass wir nicht besonders nachtragend sind.

Aber gibt es nicht irgendwie in jeder Familie Konflikte, die irgendwann einmal jemand unter den Teppich gekehrt hat, an die man nicht wirklich heran kommt?

Ich gestehe, ich kenne so etwas in der Familie. Ich mache das nicht gerne, aber es gibt so etwas. Menschen, die von der Beerdigung ihrer Geschwister ausgeschlossen wurden, weil es vorher so sehr gekracht hatte, dass man sich nur noch aus dem Weg gehen konnte.
Solche Konflikte haben eine Vorgeschichte. Wie oft hat man dann da gesessen, sich angehört, was der eine der Konfliktpartner über den anderen sagte, und dann auch, was der andere über den einen sagte.
Man kennt beide, man merkt, dass man beide Positionen ein Stück weit nachvollziehen kann, auch wenn man selber die jeweils andere Person so ganz anders kennt. Ja, beide haben ihre Schwächen, man erkennt den anderen in der Kritik durchaus wieder, und trotzdem tut es weh, den anderen so missverstanden zu sehen. Es tut weh, zu sehen, wie beide Seiten leiden. Der Konflikt tut niemandem gut, es gibt nur Opfer, nur Verletzungen. […]
Andere Konflikte sind globaler.

Israel konnte und wollte nicht aufhören, Siedlungen zu bauen. Die Hamas konnte und wollte nicht aufhören, Raketen zu schmuggeln, aufzustellen und abzuschießen.
Dann der grausame Mord an drei Jugendlichen. Dann der grausame Mord an einem Jugendlichen. Eine Verhaftungswelle. Raketen. Hunderte Tote.
Aktivisten und Zivilisten. Aktivisten, die sich hinter Zivilisten versteckten. Israel, das erst anruft und eine leere Rakete schickt, bevor sie ein Haus bombardiert. Eine Hamas, die Zivilisten auffordert, in dieses Haus zu kommen, damit die Israelis es nicht bombardieren können. Aber wenn die Rakete bereits unterwegs ist, wenn man das bemerkt, gibt es viele Tote.
Politiker, die zu Rache aufrufen und denen man hinterher ihre Bemühungen um Mäßigung nicht mehr wirklich abnimmt. Und nun die Eskalation.

Ich muss an den jungen Mose denken, Pflegekind bei der ägyptischen Prinzessin, Terrorist, der den Ägypter erschlägt, der den jüdischen Landsmann bedrängt.
Dem man den Friedenswillen nicht mehr abkauft, als er unter seinesgleichen Streit schlichten will.
Der Böses mit Schlechterem vergolten hatte. Der fliehen musste. Ins Exil. Der dort seine Liebe fand und – nach der Priesterlehre beim heidnischen Schwiegervater – am brennenden Dornbusch auch den jüdischen Jahwe-Glauben kennenlernte.
Den Gott des Alten Testaments, der von so vielen Menschen als Rachegott abgelehnt wird.

Hat er das nicht so oft gesagt: „Mein ist die Rache, spricht der Herr?“ Paulus zitiert hier in seinem Römerbrief 5. Mose 32,35.

Aber was bedeutet die Stelle in ihrem Zusammenhang?

Viele Menschen zu allen Zeiten dachten, dass Gott ein besonders effektiver Rächer ist. Und wenn er das so effektiv kann und tut, dann darf man ihm auch mal zuvor kommen und die Sache in die eigene Hand nehmen.  So haben es dann später oftmals die Christen gemacht. Sie fühlten sich berufen, an Gottes Stelle für ihn zu kämpfen und an seiner Stelle das Schwert in die Hand zu nehmen. Und wir müssen uns immer noch schämen über die Kreuzzüge, über Inquisition, über Kämpfe gegen die Achse des Bösen, über Todesstrafe und vieles mehr.

Denn was ist, wenn es ganz anders gemeint ist? Wenn Gott sagen will: Haltet Euch da raus. Lasst die Rache mal bitte meine Sache sein. Ihr seid viel zu aufgeregt; Ihr seid viel zu parteiisch. Wisst Ihr nicht, dass ich ein gnädiger Gott bin, der den Brudermörder Kain unter seinen Schutz stellte statt auch von ihm das Leben zu fordern?
Rächt euch nicht selbst, so heißt es im Römerbrief.
Paulus zitiert 3. Mose 19,18, und jeder bibelfeste Jude weiß sofort, wie der Vers dort fortgesetzt wird: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; in bin der HERR.“

Rächt Euch nicht, und dann folgt in 3. Mose das Gebot der Nächstenliebe, das uns vor allem aus dem Neuen Testament bekannt ist. Der Nächste, der Volksgenosse ist nicht der Fremde. Aber auch dazu gibt es Anweisungen, und selbst die Feindesliebe kommt in praktischen Anweisungen des Alten Testaments zum Ausdruck.

„Vergeltet niemandem Böses mit Bösem.  Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann.“

Was für Kreisläufe kann man in Gang setzen, wenn man immer nur auf Stärke und Vergeltung setzt?
Was für Kreisläufe kann man in Gang setzen, wenn man auf Versöhnung setzt, ohne seine Sicherheit ganz außer Acht zu lassen?

Der Kreislauf aus abblocken, Siedlungen bauen, täglich sticheln, Wasserzuteilungen kürzen, er hat jedenfalls in die Eskalation geführt. “Anders geht es nicht. Eine andere Sprache verstehen die nicht. Man kann sich doch nicht alles gefallen lassen …”
Immer schneller hat sich die Spirale gedreht. Und diese Nacht hatten wir Krieg, und es sieht so aus, als würde er noch weiter eskalieren.

Unser Bundespräsident wurde gescholten, weil er mehr Engagement in der Welt gefordert hat. Ich bin überzeugt davon, dass es ihm Ernst war, dass bewaffnete Einsätze nur die allerletzte Möglichkeit sein dürfen, die er aber nicht ausschließen wolle. Und ich habe alle seine Äußerungen so verstanden, dass es vor dieser Schwelle viel zu tun gibt. Dass man vorher nicht locker lassen darf, dass man nichts unversucht lassen darf, um zu deeskalieren, um Menschen in die Lage zu versetzen, ihren Hass zu bändigen.

Ist wieder einmal viel zu wenig getan worden? Hätte man doch noch intensiver darauf hinweisen müssen, dass ausgeweiteter Siedlungsbau in die Katastrophe führen wird? Wo stehen wir als Christen? Dürfen wir einstimmen in den Chor derer, die sagen, es hat ja doch keinen Zweck?

Gibt es keine Alternativen?

Ich verfolge seit Jahren das Projekt www.Ferien-vom-Krieg.de
Angefangen hat es mit Kindern und Jugendlichen der verfeindeten Volksgruppen im ehemaligen Jugoslawien, seit einigen Jahren finden auch Ferienprojekte für Jugendliche aus Israel und Palästina statt. Fast alle Teilnehmer haben zum ersten Mal in ihrem Leben die Chance, den Konflikt mit den Augen der Gegner zu sehen. Es kostet sie unendliche Mühen, aus ihren Gebieten auszureisen und ein Visum zu bekommen. Hinterher müssen sie sehr vorsichtig sein wegen der Vorwürfe, sie hätten sich mit den Feinden eingelassen und seien nun Verräter. Aber alle wollen Sie weiter für den Frieden mitarbeiten. Alle können sie nicht aufhören, feurige Kohlen auf das Haupt der Feinde zu sammeln, ihnen Gutes zu tun, um sie so zu beschämen, dass aus Feinden Freunde werden.

