Theologie als Spielball des Zeitgeistes?

Warum tue ich mir eigentlich immer noch einen Text mit dem „Zeitgeist-Vorwurf“ in der Überschrift an?

Diesmal geht es um einen Artikel in den Mitteldeutschen Kirchenzeitungen. Anfang Dezember wurde dazu Professor Schnelle, „einer der renommiertesten Theologieprofessoren Deutschlands“ interviewt.

„Zeitgeist“ ist und bleibt ein Kampfbegriff, effektiv und doch inhaltsleer.

Das Evangelium ist und bleibt auf die jeweilige Gegenwart bezogen. Unser Gott ist ein lebendiger Gott. Solange das so ist, hat sich Kirche mit der Gegenwart und der Vergangenheit kritisch auseinander zu setzen.

Typisch für die „Zeitgeist-Verurteiler“ ist die Weigerung, die Opfer der Kirchengeschichte anzuerkennen. Da bleibt dann keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, was den vielen Geschiedenen seitens der Kirche an Ausgrenzung, Hähme und Verunglimpfung angetan wurde. Da rühmt man sich zwar seiner historisch-kritschen Arbeit, lässt aber dennoch unberücksichtigt, wie sich eine frauenfeindliche Männerschar gegenüber Jesus zusammen gerottet hat, um von ihm das OK zu bekommen, sich lästig gewordener Ehefrauen zu entledigen.

Ist wirklich noch nie jemandem aufgefallen, wie a) biblizistisch und b) verfälschend Jesus die Bibel zitiert?

Im Schöpfungsbericht heißt es, „Gott schuf den Menschen zu seinem Ebenbild, männlich wie weiblich“. Es steht dort nicht, „Gott schuf den Menschen als Mann und Frau“.

Dennoch habe ich Respekt davor, wie geschickt Jesus seinen frauenfeindlichen Gesprächspartnern den Wind aus den Segeln nimmt.
Keinen Respekt habe ich vor Theologen, die a) dies nicht als einen zwar geschickten aber doch sachlich fragwürdigen Schachzug wahrnehmen und b) daraus ein ethisch fragwürdiges Gesetz aufstellen.

War Jesus pauschal gegen die Ehescheidung? Oder war er nicht vielleicht doch „nur“ gegen eine derart unsoziale Scheidung zulasten der Frauen?

Da ist es mir doch etwas zu platt, wie „einer der renommiertesten Theologen Deutschlands“ argumentiert.

Stichwort „Gericht“: Diesen Vorwurf kann ich schon gar nicht mehr hören. In der Regel läuft es doch so: Das Gericht soll immer den anderen gepredigt werden. Traue ich mich dann in solchen Diskussionen, den Vorwurf zurück zu geben und nachzuweisen, dass die Betreffenden doch selber auch vom Gericht betroffen und angesprochen sind, dann wollen sie davon nichts mehr wissen.
Dann werden sie sogar meist pampig, was mir denn überhaupt einfalle, und bei ihnen sei doch alles in Ordnung. Sorry, dieser Vorwurf ist zum K*tzen.

Als wären nicht viele der „grünen“ Bibelinterpretationen beste prophetische Gerichtspredigten gewesen, die einen klaren Spiegel vorgehalten haben, wie es mit Gott und der Erde weiter geht, wenn die Menschen das Verhalten nicht ändern. „Gott lässt sich nicht spotten.“

