Warum tue ich mir eigentlich immer noch einen Text mit dem „Zeitgeist-Vorwurf“ in der Überschrift an?
Diesmal geht es um einen Artikel in den Mitteldeutschen Kirchenzeitungen. Anfang Dezember wurde dazu Professor Schnelle, „einer der renommiertesten Theologieprofessoren Deutschlands“ interviewt.
„Zeitgeist“ ist und bleibt ein Kampfbegriff, effektiv und doch inhaltsleer.
Das Evangelium ist und bleibt auf die jeweilige Gegenwart bezogen. Unser Gott ist ein lebendiger Gott. Solange das so ist, hat sich Kirche mit der Gegenwart und der Vergangenheit kritisch auseinander zu setzen.
Typisch für die „Zeitgeist-Verurteiler“ ist die Weigerung, die Opfer der Kirchengeschichte anzuerkennen. Da bleibt dann keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, was den vielen Geschiedenen seitens der Kirche an Ausgrenzung, Hähme und Verunglimpfung angetan wurde. Da rühmt man sich zwar seiner historisch-kritschen Arbeit, lässt aber dennoch unberücksichtigt, wie sich eine frauenfeindliche Männerschar gegenüber Jesus zusammen gerottet hat, um von ihm das OK zu bekommen, sich lästig gewordener Ehefrauen zu entledigen.
Ist wirklich noch nie jemandem aufgefallen, wie a) biblizistisch und b) verfälschend Jesus die Bibel zitiert?
Im Schöpfungsbericht heißt es, „Gott schuf den Menschen zu seinem Ebenbild, männlich wie weiblich“. Es steht dort nicht, „Gott schuf den Menschen als Mann und Frau“.
Dennoch habe ich Respekt davor, wie geschickt Jesus seinen frauenfeindlichen Gesprächspartnern den Wind aus den Segeln nimmt.
Keinen Respekt habe ich vor Theologen, die a) dies nicht als einen zwar geschickten aber doch sachlich fragwürdigen Schachzug wahrnehmen und b) daraus ein ethisch fragwürdiges Gesetz aufstellen.
War Jesus pauschal gegen die Ehescheidung? Oder war er nicht vielleicht doch „nur“ gegen eine derart unsoziale Scheidung zulasten der Frauen?
Da ist es mir doch etwas zu platt, wie „einer der renommiertesten Theologen Deutschlands“ argumentiert.
Stichwort „Gericht“: Diesen Vorwurf kann ich schon gar nicht mehr hören. In der Regel läuft es doch so: Das Gericht soll immer den anderen gepredigt werden. Traue ich mich dann in solchen Diskussionen, den Vorwurf zurück zu geben und nachzuweisen, dass die Betreffenden doch selber auch vom Gericht betroffen und angesprochen sind, dann wollen sie davon nichts mehr wissen.
Dann werden sie sogar meist pampig, was mir denn überhaupt einfalle, und bei ihnen sei doch alles in Ordnung. Sorry, dieser Vorwurf ist zum K*tzen.
Als wären nicht viele der „grünen“ Bibelinterpretationen beste prophetische Gerichtspredigten gewesen, die einen klaren Spiegel vorgehalten haben, wie es mit Gott und der Erde weiter geht, wenn die Menschen das Verhalten nicht ändern. „Gott lässt sich nicht spotten.“
Die „Mehrheitsmeinung“ ist mir ziemlich egal. Wenn es danach ginge, würde ich AfD-like gegen Flüchtlinge hetzen und Obergrenzen fordern. Im Gegenteil, ich finde es wichtig, mich für Minderheiten einzusetzen. Ich finde es übrigens auch wichtig zu sagen, dass mir nicht immer gefällt, wie oberflächlich mit AfD-Wählern umgegangen wird. Die werden mir viel zu schnell in Nazi-Schubladen gesteckt, statt mal zu fragen, wie die zu ihrer Auffassung kommen. Das ist noch einmal etwas ganz anderes, als mit Recht und Abscheu festzustellen, wie verlogen die AfD-Spitzen mit der Wahrheit um gehen. Das ist nicht „postfaktisch“, sondern „verlogen-faktisch“. Die da oben arbeiten zwar auch mit „Gefühlen“, vor allem aber lügen sie sich die Realität auf eine penetranten Weise zurecht und lassen davon auch nicht ab, wenn man ihnen ihre Argumentation ausdrücklich widerlegen konnte. Sie wiederholen die verdrehten Wahrheiten so lange, bis sie (zumindest für ihre immer zahlreicheren Anhängerinnen und Angehänger) zum Allgemeingut geworden sind.
