Abraham hätte Nein sagen sollen!

Predigt am 2. April 2017 in der Christuskirche zu Zülpich

Liebe Gemeinde,

der Predigtext heute aus dem 1. Buch Mose, Kapitel 22 verstört.

Das Opfer Abrahams (Luther 2017)

1 Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham und sprach zu ihm: Abraham! Und er antwortete: Hier bin ich.

2 Und er sprach: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und geh hin in das Land Morija und opfere ihn dort zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde.

3 Da stand Abraham früh am Morgen auf und gürtete seinen Esel und nahm mit sich zwei Knechte und seinen Sohn Isaak und spaltete Holz zum Brandopfer, machte sich auf und ging hin an den Ort, von dem ihm Gott gesagt hatte.

4 Am dritten Tage hob Abraham seine Augen auf und sah die Stätte von ferne.

5 Und Abraham sprach zu seinen Knechten: Bleibt ihr hier mit dem Esel. Ich und der Knabe wollen dorthin gehen, und wenn wir angebetet haben, wollen wir wieder zu euch kommen.

6 Und Abraham nahm das Holz zum Brandopfer und legte es auf seinen Sohn Isaak. Er aber nahm das Feuer und das Messer in seine Hand; und gingen die beiden miteinander.

7 Da sprach Isaak zu seinem Vater Abraham: Mein Vater! Abraham antwortete: Hier bin ich, mein Sohn. Und er sprach: Siehe, hier ist Feuer und Holz; wo ist aber das Schaf zum Brandopfer?

8 Abraham antwortete: Mein Sohn, Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer. Und gingen die beiden miteinander.

9 Und als sie an die Stätte kamen, die ihm Gott gesagt hatte, baute Abraham dort einen Altar und legte das Holz darauf und band seinen Sohn Isaak, legte ihn auf den Altar oben auf das Holz

10 und reckte seine Hand aus und fasste das Messer, dass er seinen Sohn schlachtete.

11 Da rief ihn der Engel des HERRN vom Himmel und sprach: Abraham! Abraham! Er antwortete: Hier bin ich.

12 Er sprach: Lege deine Hand nicht an den Knaben und tu ihm nichts; denn nun weiß ich, dass du Gott fürchtest und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont um meinetwillen.

13 Da hob Abraham seine Augen auf und sah einen Widder hinter sich im Gestrüpp mit seinen Hörnern hängen und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn zum Brandopfer an seines Sohnes statt.

 

Liebe Gemeinde,

geht es Ihnen so wie mir?

Am liebsten möchte ich Abraham an den Schultern packen und schütteln:
Was machst Du da?
Das darfst Du nicht!
Auf gar keinen Fall darfst Du Deinen Sohn opfern!

Wenn ich mich in Isaak hinein fühle: Was mag er gedacht haben? Voll Vertrauen, bis das Messer über ihm schwebt?

Heute müsste man davon ausgehen, dass dieses Erlebnis zu einer posttraumatischen Belastungsstörung führt. Große Todesangst. Ausgerechnet der eigene Vater erhebt das Messer. Und nur noch wenige Sekunden, dann ist es aus. Hilflos gefesselt, ohne etwas tun zu können.

Mir geht so viel durch den Kopf.

Dorothee Sölle wollte diesen grausamen Text aus der Bibel streichen.
Wer kann nach Auschwitz an einen Gott glauben, der so etwas von Abraham verlangt?
Das kann nicht sein, das darf nicht sein. An einen solchen Gott können wir nicht glauben, so Dorothee Sölle.

Ulrich Bach, dem ich für meinen Glauben viel verdanke, sagte aber, dass Gott vielen Menschen genau so erscheint wie hier bei Abraham: Rätselhaft, unfassbar, grausam. Und sie lassen trotzdem nicht von ihrem Glauben ab. Wie Abraham.

Ulrich Bach dachte an die Eltern schwerst behinderter Kinder. Müssen sie nicht auch glauben: Gott, warum ausgerechnet wir? Warum ausgerechnet unser Kind? Musste das sein? Warum wird es so früh sterben müssen? Was soll das alles?

Oder ich denke an Menschen aus dem Krankenhaus, die ich jetzt kennen lernen durfte, die sich auf ihr Kind freuten. Und dann sagt der Arzt, es gibt keine Herztöne mehr. Und dann muss die Geburt künstlich eingeleitet werden. Oder es gibt eine Ausschabung. Und immer die Frage: Gott, was mutest Du uns da zu?