Die „Mehrheitsmeinung“ ist mir ziemlich egal. Wenn es danach ginge, würde ich AfD-like gegen Flüchtlinge hetzen und Obergrenzen fordern. Im Gegenteil, ich finde es wichtig, mich für Minderheiten einzusetzen. Ich finde es übrigens auch wichtig zu sagen, dass mir nicht immer gefällt, wie oberflächlich mit AfD-Wählern umgegangen wird. Die werden mir viel zu schnell in Nazi-Schubladen gesteckt, statt mal zu fragen, wie die zu ihrer Auffassung kommen. Das ist noch einmal etwas ganz anderes, als mit Recht und Abscheu festzustellen, wie verlogen die AfD-Spitzen mit der Wahrheit um gehen. Das ist nicht „postfaktisch“, sondern „verlogen-faktisch“. Die da oben arbeiten zwar auch mit „Gefühlen“, vor allem aber lügen sie sich die Realität auf eine penetranten Weise zurecht und lassen davon auch nicht ab, wenn man ihnen ihre Argumentation ausdrücklich widerlegen konnte. Sie wiederholen die verdrehten Wahrheiten so lange, bis sie (zumindest für ihre immer zahlreicheren Anhängerinnen und Angehänger) zum Allgemeingut geworden sind.

Worin der „renommierte Theologe“ selber Teil des theologischen Zeitgeistes ist: Er glaubt immer noch, Kriterien aufstellen zu können, welche Bibelstellen man dem historischen Jesus zusprechen kann und welche nicht. „Speisung der 5000“: eher nein, „Heilung der Schwiegermutter des Petrus“: eher ja. Bisher ist es doch so gewesen, dass bei diesem Verfahren immer nur das herausgekommen ist, was man als Voaussetzungen reingesteckt hatte.

Da war Bultmann übrigens durchaus weiter: Er hat den Mythos nicht eliminieren wollen, sondern ihm ging es darum, ihn zu interpretieren. (Wobei ich da gerne ganz eigene Auffassungen habe, wie der Mythos heute angemessen interpretiert werden sollte.) Sorry, aber dass ein renommierter Professor diesen beliebten Vorwurf Bultmann gegenüber wiederholt, macht ihn auch nicht wahrer.

Genau das aber ist das Problem: Die Theologie glaubt immer noch, mit ihrem historisch-kritischen Instrumentarium entscheiden zu können, was in den biblischen Worten der Menschen nun Wort Gottes ist und was nicht. Und wenn etwas „Wort Gottes“ ist, dann kann man seine Verantwortung abgeben, denn das „Wort Gottes“ wird ja wohl Recht haben.

Demgegenüber vertrete ich die Auffassung, dass mir kein einziges Bibelwort die Verantworung für mein Handeln abnimmt. Und mag ich mir noch so sicher sein, dass ein Bibelwort als Wort Gottes mein Handeln legitimiert, so kann es ausgerechnet in dieser Situation genau das verkehrte Handeln gewesen sein.

Ist etwa Abraham Vorbild im Glauben, weil er das Messer gegen seinen Sohn Isaak erhoben hat – oder weil er das Messer im entscheidenden Moment hat fallen lassen?

Ist diese Geschichte, die Aufforderung an Väter, sich so auf Gott zu verlassen, dass sie auch heute noch die Hand gegen ihre Söhne erheben würden, oder ist es die Aufforderung, dass man sich als Vater einer solchen Aufforderung nur von Anfang an widersetzen kann und widersetzen muss (das Szenario, in dem eine Art finaler Rettungsschuss gegen den eigenen gewalttätigen Sohn nötig werden könnte, einmal unberücksichtigt gelassen)?

Warum eiert dieser renommierte Professor beim Thema „Homosexualität“ so rum? Da habe ich in meinem Theologiestudium meine Ethik- und NT- und AT-Professoren (Frauen waren da damals in diesen Seminaren und Vorlesungen leider nicht dabei) ganz anders wahrgenommen: Nah an den Menschen und nah und begründet am Bibeltext, und so dass ich damit durchaus auch in der Diskussion in der Gemeinde bestehen konnte.

Wenn zu mir jemand mit einer gescheiterten Ehe in die Seelsorge kommt, dann hat er sein Gericht im Grunde schon hinter sich. Was soll ich da noch auf ihn theologisch einprügeln?
Und überhaupt: Wem gegenüber predigte Jesus das Gericht? Und wem gegenüber predigte er es ausdrücklich nicht? Täuscht mich meine Beobachtung, dass es vor allem Theologen waren, denen gegenüber er das Gericht predigte? Und Menschen, die sich in ihrem unsozialen und frommen Lebenswandel so sehr eingerichtet hatten, dass sie gar nicht mehr wahrnahmen, wem sie die qua Gottesebenbildlichkeit zugesprochene Menschenwürde vorenthielten?