Die Kollekten heute kann ich nicht umwidmen, aber ich kann Ihnen die Flyer empfehlen, die ich mitgebracht habe. Gerade eben noch kam über Twitter die Meldung, dass es dem ARD-Korrespondent Markus Rosch gelungen ist, Gaza zu verlassen. Und die Meldung: Die Straßen sind voller Flüchtlinge.

Die Jerusalem Post analysiert heute früh: Es sei ein Irrglaube, Israel könnte die Hama zerschlagen, ebenso wie es ein Irrglaube der Hamas ist, es werde nach der Vernichtung Israels aus den Ruinen ein neues Palästina entstehen. Bis jetzt habe die „eiserne Abwehrkuppel“ der israelischen Abwehrraketen gehalten. Aber das könne keine Option auf Dauer sein. Israel habe die Zahl ziviler Toter auf ein Minimum begrenzen können, so sehr jeder einzelne Tote schmerze. Vielleicht – das ist die Hoffnung – sei die militärische Führung der Hamas jetzt so geschwächt, dass sich die zivilen Palästinenser in den nächsten Wahlen für eine weniger gewaltbereite Regierung entschließen. Aber zu engagierten Friedensbemühungen gebe es keine Alternative.

Liebe Gemeinde, mir scheint, selten war ein Predigttext so aktuell. Selten waren seine Mahnungen so wertvoll. In der großen Politik wie im menschlichen Miteinander. Sind die Tischtücher erst zerschnitten, wird es unendlich schwer, sie wieder zusammen zu nähen. Es bleiben Wunden und Verletzungen. Um so wichtiger ist es, Böses mit Gutem zu überwinden. Hass auf Israel bringt gar nichts. Hass auf die Hamas auch nichts.

Ganz ehrlich: Ich kann jeden verstehen, der nach den Demütigungen der letzten Jahre und Jahrzehnte auf Gewalt nicht verzichten mag.
Und trotzdem führt dieser Weg immer in die Katastrophe. Es war noch nie anders.

Aber in all den Konflikten, in denen man den Betreffenden echte Perspektiven anbieten konnte, konnten auch die Konflikte überwunden werden. Nordirland, Baskenland, in Deutschland die RAF, Südafrika die Apartheid, Martin Luther King in den USA: Es hat sich gelohnt, nichts unversucht zu lassen.

Es lohnt sich, wenn wir nicht locker lassen und immer wieder fragen: Haben wir unseren Gegnern schon genug Gutes getan? Hat Deutschland sich schon genug für Frieden engagiert – oder immer nur für den eigenen Wohlstand? Was kann man noch für Frieden tun?

Und letztlich unser Gott: Was wäre, wenn er sagen würde, es hat doch keinen Zweck mehr…

Aber er sagt: Es hat immer noch Zweck, mit Liebe auf Hass zu antworten. Versucht es. Es ist für ihn ebenso mühsam wie für uns. Aber er lässt nicht locker.

Darum sollten wir uns einsetzen. Im Privaten – da gibt es für jeden genug zu tun, angefangen von der Erziehung unserer Kinder und Enkel: Können sie von uns lernen, wie man Gegner und Feinde liebt und ihnen Gutes tut?

Über unsere öffentlichen Äußerungen, wenn wir die Nachrichten hören, bis zu den Wahlen: Wählen wir Parteien, die zuverlässig für Deeskalation eintreten oder solche, die lieber die Zügel schleifen lassen, bis alles zu spät ist?

Überlassen wir die Rache lieber Gott. Er kennt auch die andere Seite. Und wenn Gott den anderen lieber in den Arm nimmt, um auch ihn zu trösten, werden wir nicht böse. Denn auch wir können nur deswegen leben, weil Gott auch uns in den Arm nimmt. Immer wieder neu.

Lied
EG 666 Selig seid Ihr

Meditation zum Abendmahl
„Du bereitest einen Tisch im Angesicht meiner Feinde“, so heißt es in Psalm 23.
Die Raketen fliegen, aber Du lässt dich nicht abbringen, deckst den Tisch, lädst mich ein ebenso wie die, mit denen ich streite.
Wir sollen zu Besinnung kommen, wir sollen unsere Kriegsbeile begraben, wir sollen merken, dass wir alle als Menschen Deine Ebenbilder sind.
Wir sollen merken, dass wir alle Menschen sind.
Manchmal fällt es uns schwer angesichts unserer Wut und unserer Trauer, dass wir uns auf Deine Einladung einladen. Trotzdem wollen wir Dich loben und preisen mit allen Völkern – gerade auch wenn einige jetzt noch verfeindet sind…

Dankgebet
Auch in Krieg und Not können wir Dich preisen, Gott, denn Du lädst uns ein an deinen Tisch. Hab Dank, dass wir dort auch unsere Gegner finden. Du hast sie eingeladen. Hab Dank, dass du nicht zulässt, dass wir Feinde bleiben.
Hab Dank, dass Du nicht Hass predigst, sondern Liebe.
Hab Dank, dass wir an deinen Tisch kommen dürfen.

Abendmahl

Joh 20,21
Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.

LIed
EG RWL 678 Wir beten für den Frieden

Segen

Das Licht der Vergebung erhelle uns den Weg,
der Baum des Friedens gebe uns den Schatten,
die Welle der Liebe trage uns über das Meer,
die Kraft der Verwurzelung lasse uns beweglich sein.
Gottes Segen fließe durch unsere Hände und Füße,
damit wir, von Gott gesegnet,
für andere ein Segen sind.
(aus benno 2003, Segensworte für das ganze Leben, S. 181)

Pfingsten waren die JüngerInnen nicht ängstlich

War Pfingsten ein Aufbruch von Angsthasen, wie man es immer wieder in Andachten und Kommentaren zum Pfingstfest lesen kann?

Warum die Jüngerinnen und Jünger voller Erwartung waren und was Christinnen und Christen vom Judentum lernen können.
Meine Pfingstpredigt zu Apostelgeschichte 2 und (kurz) zu Römer 8 vom 19.05.2002, Pfingsten 2014 neu eingestellt und 2022 nachbearebeitet

War Pfingsten ein Aufbruch von Angsthasen, wie man es immer wieder in Andachten und Kommentaren zum Pfingstfest lesen kann?

Warum die Jüngerinnen und Jünger voller Erwartung waren und was Christinnen und Christen vom Judentum lernen können.
Meine Pfingstpredigt zu Apostelgeschichte 2 und (kurz) zu Römer 8 vom 19.05.2002, Pfingsten 2014 neu eingestellt und 2022 nachbearebeitet:


Welche Vorstellung haben wir von den Jüngern, wie sie da im Hause sitzen?
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich hatte bis zur Kindergottesdiensttagung um Himmelfahrt den Text mit dem ungläubigen Thomas aus dem Johannesevangelium vor Augen.

„Die Jünger waren beisammen und hatten aus Angst vor den führenden Juden die Türen abgeschlossen. Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: »Frieden sei mit euch!«“

Vor meinem inneren Auge sitzen ängstliche Jünger, die sich gegenseitig anstarren, wie sie voller Angst zittern. Sonst machen sie nichts.

Aber mit den inneren Augen ist es wie mit den richtigen Augen: Manchmal sind sie arg kurzsichtig.