Oder kennen Sie die Situation, wenn das Kind geimpft werden muss? Und es hat Angst? Und es schreit! Und wir können es nur in den Arm nehmen, aber den Piks können wir ihm nicht ersparen… Oder wenn größere OPs anstehen?
Oder allein, wenn man hilflos da steht und das Kind sich nicht trösten lässt und weint und schreit – und man weiß nicht warum, und es tut einem in der Seele weh.

Oder wenn ich mit einem Kollegen oder einer Kollegin vom Kriseninterventionsdienst hinter der Polizei stehe. Wir klingeln, und ich weiß, gleich wird jemand von der Todes-Nachricht, die der Polizist überbringen muss, zusammen brechen. Gleich wird es einen Menschen heiß und kalt den Rücken herunter laufen, die Beine werden fast nachgeben, und alles wird sich wie in Zeitlupe und wie in Watte anfühlen.

Da könnte man sich vorkommen wie Abraham, der sich auf den Weg machte und nicht wusste, wie er es seinem Sohn sagen sollte. Und hinterher seiner Frau, wo es doch schon überhaupt ein unfassbares Wunder gewesen war, dass sie in diesem hohen Alter überhaupt noch schwanger geworden ist.

Ich bewundere immer wieder den Realismus der Bibel.
Wir glauben an einen gnädigen Gott.
Ich predige gerne von diesem Gott, der uns auch in Notlagen ganz nahe ist und nicht im Stich lässt.

Aber ich weiß: Diese Notlagen können grausam sein. Und dann steht man da und kann alles nur noch hilflos geschehen lassen. Was soll man denn tun?

Da bewundere ich Abraham als ein Vorbild des Glaubens.

Und doch ist das nicht alles.

Es gibt noch mehr zu sagen zu diesem Bibeltext.

Israel damals erscheint uns ja auch gerne als irgendwie musterhaft. Aber das waren sie ganz und gar nicht. Immer wieder ging das Vertrauen in den unsichtbaren einzigen Gott verloren. Die religiöse Praxis bröckelte auch vor 2500 Jahren weiter ab. Man lernte den Glauben anderer Völker kennen. Deren Götterfiguren konnte man immerhin sehen. Denen konnte man viel wertvollere Opfer bringen, wenn es mal hart auf hart kam. Menschenopfer zum Beispiel. Junge Kinder, den Erstgeborenen. Da konnte Gott nicht mehr zürnen. Da musste er einfach für eine gute Ernte sorgen… Dachte man zumindest.

Und so erschien es immer wieder als Gottes Wille, solch einem Opfer zuzustimmen. Vielleicht erschien es den Kindern sogar als eine besondere Ehre. So wie es heute so manchem islamistischen Glaubenskämpfer als eine große Ehre erscheint, sich für den Glauben in die Luft zu sprengen und dabei möglichst viele Menschen in den Tod zu reißen. Man hat es ihm (und zunehmend auch ihr) eingeredet.

Ich weiß nicht, ob es diese Begebenheit mit Abraham wirklich so gegeben hat. Vielleicht wurde sie auch nur als eine Mustergeschichte erzählt, in der deutlich wurde: Jetzt ist ein für alle Mal Schluss mit diesen Opfergeschichten. Es gibt diese Opfer nicht mehr. Opfere, was Du willst, aber niemals  Deinen eigenen Sohn.

Und wenn Dich irgendein Führer für Volk und Vaterland verheizen will, dann sag nein.

Ist denn die Lehre aus dieser Geschichte, dass wir uns ebenso halsbrecherisch darauf einlassen, dass schon alles gut gehen wird?
Oder ist nicht die Lehre, dass wir schon vorher Nein sagen?!

Vorgestern erst war ich am Sterbebett einer Frau, der es wichtig war, dass in der Nazizeit nicht alles so schlecht war und dass nicht alle zum Schlechten gezwungen waren. Sie hat manche Sachen gerne gemacht. Und war hinterher erschüttert, wie viel Unheil durch die angerichtet worden war, denen sie vertraut hatte.

Wie viele Pfarrer hatten sich umgekehrt mit ihrer Kirche darauf eingelassen, den Führereid zu schwören. Und sie fühlten sich daran gebunden, obwohl sie genau wussten, dass es kein gutes Ende nehmen würde. Und dass sie Teil einer Mordmaschinerie waren, die nur noch Unheil über die Welt brachte.