Den Menschen gegenüber, die ohnehin in ihrem Leben gescheitert waren, war Jesus zugewandt und präsentierte ihnen den Gott der Liebe.

Denen, die seine zugewandte Nächstenliebe als Anbiederung an den Zeitgeist und als Gotteslästerung diffamierten, denen präsentierte er das Gericht. Ein Gericht, das ihn selbst ans Kreuz und zu den Worten „Vater vergibt ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ führte.

Wieder einmal ist die Hoffnung getrogen worden, von einem „Zeitgeist-Vorwurf-Artikel“ könnte man etwas Positives erwarten.
Man vertrödelt mit dieser Erwartung nur seine Zeit.
Ich hoffe, beim nächsten Mal kann ich der Versuchung widerstehen.

Frohe Weihnachten!

Geist und Bibel – Bibel fordert zum Widerspruch

Wie wörtlich muss man die Bibel nehmen? Darf man ihr auch einmal widersprechen? Die Bibel selbst fordert zum Widerspruch heraus.

Der Geist macht lebendig (2. Korinther 3,2-9)
20. Sonntag nach Trinitatis – Reihe 6

Predigt am 13. 10.2002 in der Versöhnungskirche, Essen
Pfarrer z.A. Bernd Kehren

Liebe Gemeinde,

der Predigttext heute ist spannend, ungemein spannend.
Er stellt uns eine Art Falle.
Man kann ihn lesen und hören und sagen: Ja ja, alles richtig, und man kann das Gefühl haben: Wenn ich dem Text und den Buchstaben darin überall zustimme, dann mache ich nichts verkehrt.
Und genau in diesem Moment schnappt die Falle zu und wir müssen uns fragen, ob wir denn wirklich verstanden haben, als wir eben sagten: Ja ja, alles richtig…

Vorgestern habe ich zwei Menschen besucht, die kurzen Kontakt mit unserer Gemeinde hatten, und deren Leben deswegen eine völlig neue Wendung genommen hat. Sie lebten an der Flora, man kannte sie, wenn man genauer hinsah, mit einer Bierdose in der Hand, sie waren – nein, sie sind – Alkoholiker. Wie es genau passierte, ich weiß es nicht. Vielleicht, weil ich einen von ihren Kollegen einmal zu beerdigen hatte. So kamen wir ins Gespräch, zumindest mit dem einen. Der andere sprach ein Gemeindeglied an, bat um Hilfe. Der erste Kontakt war hergestellt. Zwei ganz unterschiedliche Menschen zu unterschiedlichen Zeiten.

Beide kamen in Kontakt zur Blau-Kreuz-Gruppe, die jeden Mittwoch im Gemeindezentrum tagt. Und beide Male hieß es: Ihr müsst auf Entzug, sofort, und wir kennen ein gute Anlaufstelle für die Therapie hinterher. Erst haben sie sich gesträubt. “Herr Pfarrer, wenn ich gewusst hätte, wohin sie mich bringen, ich wäre nie gekommen.” Und ich sagte nur: ”Der Tag heute wird noch ihr ganzes Leben verändern…”

Der eine hat zwar seine Therapie nicht ganz durchgezogen, aber er ist immer noch trocken, der andere ist noch mitten in der Therapie. Und ich bin überglücklich, weil sie es bis dahin geschafft haben. Und nun kommt der Punkt, warum ich ihnen davon erzähle:

Ich frage den einen, wie ihm denn die Therapie gefällt. „Ganz gut“, sagt er, „aber nicht alles. Ich könnte Ihnen Dinge erzählen…“

