Überlegungen zu einem friedensethischen Beitrag von Ralf Becker, Koordinator der Initiative „Sicherheit neu denken“ der Evangelischen Kirche in Baden, der eindringlich für zivile Widerstandsmethoden wirbt und entschieden der herrschenden Logik militärischer Eskalation widerspricht, erschienen in Zeitzeichen.net Man sollte ihn gelesen haben, um die hier folgenden Fragen und Anmerkungen zu verstehen.
Was Ralf Becker leider nicht erwähnt: Gewaltfreiheit ist nicht nur auf einen gewaltfreien Widerstand angewiesen, sondern auch auf einen Gegner, der bereit ist, sich darauf einzulassen. Mit Putin statt Gorbatschow wären wahrscheinlich auch die friedlichen Proteste in der DDR ganz anders ausgegangen.
Meint jemand ernsthaft, wer sinnlos zivile Ziele angreift, ließe sich durch zivilen Protest stoppen?
Wenn zivile Proteste doppelt so oft wirken wie gewaltsamer Widerstand, wie Becker schreibt, bleibt immer noch ein Drittel der Konflikte, bei denen sie nicht wirken.
Der gewaltfreie Widerstand braucht Gruppen, die ihn gehen. Die genügend vernetzt sind, die konkrete Strategien haben, die darauf vorbereitet haben. Die ihren Widerstand unter den Bedingungen aktueller digitaler Überwachungsmöglichkeiten konspirativ verabreden können. Das braucht Strukturen.
Wo gibt es die?
Wäre Widerstand wie in Prag 1968 heute in der Form so noch möglich? Wir sind mehrere Jahrzehnte weiter und Diktatoren haben ganz andere Überwachungsmöglichkeiten.
Was nutzen uns Befragungen, wie viele Menschen gewaltfreien Widerstand üben würden, wenn ich bisher nicht wahrnehmen konnte, dass dazu bevölkerungsübergreifend Strukturen entwickelt wurden? Wie muss ich mich sinnvoll in einem solchen Fall verhalten?
Martin Luther King hatte seinerzeit im Blick auf Überwindung der Rassentrennung entsprechende Trainings veranstaltet. Wo gibt es Initiativen, wie im Falle eines Falles effektiver gewaltfreier Widerstand wie der gegen Putin aussehen müsste? Wo gibt es Trainings? Wo wird man auf Verhörsituationen vorbereitet? In der nötigen Breite unserer Bevölkerung?
Ja, lasst uns Krieg ächten! – Und wenn das jemand nicht will, wenn er geheimdienstliche Strukturen aufbaut, das Recht verachtet und weltweit eine Fakenews-Kommunikation unterstützt und Menschen dazu bringt, niemandem mehr zu glauben? Wie soll da effektiver Widerstand gelingen, wenn es nicht einmal möglich ist, eine Impfkampagne auf die nötige Impfquote zu bringen?
Was müsste sich da kurzfristig im Blick auf Bildung und Demokratie ändern? Was wäre zu tun?
Müsste da womöglich endlich einmal ein Schulterschluss auch von Bundeswehr und Friedenspolitik geübt werden, damit sich zwei große Partner im Blick auf effektive Strukturen vernetzen und sie nicht als Gegner betrachtet werden?
Wie viele Jahre des „suchet der Stadt bestes“ müsste man ertragen wollen, wie viele Verschwundene in Straflagern und Geheimkellern, bis ziviler Widerstand einen Menschen wie Putin gestoppt hätte?
Und was bedeuten in diesem Zusammenhang Texte wie der des Lobgesangs Mariä, in dem die Hohen erniedrigt werden? Ist Gottes Handeln da immer gewaltfrei zu denken?
Was nutzt uns ein Perspektivwechsel bis 2040, wenn Putin jetzt völkerrechtswidrig ein Land überfällt?
Was nutzt der Hinweis auf die Entspannungspolitik und die entsprechenden EKD-Denkschriften, wenn die atomare Abschreckung nicht mehr funktioniert, die eine Voraussetzung dafür war, und so Putin diesen Angriffskrieg wagen konnte?