Wäre es doch besser gewesen, wenn Abraham deutlich Nein gesagt hätte? Fordert uns die Bibel nicht förmlich dazu heraus, eben nicht alles zu glauben?

Und sind wir heute so viel besser als die damals?

Heute wird über selbstfahrende Autos diskutiert. Und über ethische Probleme, wen die nun im Zweifelsfall überfahren dürfen, wenn sich eine Kollision doch nicht mehr vermeiden lässt: Das Kind oder den Greis, den Bettler oder die Professorin…
Warum schreit keiner auf und ruft „Nein!“?
„Programmiert die Autos so, dass sie immer nur so schnell fahren dürfen, wie sie gefahrlos bremsen können!“
Oder haben Sie sich jemals in der Fahrschule darüber Gedanken gemacht, wenn Sie umfahren sollen, wenn sich ein Unfall nicht mehr vermeiden lässt?`

Oder: Darf man halsbrecherisch eine Partei wählen, von der man eigentlich nur Unheil erwarten kann, nur um den anderen eines auszuwischen?

Bei den Trumps und Putins, bei den Erdogans und sonst wem auf der Welt sieht man, dass sich zum Schluss kein Widder in den Zweigen verfängt, den man stattdessen opfern könnte. Da nimmt das Unheil unbarmherzig seinen Lauf.

So lerne ich aus diesem Bibeltext von Abraham und Isaak heute zweierlei:

Einerseits das Gottvertrauen, dass Gott es schon zu einem guten Ende bringen wird, wenn ich mich in einer scheinbar ausweglosen Situation befinde.

Was muss dieser Mann mitgemacht haben. Wie mag er die Situation von links nach rechts und von rechts nach links überlegt haben… Und er vertraute: Gott wird uns nicht im Stich lassen, egal wie es ausgeht.

Und das andere, was ich lerne, ist:

Es gibt Situationen, da muss man kritisch hinterfragen, ob das wirklich so Gottes Wille ist.
Es gibt Situationen, dass muss man bewusst suchen, wo dieser Widder ist, dieser Ausweg. Und selbst wenn man den Ausweg nicht sieht, dass man stoppt und nicht weiter macht.

In einem konservativ-evangelikalen Nachrichtenmagazin lese ich wieder einmal die Kritik daran, dass Bundeskanzlerin Merkel dieses „Wir schaffen das“ gesagt habe. Ohne eine Obergrenze ginge es nicht.
Wenn das wirklich stimmte: Hätten sich dann nicht viele Flüchtlinge wie Abraham auf einen langen Weg aufgemacht – aber der Widder, der ihnen den Ausweg möglich gemacht hätte, wird ihnen vor der Nase weggeschnappt?
Chaos, Hunger, Kälte, Unmenschlichkeit an der Grenze – und der Tod?

Und wir sagen nicht: „Wir wissen einen Ausweg!? Irgendwie schaffen wir es gemeinsam!“?

Sondern wir sagen: „Es gibt keine Lösung. Nimm Dein Messer und stoß zu!“?

Man kann diese Geschichte von Abraham und seinem Sohn Isaak unendlich grausam finden und verabscheuen und am liebsten aus der Bibel werfen.

Man kann sich aber auch von ihr leiten lassen und selbstkritisch heute fragen, wo wir uns vielleicht ganz genauso verhalten wie Abraham. Wo wir mitlaufen, wo wir schon lange hätten deutlich stoppen und Nein sagen müssen. – Und das voller Vertrauen, dass Gott dennoch bei uns ist.

Ein letztes Wort:

Die Abrahamsgeschichte kann uns helfen, die Passionstage, die noch vor uns liegen, zu verstehen.

Gott selber ist in einer Zwickmühle wie Abraham. Jesus bringt die Botschaft vom freundlichen und den Menschen zugewandten Gott. Von einem Gott, der nicht nur das Wohl der Frommen im Blick hat, sondern das Wohl aller Menschen. Und diese Menschen sollen in einer großen Freiheit voller Liebe leben.

Und gerade die Frommen verstehen das nicht und sind aufgebracht über diesen Mann namens Jesus, der ihrer fundamentalen Glaubensüberzeugungen durcheinander bringt und ihre Zusammenarbeit mit den Römern kritisiert.