Um die Einzelheiten geht es jetzt nicht. Denn wir merken schnell: In der Therapie kann es nicht darum gehen, dass die Therapeuten immer lieb und nett sind. In der Therapie kann es nicht darum gehen, dass die Alkoholiker in Watte gepackt werden. Die Therapie muss sperrig sein und kantig. Den die Welt ist nicht glatt, sie ist nicht immer lieb und nett. Wenn die Therapie nicht zum Widerspruch herausfordert, denn gehen die Alkoholiker unter, wenn sie wieder in die tägliche Welt kommen, wenn sie wieder mit ihren Problemen konfrontiert sind, wenn sie selber gefordert sind, einmal “Nein” zu sagen, und wenn sie nicht stattdessen wieder ihren Frust mit Alkohol ersäufen sollen. Darum muss die Therapie auch Fallen stellen, Kanten bilden, zum Widerspruch herausfordern.

Unser Predigttext ist solch eine Therapie. Nicht für Alkoholiker, sondern für Gemeindeglieder. Und darum muss er uns kantig entgegenkommen, und wir müssen an diesem Text selber lernen, Widerspruch zu üben. Wenn wir das nicht machen, haben wir ihn noch nicht verstanden. Ich werde später darauf zurückkommen. Mal schauen, ob Sie merken, wo denn die Falle steckt.

Worum geht es?
Paulus hat die Gemeinde in Korinth gegründet, er hat von Jesus erzählt, die Menschen dort sind Christen geworden und haben sich – heute würde ich formulieren – taufen und konfirmieren lassen. Paulus hatte ihnen viel von Gott und Jesus erzählt. Und nun kommen andere und sagen: Alles Quatsch. Schaut euch doch mal den Paulus an. Wie der schon aussieht. Und wie der spricht. Der bekommt doch keinen Satz richtig zu Ende. Der kann doch gar nichts. Und habt ihr mal überprüft, wo der herkommt? Der war doch Christenhasser. Vor dem hat man doch gewarnt. Und auf den hört ihr? Hier, wir haben ein Zeugnis. Wir sind geprüft, schaut mal unsere Empfehlungsschreiben. Und was hat Paulus?
Paulus hat von all diesen Vorwürfen gehört, und nun schreibt er einen Brief, den zweiten Brief an die Korinther. Der Predigttext steht in Kapitel drei, die Verse 2 bis 9.

2. Kor 3,2-9 (Nach Klaus Berger)
2 Mein Empfehlungsbrief seid einfach ihr selbst,
denn da ich euch liebe, seid ihr in mein Herz geschrieben,
und das ist ein Brief, den alle erkennen und lesen können.
3 Dieser Brief ist von Jesus Christus verfasst, und ich bin nur der Überbringer.
4 durch Jesus Christus vertraue ich auf Gott, dass all dies wahr und gut ist.
5. denn ich bin ja nicht kraft meiner eigenen Vollkommenheit zu meinem dienst geeignet, sondern dadurch, 6 dass Gott mir die Fähigkeit geschenkt hat, den neuen Bund zu den Menschen zu bringen. Dieser Bund ist nicht mit Buchstaben, sondern dem Heiligen Geist aufgezeichnet. Der Buchstabe tötet, aber der Heilige Geist macht lebendig.
7 Die Bundesordnung, die mit Buchstaben in Stein eingemeißelt war, hat Menschen zum Tode verurteilt. Zwar hat Gott diese Ordnung, als er sie stiftete, mit dem Lichtglanz seiner Herrlichkeit ausgezeichnet, so dass die Israeliten Mose nicht ins Angesicht blickten, weil es so hell leuchtete von Gottes Feuerglanz. Aber dieser Glanz war vergänglich und wurde mit der Zeit immer schwächer.
8 Die neue Bundesordnung, die durch den Geist vermittelt wird, dagegen ist viel, viel herrlicher.
9 Denn wenn schon die Ordnung, die zum Tode verurteilt, mit soviel Herrlichkeit vermittelt wird, um wie viel leuchtender muss da die Ordnung vermittelt werden, die gerecht spricht.