Worin der „renommierte Theologe“ selber Teil des theologischen Zeitgeistes ist: Er glaubt immer noch, Kriterien aufstellen zu können, welche Bibelstellen man dem historischen Jesus zusprechen kann und welche nicht. „Speisung der 5000“: eher nein, „Heilung der Schwiegermutter des Petrus“: eher ja. Bisher ist es doch so gewesen, dass bei diesem Verfahren immer nur das herausgekommen ist, was man als Voaussetzungen reingesteckt hatte.
Da war Bultmann übrigens durchaus weiter: Er hat den Mythos nicht eliminieren wollen, sondern ihm ging es darum, ihn zu interpretieren. (Wobei ich da gerne ganz eigene Auffassungen habe, wie der Mythos heute angemessen interpretiert werden sollte.) Sorry, aber dass ein renommierter Professor diesen beliebten Vorwurf Bultmann gegenüber wiederholt, macht ihn auch nicht wahrer.
Genau das aber ist das Problem: Die Theologie glaubt immer noch, mit ihrem historisch-kritischen Instrumentarium entscheiden zu können, was in den biblischen Worten der Menschen nun Wort Gottes ist und was nicht. Und wenn etwas „Wort Gottes“ ist, dann kann man seine Verantwortung abgeben, denn das „Wort Gottes“ wird ja wohl Recht haben.
Demgegenüber vertrete ich die Auffassung, dass mir kein einziges Bibelwort die Verantworung für mein Handeln abnimmt. Und mag ich mir noch so sicher sein, dass ein Bibelwort als Wort Gottes mein Handeln legitimiert, so kann es ausgerechnet in dieser Situation genau das verkehrte Handeln gewesen sein.
Ist etwa Abraham Vorbild im Glauben, weil er das Messer gegen seinen Sohn Isaak erhoben hat – oder weil er das Messer im entscheidenden Moment hat fallen lassen?
Ist diese Geschichte, die Aufforderung an Väter, sich so auf Gott zu verlassen, dass sie auch heute noch die Hand gegen ihre Söhne erheben würden, oder ist es die Aufforderung, dass man sich als Vater einer solchen Aufforderung nur von Anfang an widersetzen kann und widersetzen muss (das Szenario, in dem eine Art finaler Rettungsschuss gegen den eigenen gewalttätigen Sohn nötig werden könnte, einmal unberücksichtigt gelassen)?
Warum eiert dieser renommierte Professor beim Thema „Homosexualität“ so rum? Da habe ich in meinem Theologiestudium meine Ethik- und NT- und AT-Professoren (Frauen waren da damals in diesen Seminaren und Vorlesungen leider nicht dabei) ganz anders wahrgenommen: Nah an den Menschen und nah und begründet am Bibeltext, und so dass ich damit durchaus auch in der Diskussion in der Gemeinde bestehen konnte.
Wenn zu mir jemand mit einer gescheiterten Ehe in die Seelsorge kommt, dann hat er sein Gericht im Grunde schon hinter sich. Was soll ich da noch auf ihn theologisch einprügeln?
Und überhaupt: Wem gegenüber predigte Jesus das Gericht? Und wem gegenüber predigte er es ausdrücklich nicht? Täuscht mich meine Beobachtung, dass es vor allem Theologen waren, denen gegenüber er das Gericht predigte? Und Menschen, die sich in ihrem unsozialen und frommen Lebenswandel so sehr eingerichtet hatten, dass sie gar nicht mehr wahrnahmen, wem sie die qua Gottesebenbildlichkeit zugesprochene Menschenwürde vorenthielten?
Den Menschen gegenüber, die ohnehin in ihrem Leben gescheitert waren, war Jesus zugewandt und präsentierte ihnen den Gott der Liebe.
Denen, die seine zugewandte Nächstenliebe als Anbiederung an den Zeitgeist und als Gotteslästerung diffamierten, denen präsentierte er das Gericht. Ein Gericht, das ihn selbst ans Kreuz und zu den Worten „Vater vergibt ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ führte.
Wieder einmal ist die Hoffnung getrogen worden, von einem „Zeitgeist-Vorwurf-Artikel“ könnte man etwas Positives erwarten.
Man vertrödelt mit dieser Erwartung nur seine Zeit.
Ich hoffe, beim nächsten Mal kann ich der Versuchung widerstehen.
Frohe Weihnachten!