An Jesus wird die Menschenfreundlichkeit Gottes deutlich. Aber was ist mit dieser Freundlichkeit, wenn sich Menschen quer stellen? Wenn sie sie nicht akzeptieren wollen? Wenn sie ausgerechnet den als Gotteslästerer hinrichten wollen, der Gottes Liebe wie kein anderer verkörpert? Soll Gott seine Menschenliebe aufgeben und mit Blitz und Donner dazwischen hauen? Oder bleibt er bei seiner Liebe zu den Menschen?

Wie muss Gott sich gefühlt haben, als er in diesem Dilemma steckt und alles auf Karfreitag zulief?

Welch ein Ansporn für uns, dass wir unsere Verantwortung voll Gottvertrauen wahrnehmen, dass nach Möglichkeit niemand in eine solch ausweglose Situation kommt.

Und welch eine Ermutigung, trotzdem am Glauben festzuhalten, auch wenn alles plötzlich sinnlos erscheint.

Möge Gott immer mit seinem Segen bei uns und unseren Lieben sein. Amen.

Das Milgram-Experiment

Das Milgram-Experiment

Wieviel Gehorsam kann ein Mensch freiwillig einem anderen Menschen entgegen bringen, ohne dazu in irgendeiner Form gezwungen zu werden?

Hannah Arend sprach von der „Banalität des Bösen“: Ganz normale Menschen – keine Bestien – hatten sich bei der fürchterlichen Menschenvernichtung während der Nazizeit beteiligt. Menschen wie Du und ich beteiligten sich daran in einem ungeheueren Maße, ohne irgendwelche Gewissensbisse zu empfinden und zu einem erheblichen Teil, ohne in irgendeiner Weise gezwungen zu sein. Sie machten einfach ihre Arbeit – und das war es dann. Sie gehorchten einer übergeordneten Instanz, der sie vertrauten, die sich halt als irgendwie übergeordnet legitimierte, sie hielten es für richtig, zu gehorchen. Manche gehorchten nur unter Protest, manche leisteten Widerstand. Gibt es Bedingungen, die den Gehorsam fördern?

Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, ist es erforderlich, Gehorsam zu messen. Aber was könnte der Maßstab sein?

Dazu wurde ein geradezu teuflisches Experiment ausgedacht.

Du liest in einer Zeitung: Versuchspersonen gesucht zu einer Untersuchung über Gedächtnis und Lernvermögen. Kostenerstattung von 25 DM je Stunde.

Du bewirbst dich und wirst mit einer weiteren Person in ein Labor eingeladen. Ein leidenschaftsloser Versuchsleiter erklärt folgendes:

Die Psychologen haben mehrere Theorien entwickelt, die eine Erklärung für die Tatsache bieten, wie Menschen unterschiedliche Arten von Lernstoffen lernen. Einige der bekannteren Theorien werden in diesem Buch abgehandelt.

Der Versuchsleiter legt euch ein Buch über den Lehr- und Lernprozess vor. Er erklärt weiter:

Eine Theorie lautet, dass der Mensch etwas exakt lernt, wenn er für einen Fehler jedesmal bestraft wird. Eine  allgemeine Anwendung dieser Theorie ist etwa, dass Eltern ein Kind schlagen, wenn es etwas angestellt hat. Die Erwartung geht dahin, dass Prügel als Bestrafung das Kind lehren werden, sich besser zu erinnern, dass sie es lehren werden, erfolgreicher zu lernen.

Wir wissen jedoch noch sehr wenig über den Einfluss von Strafe auf den Lernprozess, weil es fast keine wirklich wissenschaftlichen Untersuchungen am Menschen darüber gibt. Wir wissen zum Beispiel nicht, wieviel Strafe sich am günstigsten auf das Lernen auswirkt, und wir wissen nicht, welchen Unterschied die Person des Strafenden ausmacht – ob ein erwachsener Mensch am besten von einer jüngeren oder älteren Person als er selbst lernt – usw., usw.

Deshalb versammeln wir für unser Experiment eine Anzahl von Erwachsenen mit verschiedenen Berufen und von unterschiedlichem Alter und bitten einen Teil von ihnen, Lehrer zu sein, einen anderen Teil, Schüler zu spielen.

Wir wollen herausfinden, welche Auswirkungen verschiedenen Menschen füreinander als Lehrer und als Schüler haben, und wir wollen auch herausfinden, welche Auswirkung Bestrafung in dieser Situation hat.

Deshalb werde ich jetzt einen von Ihnen beiden bitten, hier heute abend den Lehrer darzustellen, den anderen, die Rolle des Schülers zu übernehmen.