Also, worum geht es? Und wo steckt die Falle?

Der Buchstabe tötet, aber der Geist, der Heilige Geist macht lebendig.

Wozu braucht Paulus Zeugnisse und Empfehlungsschreiben? Die Gemeinde, die er selbst gegründet hat, die ist seine Empfehlung. Nicht weil er es war, der sie gegründet hat: das hat alles Jesus durch seinen Geist selber gemacht. Paulus war nur das Werkzeug. Wie Werkzeuge so sind. Benutzt, kantig, nicht unbedingt hübsch, aber man kann sie gebrauchen. Paulus hat sich von Gott gebrauchen lassen. Er hat gestottert, sein Konfiunterricht hätte besser sein können, besonders hübsch war er auch nicht, egal: die Botschaft, die er hatte, die brachte Menschen zum Leben zurück. Und das so überzeugend, dass Paulus nur noch sagen konnte: Was für ein Zeugnis soll ich euch denn vorlegen: Schaut euch doch nur selber an. Was glaubt ihr? Was hofft ihr? Hat sich für euch nicht alles geändert? Geht es euch jetzt nicht gut? Buchstaben, auch Zeugnisbuchstaben können so viel kaputt machen. Auch Gesetzestexte, Gemeindeordnungen, und und und…

Aber wenn Gottes Geist uns beflügelt, wenn wir darauf hören, wie Gott uns lebendig macht, wenn wir nicht einfach nur den Buchstaben trauen, dann geht es uns gut, dann sind wir selber das Zeugnis, dann brauchen wir die Buchstaben nicht mehr, dann kann man unserem Leben ansehen, wie gut es uns geht mit diesem Glauben: Leute, ist das nicht wunderbar? Ist das nicht herrlich? Ist das nicht ein wunderbarer Glaube, den Gott uns gibt?

Da geht es nicht um ein paar hundert Mark Geschenke nach der Konfirmationszeit, vielleicht bei dem einen oder anderen auch ein paar Tausend Mark, da geht es um viel mehr, da geht es um das Leben selbst.
Und ich frage mich: Spürt man uns Älteren das noch ab?Paulus sagt: Ihr selbst seid der Brief. Vielleicht auch mit Ecken und Kanten, ihr fordert auch zum Widerspruch heraus, aber Gottes Geist ist in euch, ihr seid solch ein Brief, macht ihn auf, und lasst die Menschen in euch lesen. Der Tod hat keine Macht mehr. Ihr habt das Ewige Leben. Ihr müsst auch vor Krankheit und Tod keine Angst mehr haben. Euer Ziel ist das Leben, und das merken auch die anderen Menschen… Wunderbar.

Am liebsten würde ich jetzt aufhören. Christsein ist wunderbar, es geht um das Leben in all seiner wunderbaren Füllen, auch wenn man durch tiefe Täler geht, aber letztlich wird alles gut.

Und jetzt kommt die Falle. Und in der Geschichte unseres Christentums ist sie auf todbringende Weise zugeschnappt.
Paulus ist absolut vom Geist und vom Leben überzeugt. Leute, sagt er, das Gesetz und die Zehn Gebote, die Mose uns gebracht hat, die zeigen uns doch nur, wo wir versagen. Die zeigen uns doch nur unsere Fehler. Die bringen doch den Tod. Aber selbst die hatten doch göttlichen Glanz. Ihr kennt doch die Geschichte mit Mose. Wenn der mit Gott gesprochen hatte, dann war sein Gesicht so leuchtend, dass er nur mit einem Schleier verdeckt zu ertragen war. Das Gesetz und die Buchstaben, mit denen es in Stein gemeißelt war, war todbringend, aber selbst da konnte man Gottes Glanz leuchten sehen. Wieviel mehr leuchtet auf, wenn wir uns heute nicht auf die Buchstaben, sondern auf Gottes Geist verlassen?
Man spürt förmlich die Begeisterung von Paulus.
Das Gesetz, all die vielen Regeln, die dem Leben dienen sollen, die töten so oft das Leben. Verlasst euch auf den Geist, Gott macht das schon, von ihm kommt das Leben!