[Ergänzung 2022:
Denn die letzten Verse des Lukasevangeliums, am Ende der Verse über die Himmelfahrt (!), lauten:
51 Noch während er sie segnete,  entfernte er sich von ihnen und wurde zum Himmel emporgehoben. 52 Sie fielen zu Boden und beteten ihn an. Dann kehrten sie voller Freude nach Jerusalem zurück. 53 Sie verbrachten die ganze Zeit im Tempel und lobten Gott.]

Auf der Kindergottesdienst-Helfer-Tagung [2002] in Duisburg gab es Bibelarbeiten zur Pfingstgeschichte, und eine davon wurde von Sasja Martel gehalten. Sasja ist Jüdin und leitet ein Lehrhaus in der Nähe von Amsterdam.

Für manchen Juden ist unser Neues Testament das bedeutungsloseste, was man sich vorstellen kann. Andere, und dazu gehörten ihre Lehrer Aschkenasi, Flusser und Safrai, haben das NT als ein jüdisches Buch schätzen gelernt. Sie glauben zwar immer noch nicht, dass Jesus der Messias ist, aber sie entdecken darin so viel aus ihrer eigenen jüdischen Religion.

Ostern und das Pessach-Fest gehören einfach zusammen. Und fünfzig Tage nach dem Pessachfest liegt das Wochenfest, das Schawout-Fest, das unserem Pfingsten entspricht. “Pfingsten” bedeutet hat auch nur “50”, nämlich 50 Tage nach Ostern, 50 Tage nach Pessach.

Was machen fromme Juden fünfzig Tage nach Ostern? Sasja Martel erklärte es uns so:

Pessach, zum Passafest, denken die Juden daran, wie sie aus der Sklaverei in Ägypten befreit wurden. Aber es ist gar nicht so einfach, in Freiheit zu leben. Wirklich frei zu sein, wirklich in allem frei entscheiden zu können, das muss man lernen.

Und wirklich frei entscheiden zu können, das bedeutet, Ebenbild Gottes zu sein. Wir sind von Gott geschaffen, um frei entscheiden zu können. Einfach ist das nicht. Die Juden sagen, 40 Jahre lang mussten sie es lernen, 40 Jahre lang sind sie deswegen durch die Wüste gezogen. Und am Schawout-Fest, am Wochenfest, zu unserem Pfingsten, da feiern sie diese Freiheit, die Gott uns allen gegeben hat. So wie wir Adventskalender haben, in denen wir jeden Tag ein Türchen aufmachen und auf Weihnachten zugehen, so zählen die Juden jeden einzelnen der 50 Tage bis Schawout.

Und wodurch wird man frei? Wenn man sich frei entscheiden will, braucht man Tradition, muss man wissen, woher man kommt, muss man seine Geschichte kennen, muss man im Gespräch bleiben mit den Alten, mit den ganz alten Geschichten.

Diese alten Geschichten mit der Tora, dort finden die Juden ein Modell für das Leben, ein Modell dafür, frei zu sein. Die 5 Bücher Mose sind wie Steno, wie eine Kurzfassung alles dessen, was das Leben möglich macht.

Und deswegen ist es so wichtig, die Bibel zu lesen und zu studieren. Nicht so sehr, um die richtigen Antworten zu finden. Die Antwort ist nur für jetzt, aber mit einer guten Frage kann man 50 Jahre lang leben.

Dafür muss man streiten und diskutieren und immer wieder die Bibel studieren.

Dass ist Leben, dass ist frei sein, entscheiden können, das ist Mensch sein.

Es geht nicht darum den anderen zu überzeugen. Jeder soll er selber bleiben. Denn es gibt nicht die Wahrheit. Die Wahrheit entwickelt sich weiter, bis die Erlösung kommt.

Deswegen soll man streiten, aber das Ziel ist das Leben, das Ziel ist es, frei zu sein. Und für dieses Ziel ist für die Juden das Torastudium so ungeheuer wichtig.

Und was hat dies alles mit Pfingsten zu tun? Warum heute dieser lange Ausflug ins Judentum?

Zum Wochenfest, zu Schawuot, zu Pfingsten nehmen sich orthodoxe Juden den ganzen Tag frei zum Torastudium.

Sie beginnen am Abend und lesen und diskutieren die ganze Nacht hindurch, wenn sie es durchhalten. Sie lesen und streiten, denn es geht um das Leben und um die Freiheit.

Und wenn man sich so intensiv um die Tora bemüht, dann geschehen auch schon einmal merkwürdige Dinge.

„Es wird erzählt, dass Rabbi Elieser und Rabbi Joschua einmal im Haus von Abuja zu Gast waren, als dort ein Fest gefeiert wurde. ‚Lasst uns auch Vergnügen haben’, sagten die beiden zueinander, und sie befassten sich mit den Worten der Tora; von der Tora gingen sie zu den Propheten über und von den Propheten zu den Schriften, Und ein Feuer kam vom Himmel herab und umgab sie. Abuja rief erschrocken: ‚Meine Lehrer, seid ihr gekommen, um mein Haus in Brand zu stecken?’ ‚Keineswegs’, sagten sie, ‚aber die Worte erfüllen uns mit der gleichen Freude wie damals, als sie auf dem Berge Sinai offenbart wurden, und damals brannte der Berg bis ins Herz des Himmels.’“

Für eine Jüdin wie Sasja Martel ist völlig klar, was die Jüngerinnen und Jünger damals zu Pfingsten gemacht haben in Jerusalem: Sie haben ihre Torastudien betrieben, sie haben intensiv die Bibel gelesen und sich darüber unterhalten.

Zu Pfingsten wird übrigens die Rolle mit dem Buch Ruth gelesen, die Geschichte der Ausländerin, die nicht-jüdische Frau, die sagt, ‚dein ist mein Gott’, die Geschichte also, die deutlich macht, dass Gott die Freiheit und Erlösung für jeden Menschen will, nicht nur für Juden etwa.

Und für diese Jüdin ist überhaupt nicht verwunderlich, dass an einem solchen Tag der Geist Gottes in dieses Haus des Torastudiums kommt, in dieses Haus, in dem ganz intensiv die Bibel gelesen und diskutiert wird.

Schöpfung, Offenbarung, Erlösung: Mit diesen drei Worten hat Sasja die ganze jüdische Tradition zusammen gefasst.

Gott der Schöpfer, würde ich übertragen, Jesus der, in dem sich Gott uns Menschen offenbart hat, und der Geist, in dem Gottes Erlösung zu uns kommt. So würde ich als Christ die Analogie zu diesen drei Begriffen sehen.

Und in Pfingsten läuft dies zusammen. Gott hat den Menschen als sein Ebenbild geschaffen, als freien Menschen, aber die Menschen konnten mit der Freiheit nicht umgehen. Darum kam am Sinai mit der Tora die Offenbarung, und zu Pfingsten bemühen sich die Juden um das Torastudium, um die Freiheit, um das Leben, kurz: um die Erlösung.

Und so sitzen die Jünger im Haus, und über dem Torastudium kommt der verheißene Geist. Völlig unverwunderlich erleben sie eine Flammenerscheinung, völlig unverwunderlich öffnet sich die Erlösung zu den vielen Menschen und Völkern, wie es schon in der Geschichte der Ruth angedeutet ist.

Genau um diese Freiheit geht es auch im Predigttext aus Röm 8.

Wenn man diese Zusammenhänge mit dem Torastudium und dem Geist und der Erlösung für alle Menschen begriffen hat, dann versteht man auch recht schnell die Verse aus dem Predigttext.