Zieht einer von Ihnen die eine oder andere Rolle vor?

Du kannst dich nun dazu äußern, auch der andere Versuchsteilnehmer äußert seine Vorliebe. Der Versuchsleiter fährt fort:

 Also, ich glaube, es ist am fairsten, wenn ich auf zwei Zettel die Wörter „Lehrer“ und „Schüler“ schreibe und Sie beide losen lasse.

Du wirst als Lehrer ausgelost. Danach seht ihr euch die Versuchsanordnung an. Der Versuch beginnt. Der Schüler setzt sich auf eine Art elektrischen Stuhl. Er wird festgeschnallt, an seinen Armen werden Elektroden angebracht. Eine Elektrodensalbe soll helfen, Verbrennungen zu vermeiden. „Obwohl die Schocks äußerst schmerzhaft sein können, verursachen sie keine bleibenden Gewebsschädigung“, erklärt der Versuchsleiter.

Die Lernaufgabe besteht darin, Assoziationspaare zu lernen. Du sitzt im Nebenraum und liest dem Schüler Wortpaare vor:

Blau Schachtel
Schön Tag
Wild Vogel
usw

Anschließend muss der Schüler sich an das zweite Wort erinnern: Du liest vor:

Blau: Himmel, Tinte, Schachtel, Lampe.

Entsprechend der Position der richtigen Antwort drückt der Schüler einen von vier Knöpfen. Du kontrollierst die Antworten anhand von vier Kontroll-Lampen. Zur Versuchsanordnung gehört auch der Schockgenerator.

Vor dir befindet sich eine Tafel mit 30 Kippschaltern. Sie sind beschriftet mit 15 Volt, 30 Volt, 45 Volt usw bis 450 Volt. Jeweils vier Schalter tragen die Bezeichnung: „Leichter Schock“, „Mäßiger Schock“, „Mittlerer  Schock“, „Kräftiger Schock“, „Schwerer Schock“, „Sehr schwerer Schock“, „Gefahr: Bedrohlicher Schock“. Zwei Schalter nach dieser letzten Bezeichnung tragen nur die Markierung „X X X“.

Wenn ein Kippschalter betätigt wird, leuchtet über ihm eine rote Kontrollampe auf; man hört ein elektrisches Summen; ein elektrisches Blaulicht mit der Aufschrift „Spannungsverstärker“ blitzt auf; der Zeiger auf dem Voltmeter schlägt aus.

Bevor es losgeht, erhältst Du einen Probeschock von 45 Volt.

Bei jeder falschen Antwort musst Du auf dem Schockgenerator eine Stufe höher gehen. Du musst vor der Verabreichung die Voltstärke ankündigen. Z.B.: „Sie erhalten jetzt einen Schock von 150 Volt!“ Falls Du bis 450 Volt gehen wirst, sollst Du diese Stufe beibehalten. Nach zwei weiteren Versuchen wird der Versuchsleiter abbrechen.

Der einzige Ansporn, den Du erhalten wirst, besteht aus vier Sätzen, die jeweils der Reihe nach gesagt werden, bis Du den Schalter umlegst.

1 – Zuerst:

Bitte machen Sie weiter! Oder: Bitte fahren Sie fort!

2 – Falls das nicht nutzt:

Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen!

3 – Dann:

Sie müssen unbedingt weitermachen!

4 – Die letzte Steigerung:

Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen.

Das Maß für den Gehorsam ist gleichsam die Stromstärke, die Du als Lehrer maximal zu geben bereit bist, bevor Du den Versuch auf jeden Fall abbrechen wirst. Die Auslosung nach Schüler und Lehrer war natürlich Betrug: Du bist die eigentliche Versuchsperson, Du wurdest auf jeden Fall der Lehrer. Gemessen wird Deine Bereitschaft gehorsam zu sein.        

 

Soweit der Versuchsaufbau. Nun zu den Ergebnissen:

In einem Vorversuch gab es außer den Lämpchen keine Kommunikation zwischen Lehrer und Schüler.

Nahezu keine Versuchsperson brach den Versuch ab. Alle fragten so lange, bis auch der Schalter mit der höchsten Voltstärke umgelegt wurde. Kaum einer ließ sich von den Aufschriften über den Schaltern beeindrucken.