Und was ist draus geworden? Wir Christen haben die Buchstaben zu ernst genommen und den Geist zu wenig ernst. So wie die Buchstaben da stehen, muss man doch auf die Idee kommen, „mit dem jüdischen Glauben stimmt was nicht. Das sind die Heuchler und Pharisäer. Steht doch irgendwie so drin in unserer Bibel. Unser neues Testament bringt das Leben, im Alten Testament steckt der Tod. Leute, haltet euch lieber an das Neue Testament. Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“

Schnack.

Haben Sie gemerkt, wie unsere Falle zugeklappt ist?

Eben noch waren wir mit Paulus voll davon begeistert, wie viel Leben die Frohe Botschaft von Jesus Christen bringen soll, und was haben wir gemacht? Wir haben den Buchstaben geglaubt, haben dem Paulus kein ”Nein” entgegen gerufen, haben – als Christentum – nicht laut erwidert: ”Das ist doch Antisemitismus, was du da machst!”
Sondern wir haben in Form von Martin Luther dazu aufgerufen, dass man Juden piesackt und aus der Stadt wirft, letztlich haben wir zum Holocaust und zur Judenvernichtung beigetragen.
Weil wir nicht sehen konnten, wie viel Glanz schon im alten Gesetz Gottes steckt, und wie viel Leben das Alte Testament schon selbst gebracht hat, und wie sehr Jesus daraus schöpfte, mit seiner Lehre. Jesus war Jude und blieb Jude. Sein Leben lang. Das Gesetz, von dem kein I-Punkt wegfallen sollte, das war das jüdische Gesetz. Das Alte Testament ist eben genauso gut wie das Neue Testament. Trotz aller Begeisterung für das Neue, das Jesus für Paulus gebracht hat.

Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.

Der Satz stimmt. Wir dürfen uns begeistern lassen, da steckt Extase drin. Ihr jungen Menscher hier traut uns alten vielleicht gar nichts mehr davon zu und versucht, selbst euren Weg ins Leben und in die Begeisterung zu finden.
Aber vor lauter Begeisterung darf man nicht den kritischen Blick darauf verlieren, wo denn der Buchstabe überall töten kann.
Antisemitismus geht viel zu oft auf solche wortwörtlichen Stellen zurück, die wir in der Bibel finden. Und der Buchstabe hat dann in der Tat ganz wörtlich getötet. Nicht nur, als es zu Hitlers Judenvernichtung kam. Auch vorher schon. Und Namen wie der von Adolf Stoecker aus Berlin erinnern daran, wie Christen zu fanatischen Antisemiten werden können.

Und da ist dann unser Nein gefordert. Wir haben Paulus und sein Wort vom Geist, der Leben bringt, erst dann verstanden, wenn wir ihm entgegen halten: Deine Buchstaben, dein Korintherbrief, der bringt den Tod, wenn wir das Alte Testament so abwerten, wie du es hier tust.

Das ist die Falle, oder vielleicht die Probe, auf die uns Paulus stellt.

Wenn wir einfach sagen: Jaja, der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig, und wir wollen ja lebendig sein, wir wollen doch das pralle Leben, dann haben wir das nur verstanden, wenn wir auch ”Nein” sagen, wenn wir Paulus erwidern: Deine Buchstaben können auch zum Tod führen, auch deine Buchstaben sind nicht alles, der Geist führt uns in einer andere Richtung, er führt zum Leben, und das geht –  wenn wir an die Juden denken – nur mit ihnen zusammen, nicht gegen sie.