Paulus schreibt:

„Ihr aber seid nicht mehr von eurer eigenen Natur bestimmt, sondern vom Geist. Es will doch etwas besagen, dass der Geist Gottes in euch Wohnung genommen hat! Wer diesen Geist – den Geist von Christus – nicht hat, gehört auch nicht zu ihm. 10 Wenn nun also Christus durch den Geist in euch lebt, dann bedeutet das: Euer Leib ist zwar wegen der Sünde dem Tod verfallen, aber der Geist erfüllt euch mit Leben, weil Christus die Sünde besiegt hat und ihr deshalb bei Gott angenommen seid.“

Pfingsten feiern wir Christen, dass Gottes Geist zu uns gekommen ist, dass er die Erlösung gebracht hat, dass dieser Geist in uns wohnt., dass wir zu Jesus gehören.

Wir leben noch in dieser Welt, in einer Welt, in der es auch Krankheit und Tod noch gibt.

Aber wir feiern Pfingsten: Das Fest des Geistes Gottes, der uns mit Leben erfüllt, der uns die Sünde wegnimmt, der uns frei macht zu einem erfüllten Leben, zu einem Leben gefüllt mit Lernen und Tun. So feiern wir Pfingsten als ein besonderes Fest des Lebens.

[2. Ergänzung 2022:
Woher kommt nun das Missverständnis?
Das findet sich im Lesungstext II von Pfingstmontag aus Joh 20,19-22.
Es handelt sich um eine Ostergeschichte (!), die schon am Ostersonntagabend in der Geistausgießung mündet. Auch dort werden die Jünger zu Ostern aus der Angst gerissen.
Das geht parallel zur Lukasvariante:

Am Abend des ersten Tages der Woche,
da die Jünger versammelt
und die Türen verschlossen waren
aus Furcht vor den Juden,
kam Jesus und trat mitten unter sie
und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch!
20 Und als er das gesagt hatte,
zeigte er ihnen die Hände und seine Seite.
Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen.
21 Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch!
Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.
22 Und als er das gesagt hatte, blies er sie an
und spricht zu ihnen : Nehmt hin den Heiligen Geist!
23 Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen ;
welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.“

Nimmt man aber mit Lukas Bezug auf das Pfingstfest 50 Tage nach Ostern, gibt es dort keine Furcht mehr.

Bei Johannes erscheint der Hinweis auf den Heiligen Geist abschließend wie eine Warnung:
Wer nicht aus Gottes Liebe und Vergebung heraus lebt, kann Menschen in ihren Sünden festhalten. Aber das ist noch ein ganz anderes Thema.]

Schatz und Perle

Gottesdienst Christuskirche Zülpich
9. Sonntag n.Tr. (5.8.2007)
Predigttext: Mt 13,44-46
Prediger: Bernd Kehren

GLOCKENGELÄUT
MUSIKALISCHES VORSPIEL
BEGRÜSSUNG / ABKÜNDIGUNGEN [PresbyterIn]

WOCHENSPRUCH
Wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und wem viel anvertraut ist, von dem wird man um so mehr fordern. Lukas 12,48

LIED 447,1-3+6+7 Lobet den Herren

ERÖFFNUNG

Pfr.:  Wir feiern diesen Gottesdienst im Namen
des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes.
Gemeinde: Amen
Pfr.: Unsere Hilfe steht im Namen des Herrn,
der Himmel und Erde gemacht hat,
(der Bund und Treue hält ewiglich
und der nicht preisgibt das Werk seiner Hände.)
Pfr.: Der Herr sei mit euch!
Orgel und Gemeinde „Und mit deinem Geist.“

Am 9. Sonntag nach Trinitatis geht es im Gottesdienst darum wie viel Gott uns schenken will – und dass wir es auch ergreifen.
Der Psalm lobt Gott, der uns im Mutterleibe geschaffen hat.
In der Brieflesung hören wir auf Paulus, der merkt, dass das, was ihm früher wichtig war, nun ganz unwichtig geworden ist, weil er einen neuen Schatz gefunden hat.
Gott will ihm den Schatz schenken, darum will Paulus diesem Schaft nacheifern.
Im Evangelium hören wir die Geschichte von den Sklaven und den Talenten. Jeder hat ganz unterschiedliche Fähigkeiten, der eine mehr, der andere weniger.
Wer diese Fähigkeiten nutzt, gewinnt. Wer die Fähigkeiten brach liegen lässt, den bestraft die Geschichte.
Und der Predigttext schließlich appelliert an unseren Egoismus. Ihr findet einen unermesslichen Schatz. Jetzt grabt ihn auch aus und nehmt ihn für euch in Anspruch.
Gott will uns das Leben in seiner ganzen Fülle schenken.
Darum wünschen …

FRIEDENSGRUSS
Pfr.: … wir uns Frieden mit den Worten: „Der Friede Christi sei mit dir!“
Gemeinde „Der Friede Christi sei mit dir!“

EINGANGSPSALM EG 759.2 (= Ps 139,13-18.23.24)
Denn du hast meine Nieren bereitet
und hast mich gebildet im Mutterleibe.
Ich danke dir dafür, daß ich wunderbar gemacht bin;
wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele.
Es war dir mein Gebein nicht verborgen,
als ich im Verborgenen gemacht wurde,
als ich gebildet wurde unten in der Erde.
Deine Augen sahen mich,
als ich noch nicht bereitet war,
und alle Tage waren in dein Buch geschrieben,
die noch werden sollten und von denen keiner da war.
Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken!
Wie ist ihre Summe so groß!
Wollte ich sie zählen, so wären sie mehr als der Sand:
Am Ende bin ich noch immer bei dir.
Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz;
prüfe mich und erkenne, wie ich’s meine.
Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin,
und leite mich auf ewigem Wege.
Kommt, lasst uns anbeten:

Orgel und Gemeinde „Ehr‘ sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

SÜNDENBEKENNTNIS
Pfr.: Guter Gott, du hast die Welt geschaffen, damit wir darauf leben können. Guter Gott, du bist auf die Welt gekommen, damit wir spüren, wie nahe du uns bist, damit wir spüren, wie viel du uns schenken willst. Guter Gott, so oft lassen wir die Fülle deiner Gnade liegen,  zu oft sind wir mutlos und kraftlos und tun lieber gar nichts, um nichts falsch zu machen. All dies bringen wir in der Stille vor dich.
[STILLE]
Gott, wir brauchen deine Nähe, gib uns die Kraft, die richtigen Schritte zu tun. Macht uns Mut zum Glauben. „Kyrie eleison – Herr, erbarme dich.“

Orgel und Gemeinde Kyrie eleison. Herr erbarme dich. Christe eleison. Christe erbarme dich. Kyrie eleision. Herr, erbarm dich über uns.

GNADENZUSPRUCH
Pfr.: Guter Gott, auch wenn unsere Begabung nur klein sein mag: Du ermutigst uns zum Handeln. Und auch wenn es nur kleine Schritte sind, die wir gehen können, so lobst du uns, wenn wir sie gehen und sagst: Du warst im Kleinen zuverlässig, ich beauftrage dich nun mit einer großen Aufgabe. Du bist eine Freude für mich.

Orgel und Gemeinde „Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Fried, den Menschen ein Wohlgefallen.“ Allein Gott in der Höh sei Ehr und Dank für seine Gnade, darum dass nun und nimmer mehr und rühren kann kein Schade. Ein Wohlgefalln Gott an uns hat; nun ist groß Fried ohn Unterlass, all Fehd hat nun ein Ende.

