Von Kindern Trauern lernen

Was Erwachsene in der Trauer von Kindern lernen können

Alice steht traurig neben Opas Sarg. Sie spürt seine kalte Hand. „Opa atmet nicht mehr. Das Herz schlägt nicht mehr. Darum ist er auch nicht mehr warm. Opa lebt nicht mehr. Opa ist tot.“ Mit einfachen Worten erklärt ihre Tante, was mit Opa ist.

Es ist gut, dass Alice mit ihren Händen ‚be-greifen‘ kann, was sich mit Opa verändert hat. Im Sarg liegt nicht der Opa, an den sie sich ankuscheln konnte, der ihr vorlas und mit ihr spielte. Im Sarg liegt der kalte tote Opa. Alice begreift das, wenn sie ihn berührt. Sie wird keine Angst haben, dass er im Sarg erstickt. Die Eltern sind traurig, Alice ist traurig. Und dann dreht sich Alice um, geht nach draußen und spielt! „Du kannst doch nicht einfach spielen, wenn Opa tot ist. Bist Du denn gar nicht traurig?!“ Die Eltern sind entsetzt.

Früher habe ich immer wieder aufgeklärt: Kinder trauern anders. Es ist normal, wenn Kinder spielen. Das hebt ihre Trauer nicht auf. Aber es wäre falsch, deswegen mit ihnen zu schimpfen oder ihnen Vorwürfe zu machen. Männer trauern anders als Frauen. Kinder trauern anders als Erwachsene. Und es ist gut, das zu wissen, damit man auf gute Weise beieinanderbleiben kann.

All das ist richtig. Doch heute sage ich: Wir Erwachsenen sollten von den Kindern lernen.

Kinder können noch viel mehr als wir Erwachsenen auf ihre Gefühle hören. Wenn Kindern die Trauer zu viel wird, steigen sie aus und gehen spielen. Und wenn sie genug gespielt haben, können sie auch wieder traurig sein.

Und wir Erwachsenen? Viel zu oft haben wir verlernt, auf unsere Gefühle und Bedürfnisse zu achten. Wir merken oft nicht mehr, wann wir uns selbst überfordern. Dann trauern manche von uns, bis sie zusammenbrechen. Wenn ein lieber Mensch gestorben ist, verbieten sie sich alles, was das Leben schön machen könnte. Die Sonne scheint, aber sie gönnen sie sich nicht, sich daran zu wärmen.

Lernen wir von den Kindern: Wenn es zu schwer wird, dürfen wir aussteigen und auftanken. Was tut uns gut? Lasst es uns genießen! Wir brauchen es, um Kraft zu schöpfen. Wir dürfen Kraft schöpfen! Damit es uns gut geht. Damit wir mit unserer Trauer leben können.

Bernd Kehren, Pfarrer

2. Vorsitzender von NEST e.V.


  • Diese Kolumne erscheint seit Anfang 2015 im Abstand von vier Wochen im Euskirchener Wochenspiegel. Wir danken der Redaktion für diese Möglichkeit, auf NEST e.V. aufmerksam zu machen.