Wenn wir den Predigttext heute richtig verstehen wollen, dann müssen wir uns daran reiben. So wie die Alkoholiker am Anfang, die die Therapie erst dann zum Erfolg bringen, wenn sie dem Widerstand der Therapeuten nicht ausweichen, sondern auch einmal Nein sagen, das gefällt mir so nicht, das muss doch anders laufen. Und ich greife nicht zur Flasche oder zur Tablette, ich stehe zu meinem Nein, ich bleibe beim Leben.

So müssen wir uns dran reiben und sagen: so geht das nicht. Es geht um das Leben in seiner ganzen Fülle, und damit hat Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit bei uns keinen Platz. Selbst wenn man etwas davon in der Bibel finden könnte.

Zwei Beispiele zum Schluss.

Eine meine ergreifensten Beerdigungen war die eines Homosexuellen. Seinen todkranken Partner hat er gepflegt wie ein Ehepartner. Er hat zu ihm gehalten bis zum Schluss. Drei Jahre später war er selber tot. Wie soll ich das bewerten?

Es gibt Paulusworte in der Bibel, die klar sagen, dass Menschen, die ihre Homosexualität auch leben, nicht in den Himmel kommen. Und es gibt immer noch die Meinung in der Kirche, dass deswegen Homosexuelle keine Pfarrer sein können oder Mitarbeiter in einem CVJM. Und ich muss sagen: wenn ich die Bibel wörtlich nehme, dann stimmt das. Dann muss ich mich entsprechend engagieren, muss Aufklärungsarbeit betreiben, und vieles mehr, und wenn jemand sagt, ”du, ich bin schwul und ich habe mich verliebt”, dann darf er (oder sie) die Kindergruppe oder sonst was nicht mehr leiten, denn es steht im Widerspruch zum Buchstaben der Bibel.

Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.

Wir haben Paulus erst dann verstanden, wenn wir unser Nein formulieren, auch zu Bibel-Buchstaben – dann, wenn sie töten und wenn sie das Leben verhindern.

Unsere frohe Botschaft von der Liebe Gottes zu uns Menschen steht für das Leben. Gott selber ist in den Tod gegangen, damit wir auferstehen und leben und lieben.

Und ich soll einem Menschen sagen: du durftest deinen Partner, den du bis zum Tod gepflegt hast, nicht lieben? Wenn ich das mache, dann töte ich mit dem Buchstaben. Dann tappe ich in die Falle, dann habe ich noch nichts verstanden von Gottes Geist, der das Leben bringt.

Dasselbe gilt beim Thema Ehescheidung aus dem heutigen Evangelium (Markus 10,2-9).

Es ist ganz klar: was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden. Es lohnt sich immer, um eine Ehe zu kämpfen. Wenn da Leute zusammenkommen und eine Diskussion anfangen, ob das denn wirklich so geht und ob das überhaupt praktikabel ist, dann kennt Jesus keinen Widerspruch. Ehescheidung gibt es nicht. Aber das ist nur der eine Teil der Wahrheit. Denn auch Jesus weiß, dass Ehepartner an Grenzen kommen, die sie zerstören. Dass an solchen Grenzen der Buchstabe tötet. Und dass beide – und auch die Kinder – die Chance haben sollen, zum Leben zu finden. Und dass ein Neuanfang vielleicht der bessere Weg ist, und darum spricht er vom Trennungsbrief des Mose, wenn sich unsere Herzen zu sehr verhärtet haben.

Wie war das mit Paulus? Er war nicht perfekt, und auch wir sind nicht perfekt. Gott liebt uns trotzdem und er will, dass es uns gut geht, dass wir zum Leben kommen, dass wir singen und tanzen und uns des Lebens freuen.

Darum halten wir eben nicht mehr an jedem Buchstaben fest, darum lassen wir uns begeistern – und sagen auch einmal Nein, wenn Buchstaben töten.

Denn wir sind Gottes lebendige Briefe, mit denen er uns und alle anderen Menschen auch zum Leben führen will.

Um nichts weniger geht es: Um das Leben in seiner ganzen Fülle.

Amen.