GEBET 
Pfr.: Schenkender Gott, in einer Welt, die gebaut ist auf Gewinn und Verlust, haben wir Angst, wir könnten verlieren. Mache uns Mut, dass wir mit dir rechnen. Gib uns Anteil an der Fülle deiner Gerechtigkeit, dass wir das Leben gewinnen durch Jesus Christus.
Orgel und Gemeinde „Amen“

Verkündigung und Bekenntnis

Brieflesung (Phil 3,7-11(12-14)

Presb.:  Wir hören die Epistel aus dem Brief des Paulus an die Gemeinde in Philippi:

7 Aber was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet. 8 Ja, ich erachte es noch alles für Schaden gegenüber der überschwänglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Um seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, damit ich Christus gewinne 9 und in ihm gefunden werde, dass ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott dem Glauben zugerechnet wird. 10 Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode gleich gestaltet werden, 11 damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten. 12 Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin. 13 Meine Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht so ein, dass ich’s ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist, 14 und jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus.

Halleluja. Lass deiner sich freuen und fröhlich sein alle, die nach dir fragen; * und die dein Heil lieben, lass allewege sagen: Der HERR sei hoch gelobt! Psalm 40,17 Halleluja.
ORGEL & GEMEINDE „Halleluja, Halleluja, Halleluja“

LIED EG 272 Ich lobe meinen Gott

EVANGELIENLESUNG Mt 24,14-30
Pfr.: Aus dem Evangelium nach Matthäus

14 Die Welt Gottes solltet ihr auch mit der Geschichte von einem Mann vergleichen, der im Aufbruch zu einer Reise seine Sklaven rief und ihnen sein Vermögen zur Verwaltung übergab. 15 Dem einen gab er fünf Talente, dem nächsten zwei, dem dritten eins, jedem nach seiner Tüchtigkeit. Dann reiste er ab. 16 Sofort ging der mit den fünf Talenten los, machte mit ihnen Geschäfte und erwirtschaftete weitere fünf hinzu. 17 Ebenso erwirtschaftete der mit den zwei Talenten weitere zwei.  18 Der mit dem einen Talent ging los, grub ein Loch in die Erde und versteckte das Geld seines Besitzers. 19 Nach langer Zeit kommt der Besitzer dieser Sklaven und rechnet mit ihnen ab. 20 Der mit den fünf Talenten trat herzu und brachte weitere fünf mit den Worten: ‚Herr, du hast mir fünf Talente übergeben, hier sind die weiteren fünf, die ich erwirtschaftet habe.’ 21 Sein Besitzer sprach zu ihm: ‚Richtig gemacht, du guter und treuer Sklave. Du warst im Kleinen zuverlässig, ich beauftrage dich nun mit einer großen Aufgabe. Du bist eine Freude für deinen Besitzer. 22 Der mit den zwei Talenten trat herzu mit den Worten: ‚Hier sind die weiteren zwei, die ich erwirtschaftet habe.’ 23 Sein Besitzer sprach zu ihm: ‚Richtig gemacht, du guter und treuer Sklave. Du warst im Kleinen zuverlässig, ich beauftrage dich nun mit einer großen Aufgabe. Du bist eine Freude für deinen Besitzer.’ 24 Auch der mit dem einen Talent trat herzu und sprach: ‚Herr, ich wusste, dass du ein harter Mensch bist, der erntet, wo er nicht gesät hat, und einsammelt, was er nicht ausgeteilt hat. 25 Ich bin aus Furcht vor dir losgegangen und habe dein Talent in der Erde versteckt. Hier hast du dein Geld zurück.’ 26 Der Besitzer antwortete ihm: ‚Du böser und fauler Sklave, du wusstest also, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und einsammle, was ich nicht ausgeteilt habe? 27 Du hättest also mein Geld zur Bank bringen sollen. Dann könnte ich jetzt mein Eigentum mit Zinsen zurückbekommen. 28 Nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem mit den zehn Talenten. 29 Die schon etwas haben, denen wird mehr gegeben, sogar bis zum Überfluss. Die nichts haben, denen wird das Wenige, das sie haben, noch weggenommen. 30 Werft diesen nutzlosen Sklaven in den finstersten Kerker. Dort wird er schreien und vor Todesangst mit den Zähnen knirschen.’

Pfr.: „Lob sei dir Christe!“
ORGEL & GEMEINDE „Lob sei dir, o Christe“

GLAUBENSBEKENNTNIS

LIED EG 497,1.3-9 Ich weiß, meinGott, dass all mein Tun

PREDIGT
„Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt ! Amen.“

Liebe Gemeinde, die Bibel steckt immer wieder voller Überraschungen.

Man kann Texte immer wieder lesen und denkt: Hm, soll da wirklich noch etwas stehen, was ich noch nicht weiß? Und dann plötzlich, lesen Sie ihn noch einmal, und sie merken, da steckt noch viel mehr und vielleicht sogar ganz anders drin, als man bisher gedacht hat.

So ist es mir mit dem Predigttext heute gegangen. Bei Matthäus 13,44-46 heißt es…

44 Das Himmelreich gleicht einem Schatz, verborgen im Acker, den ein Mensch fand und verbarg; und in seiner Freude ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte den Acker. 45 Wiederum gleicht das Himmelreich einem Kaufmann, der gute Perlen suchte, 46 und als er eine kostbare Perle fand, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie.

Zweimal wird etwas Wertvolles gefunden, das eine mal ein Schatz, das andere mal eine Perle. Und beide Male wird der Himmel damit verglichen. Was soll uns das nun sagen?

Es gibt mehrere Möglichkeiten:

Z.B.: Der Himmel ist so wertvoll, dass man dafür alles andere liegen lässt. Viele Menschen haben das auch so gemacht. Nur: Ich habe Frau und drei Kinder, wenn ich die liegen ließe, alles was ich habe verkaufe, und mich auf den Weg mache, vielleicht als Wanderprediger: Sie würden sagen: Herr Kehren, als Pfarrer sind Sie nicht glaubwürdig, wenn sie die Familie verlassen und uns von Gottes Liebe und seiner Familie erzählen.

Oder: Man hat aus den Gleichnissen das Ideal der Armut herausgelesen:  Der Bauer hat nichts mehr, er hat nur noch den Acker mit dem Schatz. Und der Händler hat alles für die Perle gegeben, nun schaut er sie innig an, bis er verhungert ist, weil er nichts anderes mehr im Sinn hat als diese Perle. Ist Jesus wirklich so weltfremd, dass er so etwas gemeint haben soll?

Martin Luther hat dazu festgehalten, dass man das Evangelium und das Himmelreich geschenkt bekommt, allein aus Gnade und dass man nichts dazu tun könne. Das ist in gewisser Weise auch richtig. Aber mir scheint, dass man da noch nicht genau genug hingesehen hat.

Beide Gleichnisse haben etwas Anrüchiges an sich.

Der Arbeiter könnte ja auch sagen: Chef, ich habe hier einen tollen Schatz gefunden, ich habe ihn schon mal ausgebuddelt, bitte bediene dich.

Und der Händler könnte ja sagen: Sagen Sie mal, wissen Sie eigentlich, was Sie da für ein seltenes Exemplar haben? Also an Ihrer Stelle würde ich diese Perle beiseite legen, da können Sie locker das Zehnfache für verlangen!

Das könnten die beiden so machen. Aber sie machen es anders. Beide Gleichnisse, die etwas über den Himmel aussagen wollen, predigen zunächst einmal eine ganz erhebliche Portion Egoismus.