Also musste ein Schauspieler den Schüler spielen. Auch wenn der Schüler zunächst mäßig, dann auch schärfer  protestierte, führte die Mehrheit der Versuchspersonen den Versuch bis zum bitteren Ende der Skala durch.

Im eigentlichen Versuch wurden dann bestimmte Äußerungen an eine bestimmte Voltstärke gekoppelt:

 75 Volt: leichtes Knurren

120 Volt: „Es tut weh“

135 Volt: schmerzliches Stöhnen

150 Volt: Schreie „Ich weigere mich!“

180 Volt: Brüllen „Ich kann nicht mehr!“

270 Volt: Qualvolles Brüllen

300 Volt: Der Schüler weigert sich, noch Antworten zu geben.

Der Versuchsleiter gibt die Anweisung, dies als falsche Antwort zu werten und nach 5 bis 10 Sekunden Toleranzzeit weiterzumachen.

Nach 330: Keine Antworten mehr

Diese Versuchsanordnung soll also zu einem Konflikt führen: Einen Konflikt zwischen dem Gehorsam gegenüber der Forderung des Versuchsleiters weiterzumachen und der zunehmend dringenden Bitte des Schülers, das Experiment abzubrechen. Die jeweils maximale Voltstärke ist das Maß für Deinen Gehorsam.

Vorher wurden Menschen gefragt, ob sie bei diesem Versuch abbrechen würden und wann. ALLE Menschen gaben an, in jedem Falle abzubrechen. Eine ganze Reihe würde sich sogar weigern, auch nur den ersten Schock zu geben. Keiner würde einen „Sehr schweren Schock“ geben, für die meisten wäre der „Mittlere Schock“ die äußerste Grenze.

Die Zahlen der dann durchgeführten Versuche sprechen eine andere Sprache:

62 Prozent gingen bis zum bitteren Ende über „X X X“ hinaus. Und erschreckend viele der übrigen machten erst beim „Sehr schweren Schock“ Schluß.

Selbst wenn man die Anordnung veränderte und der Schüler im selben Raum saß wie der Lehrer, waren es noch 40 Prozent, die 450 Volt an einen Schüler verabreichten, der keine Äußerung mehr von sich gab.

In einer weiteren Versuchsreihe bekam der Schüler nur dann einen Schock, wenn seine Hand auf einer „Schockplatte“ lag. Ab 150 Volt weigerte sich der Schüler, und der Lehrer musste mit steigender Gewalt die Hand selbst auf die Platte drücken: Immer noch zogen 30 Prozent bis zum bitteren Ende durch!!!

Das Experiment wurde unter veränderten Bedingungen immer wieder wiederholt.

Ändert sich das Ergebnis, wenn …

  • Frauen statt Männer Versuchspersonen sind?
  • der Versuchsleiter direkt neben dem Lehrer steht?
  • wenn der Versuchsleiter zwar im Raum sitzt, aber weiter entfernt hinter einem Schreibtisch?
  • wenn er den Raum verlässt und die Anweisungen nur noch per Telefon gibt?
  • wenn der Schüler vorher unterschreiben muss, dass er sich freiwillig am Experiment beteiligt und alle Beteiligten von jeglicher Haftung an den Folgen freispricht?
  • wenn das Labor in einem Hinterhof statt hinter einer renommierten Fassade eingerichtet ist?
  • wenn der Schüler zwar unter Schmerzen schreit, aber dennoch bittet weiterzumachen, weil er es als seine Pflicht ansieht?

Teilweise kommt es zu abweichenden Ergebnissen. Immer ist jedoch der Bereitschaft, einfach weiterzumachen, enorm.

Das Ergebnis widerspricht allen Prognosen, die Versuchspersonen über ihr eigenes Verhalten abgegeben haben.

Der Autor schreibt: „Das Dilemma, das sich aus dem Konflikt zwischen Gewissen und  Autorität ergibt, ist in der Gesellschaft selbst beschlossen, und wir würden damit leben müssen, selbst wenn es Nazideutschland nie gegeben hätte. Wenn man das Problem ausschließlich historisch behandelt, verleiht man ihm eine allzu große, zu Illusionen verleitende Distanz.

Manche lehnen das Nazi-Beispiel ab, weil wir heute in einer Demokratie und nicht in einem autoritären Staat lebten. Aber das Problem wird dadurch nicht beseitigt. Denn es lautet nicht „unbedingte Autorität in der Art politischer Organisation“ oder „Gruppe von psychischen Einstellungen“, sondern „Autorität“. Unbedingte Autoritätsgläubigkeit kann demokratischer Praxis weichen, aber Autorität als solche kann nicht ausgeklammert werden, solange die Gesellschaft in der uns vertrauten Form weiterexistieren soll.