Ich habe vor allem Fragen, keine Antworten. Vor allem keine kurzfristigen. Was müsste geschehen, dass Menschen in unserer deutschen Komfortzone zu Helden des gewaltfreien Widerstands werden? Im Sinne des Amtseids der Bundeswehr, Freiheit und Demokratie auch unter Einsatz des Lebens – aber dann gewaltfrei – zu verteidigen? (Gewaltfrei nur gegen Personen oder ist gezielte Sabotage möglich?) Wie müsste eine Gesellschaft strukturiert sein, die ihre Wirtschaft effektiv gegen einen Agressor blockiert, ohne dabei so zusammenzubrechen, dass es zivile Tote durch Unterversorgung gibt?
Viel dezentraler sicherlich! Aber wie noch?
Wie stark – auch wie militärisch stark – muss ein Staat sein, um eine gewaltfreie Auseinandersetzung führen zu können? Und was heißt in diesem Zusammenhang „gewaltfrei“, wenn eine solche Strategie gewaltige Wirkung zeigen soll?
Wie „stark“ muss ein Staat sein, auch strukturell: Kommunikationsstrukturen, Datensicherheit, dezentrale Energieversorgung, Vorratshaltung, Versteckmöglichkeiten, Zusammenhalt, Bunkermöglichkeit, Doppelstrukturen, Reserven (Energie, Wasser, Strom, Grundnahrung, medizinische Versorgung) und Ausfallsicherheit?
Wie viel Leidensfähigkeit und Leidenswillen und Bewusstsein für Freiheit ist bei seinen Bürgerinnen undf Bürgern nötig – und das ohne querdenkerische Unvernunft? Wie viel Vertrauen in demokratische Strukturen? Wie viel Bildung, naturwissenschaftlich und sachlich, um selbständig gegen fakenews und Desinformation gerüstet zu sein?
Ich kann mich noch daran erinnern: An die Angst vor den russischen Panzern bei den großen Demonstrationen in der DDR zum Schluss. Es ist gut ausgegangen. Heute erleben wir: Das war kein Naturgesetz.
Das heißt nicht, dass ich gegen Gewaltfreiheit wäre: Man hat ihn oft belächelt und kleingeredet, den „Gewaltverzicht“ der deutschen Heimatvertriebenen nach dem Ende des 2. Weltkriegs (Was nicht verwunderlich ist angesichts eines lange Zeit leider weit verbreiteten Revanchismus in jenen Kreisen). Aber ohne ihn wäre ich möglicherweise als kleiner und jetzt großer Partisanenkämpfer aufgewachsen.
Jede gewalttätige Auseinandersetzung kann nur dann enden, wenn mindestens eine Partei bereit ist, auf Gewalt zu verzichten, die sie einsetzen könnte. Das setzt ein gutes moralisches Urteilsvermögen voraus. Leider auch beim Gegner. Aber leider auch bei einem selbst. Was zur Frage führt: Hatten wir angesichts der internationalen auch wirtschaftlichen Verflochtenheit genug davon? Wo haben wir uns um unseres Wohlstandes willen auf moralisch zweifelhafte Geschäfte eingelassen, die uns nun auf die Füße fallen? In kirchlichen Kreisen haben wir viel getan und gedacht. Sehr viel. Aber war es genug? Wo waren „wir“ dann doch schlicht Wohlstandsmitläufer? Wo haben wir die Augen verschlossen? Wo dachten wir, bei den Guten zu sein und waren doch trotzdem Teil des Bösen?
Und wo sind „wir“ es jetzt, wenn 2% in Rüstung und Sicherheit gehen sollen? Schreien wir laut genug, dass Deutschland sich schon lange auf 2% für Entwicklungsarbeit verpflichtet hat, dass es dann auch da endlich ein entsprechendes Sondervermögen geben muss und entsprechende dauerhafte Ausgaben im Staatshaushalt?
Noch mal: Viele Fragen. Was nicht heißt, dass man einen solchen Weg nicht gehen kann oder gehen soll, sondern dass er nur gegangen werden kann, wenn man sich um entsprechende Antworten bemüht.
Bernd Kehren