Jesus sagt nicht einfach: Der Himmel ist ja ungeheuer wertvoll, erzählt mal den anderen davon, damit die es gut haben…

Jesus sagt: Der Himmel ist ungeheuer kostbar, seht zu, dass ihr davon genügend ab bekommt, schaut nicht so sehr auf die anderen, dass die etwas davon bekommen, sondern greift erst mal selber zu. Der Himmel ist für euch! Für jeden einzelnen. Lasst euch den nicht durch die Finger gleiten. Haltet ihn fest!

Schauen wir noch einmal ganz genau hin. Erst müssen wir noch einmal darüber nachdenken, was da genau geschieht.

Dieser Händler, ist das ein Händler oder ist das ein Sammler?

Was meinen Sie, warum der diese Perle unbedingt haben will, warum der unbedingt alles andere verkauft, nur um an diese Perle heranzukommen?

Sammler oder Händler?

Ich behaupte: Der war Händler und er blieb Händler. Der hat die Perle nicht gekauft, um von da an in Sack und Asche – aber mit einer tollen Perle – durch die Welt zu gehen.

Der wollte ein Geschäft machen.

Wenn ein Perlenhändler alles zusammen kratzt, um eine wertvolle Perle zu kaufen, dann doch deshalb, weil er sie mit Gewinn wieder verkaufen will!

Und der Ackerbauer mit seinem Schatz: Der wird doch nicht andächtig vor seinem Acker sitzen und darüber meditieren, wie toll das ist, dass er nun einen Acker hat, in dem ein toller Schatz vergraben ist. Der wird als allererstes den Schatz ausgraben, und nun zusehen, dass er damit etwas bewirkt. Erst einmal mit seiner Frau essen gehen, Menschen anstellen, die nun für ihn arbeiten und seinen Reichtum vermehren. So wie er früher für andere gearbeitet hat und damit deren Reichtum vermehrte.

Aber was sollen uns diese beiden Gleichnisse sagen? Was haben sie mit uns zu tun? Was hat der Himmel mit uns zu tun? Was können wir heute mitnehmen aus diesem Gottesdienst?
Wofür ist der Himmel gut?
Und was ist für uns der Himmel?
Und was hat beides miteinander zu tun?

Komische Frage: Wofür ist der Himmel gut?
Der Himmel ist der Himmel, wir sprechen vom „7. Himmel“, oder vom „Himmel auf Erden“: Da geht es uns gut, da müssen wir uns keine Sorgen machen, da haben wir ausgesorgt…

Aber was ist für uns der Himmel?
Dazu gehört wahrscheinlich das Leben nach dem Tod! Das ist ganz wichtig! Das ist die Zuversicht, dass nicht alles aus ist, dass wir bei Gott geborgen sind…
Der Himmel, das ist auch Erfolg, das ist ein gesundes Selbstwertgefühl trotz aller Schwächen und Mängel, die uns als Menschen auszeichnen.
Der Himmel, das ist das Selbstbewusstsein: „Ich bin ein Kind Gottes. Ich bin ein Ebenbild Gottes, Gott hat mir seine Verantwortung gegeben.

Bekommen wir den Himmel geschenkt?

Diese Auslegung stimmt schon: Weniger findet der Ackermann den Schatz, sondern der Schatz findet ihn. Weniger findet der Händler die Perle, als die Perle ihn. Aber ist dieser Unterschied wichtig?

Mir scheint: Die beiden erhalten plötzlich und unerwartet eine ungeheure Chance. Was machen sie damit?

Ich lese den Text auch ganz persönlich in einer Zeit, in der meine eigene Arbeitsstelle in eineinhalb Jahren auslaufen wird. Bin ich vor Angst wie gelähmt? Oder tue ich treu meine Pflicht? Wenn sich eine Chance auftut, pflüge ich einfach den Acker weiter und lasse den Schatz links liegen? Rechne ich damit, dass ich auf einen Schatz stoßen könnte?  Oder sagen wir: Ist mir zu unsicher, ich pflüge meinen Acker zu Ende, und das mit dem Schatz hat ja sowieso keinen Zweck?
Oder sage ich mir: An dieser Perle kann ich zwar ein Vermögen verdienen, aber bis ich das Geld zusammen habe, um diese Perle kaufen zu können, hat der jetzige Besitzer sie bestimmt lange verkauft, und dann habe ich alles Geld flüssig gemacht, mein Haus verkauft, und alles war umsonst…

Ich lese aus diesen Gleichnissen: Wag etwas, um den Schatz zu bekommen. Richte dich nicht zu fest ein.
Wenn du der Meinung bist, da bist du auf einen Schatz gestoßen, warte nicht, bis die anderen ihn haben, sondern mach dich auf! Sei selbstsüchtig! Diese Chance bekommst du nie wieder!

Aber was können das für Schätze sein?
Wir wissen alle, die Renten sind nicht mehr sicher.
Jungen Menschen muss man empfehlen, gründlich vorzusorgen.
Finanzielle Schätze sind wichtig und nützlich und sollen nicht verachtet werden. Auch die Gesundheit ist wichtig. Was passiert, wenn man nicht mehr arbeiten kann? Fachleute empfehlen uns eine Berufsunfähigkeitsversicherung.

Geld und Gesundheit sind zweifellos wichtige Schätze. Was tun wir dafür? Ich schaue mich selbstkritisch an, denke an die Bemerkung im letzten Altenheim-Gottesdienst, dem ersten nach dem Urlaub, wie eine ältere Dame mich kritisch ansah und sagte: Herr Kehren, Sie sind auch etwas dicker geworden.

Wenn die Gesundheit ein wichtiger Schatz ist: Tue ich genug dafür?
Wenn die Ausdauer und die Kraft in den Beinen wichtig sind, damit ich im hohen Alter nicht stürze und mir den Oberschenkelhals nicht breche: tue ich genug dafür, um meine Muskeln und Knochen zu trainieren und mir zu erhalten?
„Ach, für mich ist das nichts – sollen doch die anderen…“  Ja ist das mein Oberschenkelhals, der bricht, wenn ich unsicher werde? Oder ist das ein anderer? Wenn es mir wichtig ist, wenn es mir wirklich wichtig ist, wenn dort mein Schatz ist, dann tue ich etwas dafür!

Aber sind Gesundheit und Geld die einzigen Schätze, die wichtig sind?

Wie sieht es aus mit meinen sozialen Kontakten?
Wie sieht es aus, wenn ich alt werde, wenn ich gepflegt werden muss?
Wer besucht mich dann? Wer singt mit mir? Wer liest mir die Zeitung vor? Wer erträgt meine Alzheimer-Demenz und geht so mit mir um, dass ich auch dann noch menschenwürdig lebe?
Wer betet mit mir? Wer hält meine Hand?

In vielen Gesprächen mit jüngeren Menschen höre ich: So möchte ich nicht enden. Und sie meinen: Dann möchte ich mir lieber das Leben nehmen.

Man könnte ja auch die Perspektive umdrehen:

Ist es nicht ein großer Schatz, wenn man Menschen hat, die einen auch dann betreuen, wenn nicht nur die körperlichen Kräfte schwinden, sondern auch die geistigen Kräfte?
Das ist doch ein riesiger Schatz! Das ist doch ungeheuer wertvoll für mich! Um an diesen Schatz zu gelangen, unternehme ich Anstrengungen. Da warte ich nicht, bis andere mir diesen Schatz wegschnappen, da greife ich selber zu!

Aber was kann ich denn tun?

