Über die Totenstille des „Zeitgeist“-Vorwurfes
Immer wieder kann man erleben, wie in der Kirche (manchmal auch außerhalb von ihr) der Tod gepredigt wird.
Die Kurzform dieser „Predigt“ lautet: „Zeitgeist“.
Die Funktion dieser „Predigt“ ist, jegliche Reaktion auf eine Entwicklung, auf eine Idee, auf einen Missstand, auf eine Erkenntnis zu brandmarken und abzuwerten.
Auf den Vorwurf dieser Zeitgeist-Brankmarkung kann man wenig sagen. Der Vorwurf „Zeitgeist“ beendet jedes Gespräch.
Das ist kein Wunder. Denn dieser Vorwurf wird vom Tod regiert.
Wo der Tod regiert, gibt es kein Leben mehr. Keine Veränderung. Keinen Geist, der auf diese Veränderung reagieren müsste oder dürfte.
Wer „Zeitgeist“ vorwirft, predigt den Tod. Das Ende jeglichen Lebens. Das Ende von Kreativität und Phantasie.
Wer den „Zeitgeist“ vorwirft, predigt einen tödlichen Perfektionismus. Der weiß schon genau, was richtig und falsch ist. Der lässt keine Fehler mehr zu. Und wer sich zuerst bewegt, hat schon verloren.
Der „Zeitgeist“-Vorwurf maßt sich unerlaubt Macht über andere an. Wer diesen Vorwurf verwendet, weiß sich als etwas Besseres, stellt sich auf das Podest und verweist allen anderen einen Platz weiter unten zu. „Kusch, kusch, Zeitgeist, Zeitgeist, kusch, schweig, stör mich nicht, mich nicht und meine Totenruhe.“
Aber ich lebe. Und viele andere leben auch. Denken etwas Neues, sie erleben Altes neu, sie spüren die Veränderung, sie planen Veränderung, machen sich auf, wollen die Welt verändern, zu einem Besseren – auch wenn es nicht immer klappt. Als Gottes Ebenbilder sind wir erschaffen, kreativ, schöpferisch, verantwortlich, zu Entscheidungen befähigt.
Und dann immer wieder die Vollbremsung: „Zeitgeist!!“ hallt es, während das Gummi dieser Vollbremsung stinkend in die Nase steigt.
Das unterscheidet jene, denen der „Zeitgeist“ unter die Nase gerieben wird: Sie können und wollen nicht so rücksichtslos sein, dass sie einfach drüber fahren.
Es existiert ein Machtgefälle der Rücksichtslosigkeit. „Zeitgeist“ vorzuwerfen ist rücksichtslos. Es verhindert den Blick zurück, es verhindert, die Veränderung wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Wer „Zeitgeist“ vorwirft, will ewig gestrig bleiben. Das wäre nicht weiter schlimm. Die Zeit würde weiter gehen. Er verlangt aber genau dies auch von den anderen: Gestrig zu bleiben, zeitlos, ohne Entwicklung, tot.
Ein Vollbremsung vom Leben in den Tod. Von 100 auf Null in nahezu null Sekunden.
Mögen sie noch so laut „Zeitgeist, Zeitgeist“ rufen.
Ich wähle das Leben. Das Leben, das auch Fehler riskiert. Unperfekt, aber lebendig, auf Lebendiges reagierend.
Gottes Geist ist ein Geist der Lebenden, nicht der Toten. Gottes Geist ist ein Geist der Zeit. Mag sein, dass es in der Ewigkeit einmal anders ist. Ich weiß es nicht. Aber noch lebe ich, begeistert. In der Zeit. Mit dem Geist der Zeit.