In Demokratien werden Menschen durch öffentliche Wahlen in ihr Amt eingesetzt. Doch sobald sie einmal installiert sind, besitzen sie nicht weniger Autorität, als jene, die durch andere Mittel  ihre Position erlangt haben. Und wie wir wiederholt gesehen haben, können auch die Forderungen einer demokratisch installierten  Autorität mit dem Gewissen in Konflikt geraten. Der Import und die Vernichtung der indianischen Bevölkerung Amerikas, die Intervenierung japanischer US-Bürger, der Einsatz von Napalm gegen Zivilisten in Vietnam – alle diese Aktionen waren grausam und entsprangen der Autorität einer demokratischen Nation, und man begegnete ihnen mit dem erwarteten Gehorsam. In jedem einzelnen Fall erhoben sich Stimmen des moralischen Protests, doch die typische Reaktion des Durchschnittsmenschen war, den Befehlen zu gehorchen.“

Inzwischen sind mehr als 20 Jahre vergangen. Mich würde eine Neuauflage dieses Versuches interessieren.

Ich weiß heute auch nicht mehr, ob es unbedingt ein Problem des Gehorsams ist. Ist es gehorsam, wenn man in das verlogene Geheul eines Teils unserer Politiker und des amtierenden Innenministers einstimmt, es gäbe massenhaften Asylmissbrauch in unserem Land und mögliche Asylbewerber müssten durch reduzierte Sozialhilfe usw. abgeschreckt werden, es kämen ganz „Fluten“ von ihnen in unser Land usw.? Jeder, der sich ein wenig für Flüchtlingsarbeit interessiert, kann wissen, wie verlogen dieses Geheul ist. Jeder  kann wissen, dass Bürgerkriegsflüchtlinge von den Ämtern der Gemeinden zum Asylmissbrauch aufgefordert werden, damit nicht mehr die Gemeinden, sondern andere Kostenträger für die Unterbringung zuständig werden. Jeder kann es wissen…

Und dennoch „legt“ die brave Omi von nebenan „den Schalter um“,  redet von ihrer Angst vor diesem „Pack“ und dass sie dringend „raus müssten“. Und dennoch klatschen ansonsten unauffällige Familienväter Beifall, wenn Brandsätze auf Asylheime geworfen werden.  Dennoch werden Menschen zu reiner Manövriermasse für skrupellose Politiker, die künstlich die Bearbeitungsdauer von Asylanträge verlängern und im Gegensatz dazu öffentlich erklären, sie seien zu lang, und viel mehr Menschen müssten ohne individuelle Prüfung ihres Schicksals unmittelbar wieder abgeschoben werden können.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Milgram-Experiment und der gegenwärtigen Asyldebatte? Gibt es vielleicht auch einen Zusammenhang zwischen dem Experiment und der gestiegenen Gewaltbereitschaft (nicht nur) unter Jugendlichen in unserer Gesellschaft?

Ich weiß es nicht. Mir würde es reichen, wenn der eine oder die andere nachdenklich würde über seine eigene Gehorsams- und Gewaltbereitschaft – und heute aufsteht gegen Gewalt gegen Menschen, Frauen, Männer und Kinder, egal welche Hautfarbe sie tragen und egal, ob die Gewalt sich institutionell durch Asylgesetzgebung oder ganz offensichtlich durch Brandsätze geschieht…

Bernd Kehren (ca. 1995)

Literatur:

Stanley Milgram,
Das Milgram-Experiment.
Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität.

Deutsch von Roland Fleissner.
1974 Rowohlt Verlag, Hamburg

Aus diesem Buch wird ziemlich viel ohne besondere Kennzeichnung sinngemäß und wörtlich zitiert.

Zu diesem Buch gibt es auch einen Film. Er hat seinen Titel in Anlehnung an die Geschichte von der „versuchten Opferung des Isaak“.

Film: „Abraham – ein Versuch“
BRD, 1970
Regie: Hans Lechleitner / Paul Matussek / David M. Mantell
16 mm / Lichtton / schwarz-weiß
48 Minuten
Link: https://www.fernuni-hagen.de/videostreaming/zmi/video/1986/86-16_76674/