Beim Ackerbauer ist es ganz einfach: Der verkauft alles, was er hat, und kauft den Acker, damit er an den Schatz kommt. Wenn er erst einmal den Schatz hat, kann er sich alles andere zurückkaufen und noch viel mehr.
Beim Händler ist das ebenso: Er muss sein Vermögen flüssig machen, damit er das Geschäft seines Lebens machen kann: Die kostbare Perle kaufen, zum wirklichen Wert verkaufen…

Aber wie kaufe ich die Hand, die mir am Lebensende über die Stirn streichelt?
Wie mache ich meine Liebe und Zuneigung so flüssig, dass ich damit an die Liebe und Zuneigung anderer Menschen komme, wenn ich alt werde?

Vielleicht ist der Unterschied zum Schatz im Acker gar nicht so groß!

Was macht denn genau dieser Ackermensch?

Er bringt all seine Habe an die Menschen. Wie oft wird er gesagt haben: Dieser Stuhl ist eigentlich mehr Wert, aber ich brauche jetzt dringend das Geld, damit ich an den Schatz komme. Wie oft mag er mit seinem Preis herunter gegangen sein, wie oft mag er zu preiswert verkauft haben. Damit er an das Geld kam für den Acker, hat er seinen Besitz unter die Leute gebracht!

Kann das nicht im Vergleich heißen: Wir müssen unsere Liebe und Zuneigung unter die Leute bringen?

Kann es nicht heißen: Wir geben unsere Liebe auch mal zu preiswert ab, ohne den Gegenwert zu bekommen, aber dafür haben wir hinterher einen Schatz, für den es sich gelohnt hat?

Als Vertreter der Kirche ist man immer auf der Suche nach Ehrenamtlichen, die etwa für andere tun. Und meistens appelliert man an das soziale Gewissen. Da ist jemand bedürftig und braucht Hilfe. Willst du ihm nicht helfen?

Von den beiden Gleichnissen heute kann man die Sache auch herum drehen: Was ist es dir wert, in Notsituationen oder im Alter Hilfe zu bekommen? Ist das nicht ein riesiger Schatz? Was kannst du heute dafür tun?

Wenn du dich heute im Heim engagierst, wenn du heute dazu beiträgst, dass Menschen im Rollstuhl in den Gottesdienstraum geschoben werden, wenn du heute dazu beiträgst, dass dies wieder ganz normal wird in unserer Gesellschaft, wenn du mitmachst und andere mitziehst, erwirbst du dir vielleicht einen riesigen Schatz, der dir hilft, deinen Lebensabend angemessen zu verbringen.

Ja, wir brauchen Ehrenamtliche. Ja, wir brauchen z.B. auch Presbyterinnen und Presbyter. Aber ich möchte nicht mehr an Ihr soziales Gewissen appellieren, sondern an Ihren Egoismus!

Wenn es Ihnen ein Schatz ist oder eine wertvolle Perle, dass gute Entscheidungen für die Gemeinde getroffen werden, dann bewerben Sie sich um das Presbyteramt, weil Sie etwas für Ihren Schatz tun.

Wenn für Sie ganz wichtig ist, dass Sie am Ende Ihres Lebens gute Sterbebegleitung durch Hospizhelfer bekommen, dann gehen Sie in die Hospizhilfe. Dann lassen Sie sich ausbilden, dann helfen Sie, andere Menschen auszubilden. Setzen Sie Ihr Vermögen ein, auch ihr Vermögen an Kraft und Zeit, damit Sie das bekommen, was wichtig ist für Sie.

Wenn Kinder und Familie für Sie wichtig sind, dann nehmen Sie sich Zeit dafür. Wenn die Enkel für Sie wichtig sind, dann lassen Sie auch mal ein Ehrenamt sein und nehmen sich die Zeit für die Kinder und die Enkel.

Wir lernen in der Kirche immer, wie wichtig es ist, selbstlos zu sein.
Heute treffen wir auf zwei Gleichnisse, die sagen: Der Himmel (egal, was das nun konkret ist), der ist so wertvoll und kostbar: Tu etwas dafür! In deinem eigenen Interesse!
Wenn es um den Himmel geht: Sei Egoist!
Tu nicht alles zuallererst für die anderen! Tu es für Dich! Wenn du nicht dafür sorgst, dass du an deinen Schatz gelangst, wird es auch niemand anderes für dich tun!

Dass wir dabei nicht über Leichen gehen, versteht sich von selbst.

Und dass die anderen von unserem Egoismus profitieren, schadet doch nichts!

Wenn wir uns dafür einsetzen, dass Menschen zum Beispiel in den Kapelle des Heims kommen, damit wir später einmal selber von diesem Bringedienst profitieren, das ist doch in Ordnung.
Wenn wir uns jetzt für eine sauber Luft einsetzen und dafür, dass der Klimawandel nicht so extreme Folgen hat, da haben doch auch andere etwas davon.

Aber wir tun es nicht auch reiner Nächstenliebe, sondern eben auch aus Eigenliebe. Weil wir es nicht ertragen können, dass unser Enkelkinder einmal leiden.

Die beiden Menschen aus unseren beiden Gleichnissen stoßen auf etwas, das wertvoll für sie ist.  Da kann es große Überraschungen geben.  Wir können auf Schätze stoßen, mit denen wir nicht gerechnet haben.
Das kann ein Sechser im Lotto sein, aber eben auch das Gebet am Sterbebett.
Das kann ein guter Handel sein, mit dem wir nicht gerechnet hätten, aber auch ein Gottesdienst in einem Altenheim.
Das kann etwas sehr Materielles sein, aber auch etwas Ideelles wie eine Gesellschaft, die liebevoll mit psychisch kranken, körperlich behinderten oder dementen älteren Menschen umgeht.

Wenn wir merken: Da ist ein wichtiger Schatz für uns, dann sollten wir uns auf den Weg machen, dann sollten wir nicht locker lassen, dass wir diesen Schatz auch bekommen.

Motivationsexperten sagen auf ihren Seminaren: Wir brauchen Ziele, sonst leben wir nur so vor uns her. Wenn wir Ziele haben und die richtigen Schritte auf sie zugehen, dann können wir auch Erfolg haben. Wenn wir einen Schatz finden, dann sollten wir auch zusehen, dass wir ihn bekommen und die richtigen Schritte darauf hin tun.

Denn der Himmel ist nicht etwas Tolles für alle anderen.
Der Himmel ist auch genau für Dich. Du bekommst ihn geschenkt.
Was ist Dein Schatz? Was ist der Himmel für dich?
Und was musst Du dafür tun, damit du dieses Geschenk auch bekommst?

KANZELSEGEN

„Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all‘ unsre Vernunft, bewahre unsre Herzen und Sinne in Christus Jesus!“

LIED 229(,1-3) Kommt mit Gaben und Lobgesang

Abendmahl

DANKGEBET UND FÜRBITTEN

Danket dem Herrn, denn er ist freundlich
und seine Gnade währet ewiglich.

Guter Gott, du hast uns den Himmel ganz nahe gebracht. Wir freuen uns über das neue Leben, das du uns geschenkt hast. Wir freuen uns über alle Schätze, die du uns gebracht hast. Du bringst das Leben in seiner ganzen Fülle. Wir können dabei sein, wie wir sind. Und trotzdem lässt du uns nicht, wie wir sind. Du möchtest, dass wir uns auf den Weg machen. Du möchtest, dass wir Dinge los lassen können und uns ganz darauf konzentrieren, was uns wichtig ist. Damit wir die ganze Fülle deines Lebens erhalten, die du uns verheißen hast. Darum bitten wir um deinen Frieden. Nicht nur um inwendigen Frieden, sondern um Frieden zwischen den Menschen. Um das Ende von Angst und Not, von Krankheit und Tod. Sei du bei unseren Angehörigen, bei unseren Nachbarn und Freunden, bei allen Menschen unserer Gemeinde, bei allen Menschen in der Welt, dass wir alle merken, dass wir schon jetzt Anteil haben an deinem Mahl, an Brot und Wein: Weil du uns einlädst und bei uns bist. Amen

LIED EG 228(,1-3) Er ist das Brot, er ist der Wein

SENDUNG UND SEGEN
Gehet hin im Frieden des Herrn.
ORGEL & GEMEINDE „Gott sei ewiglich Dank.“
Der HERR segne dich und behüte dich;
der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig;
der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.
+ Orgel und Gemeinde „Amen.“

MUSIKALISCHES NACHSPIEL

Altenheim-Gottesdienste

Predigten aus dem Altenheim finden Sie hier keine. Das liegt einfach daran, dass ich diese Predigten so gut wie alle frei halte und daher keine fertigen Texte habe, die ich ins Internet setzen könnte.

Zur Zeit [Anmerkung: Dieser Text entstand ca. 2009] feiere ich zwei Arten von Gottesdiensten:

  • Taize-Andachten für Menschen mit einer Demenz
  • Etwas gekürzte Abendmahlsgottesdienste mit vielen traditionellen, auch gesungenen liturgischen Anteilen.

Taize-Andachten

Diese Andachten werden mit einigen Ehrenamtlichen und Pflegenden für die schwerer dementen Bewohnerinnen und Bewohner gehalten. Sie haben einen relativ festen Ablauf und dauern etwa 20 bis 25 Minuten. In den Wohngruppen wird ein Tisch mit Tüchern, Kerzen, einem Kreuz und Dekomaterial festlich gestaltet. Die Wiederholungen der Taize-Lieder tun den Menschen – Bewohnern wie Pflegenden – sichtlich gut. Bei einem der Lieder wird der Handrücken gesalbt: Es ist ein Gottesdienst für alle Sinne: Hören, Sehen, Riechen, Hautkontakt spüren.

Als Pfarrer oder Pastor habe ich vor allem gelernt, mit Worten umzugehen und zu predigen. In den Taize-Andachten geht es um eine Form der Kommunikation, die viel mehr das Gefühl anspricht: Das ist die Ebene, auf der Menschen mit einer Demenz sehr gut kommunizieren können. Angeregt zu dieser Form der Gottesdienste wurde ich von Mechthild Lärm. Ehrenamtliche Besucherinnen und Besucher singen und gestalten die Andacht mit, bei der die Lieder mit der Konzertgitarre und nach Möglichkeit weiteren Instrumenten begleitet werden. Auf diese Weise haben sie auch einen leichteren Zugang zu einer für Außenstehende manchmal auch sehr belastenden Situation im Altenheim.

Nicht zuletzt tut diese Form auch den Mitarbeitenden gut, die ihre Bewohnerinnen und Bewohner in dieser Andacht begleiten.

Abendmahlsgottesdienste

Sie bestehen aus möglichst vielen alten bekannten Elementen.

Begrüßung, Lied, Psalm 23 mit gesungenem “Ehr sei dem Vater und dem Sohn…” freiem Tagesgebet, Glaubensbekenntnis, Lied, Predigt, Lied, Abendmahl mit vielen gesungenen Teilen, Einzelsegnung, Segen, “Großer Gott, wir loben dich”.

Selber würde ich gerne etwas mehr modifizieren, aber die alten Texte bieten den Gottesdienstbesuchern ein wichtiges Stück “Heimat”. Seit den Erfahrungen mit den Taize-Andachten begleite ich die Gottesdienste auch nicht mehr mit der Schlaggitarre, sondern mit der Konzertgitarre und einem einfachen Zupfmuster. (Nur In einem meiner Heime wird der Gottesdienst von einem Pianisten begleitet.)

Für die Predigten versuche ich nach Möglichkeit, ein kleines Stück Anschauungsmaterial mitzubringen: Eine Postkarte (die man dann auch mit auf das Zimmer nehmen kann), eine Handpuppe oder auch eine der Erzählfiguren aus dem Bistum Aachen, weil man mit ihnen so gut Gefühle ausdrücken kann. Weihnachten 2005 hatte ich für jeden einen kleinen Esel aus gedrechselten ”Reifentieren” aus dem Erzgebirge mitgebracht, und noch heute finde ich das kleine Tier auf vielen Nachtschränken in den Zimmern liegen. Dank Laserdrucker und Elektronischem Gesangbuch kann ich schnell und unkompliziert die Liedtexte in extrem großer Schrift abdrucken, so dass auch Menschen mit stärkerer Sehbehinderung die Worte noch entziffern können. An hohen Feiertagen benutze ich “Gemeindebrief-Mantelbögen”, um darauf die Liedtexte zu drucken. So haben die Besucherinnen und Besucher ein dem Feiertag angemessenens “Mitbringsel”, das oftmals noch lange Zeit aufgehoben wird.

Die frohe Botschaft des Evangeliums soll den zuhörenden Menschen in ihrer Alters- und Heimsituation gepredigt werden. Sie sollen nicht allein bleiben, wenn sie Bilanz ziehen und hoffnungsvoll in die Zukunft, nicht mehr in die ferne Zukunft, sondern auf die nächsten Monate oder auch immer nur auf die nächsten Tage (vgl. Ursula Schmitt-Pridik, Hoffnungsvolles Altern – Gerontologische Bibelauslegung, Neukirchen 2003). Einige haben sicherlich aufgrund von Alzheimer oder einer anderen Form von Demenz schon am Ende des Gottesdienstes vergessen, wovon die Predigt handelt. Aber in ihrem emotionalen Gedächtnis bleibt diesen Menschen das Gespür für die Atmosphäre in ihrem Gottesdienst und sie merken (und sagen das auch), dass sie einen schönen Gottesdienst erlebt haben.

Die Form der Einzelsegnung habe ich erst nach meiner Einführung in den Dienst als Altenheimseelsorger in Bad Münstereifel kennengelernt. Für einige der Gottesdienstbesucher ist dies die dichteste Form der Feier, fast noch wichtiger als das Abendmahl. Zu Beginn habe ich mit Händeauflegen gesegnet. Allerdings ist dies bei durchgängig sitzenden Menschen immer “von oben herab”. Seit einiger Zeit habe ich von einem Kollegen eine Form “auf Augenhöhe” übernommen: Ich gehe vor dem sitzendenden Bewohner oder der Bewohnerin in die Hocke und halte nun seine Hände. Wer möchte, bleibt mit dem Segnenden in Augenkontakt, und wer die Situation nicht versteht, hat dem Pastor einfach die Hand gegeben. Der Segensspruch greift meistens einen Gedanken der Predigt auf und endet mit der trinitarischen Form. Im Ostergottesdienst lautete er zum Beispiel: “Jesus spricht: Ich lebe und du sollst auch leben. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.”

Das Abendmahl gestalte ich als Intinctio. Einzelkelche sind bei einem Dienst in fünf verschiedenen Heimen relativ unpraktisch. Am liebsten hätte ich den Gemeinschaftskelch, aber das lässt sich im Heim aus hygienischen Gründen schlecht realisieren. Aber in jedem Gottesdienst findet sich ein Besucher oder Helfer, der noch gut zu Fuß ist und den Kelch tragen kann, in den ich dann die Oblate tauche.