Aus Anlass einer offenen Stellungnahme einer Kollegin
Diese Stellungnahme findet man unter https://chrismon.evangelisch.de/artikel/2021/51517/kann-man-sterbehilfe-rechtlich-regeln und ich freue mich über die Offenheit, mit der Sie diese Fragen anspricht und über die Offenheit, die Sie fordert.
Ich würde mir wünschen, dass Kirche und die „Offiziellen“ der Palliativszene offen und ehrlich über den „Graubereich“ aus jenem Beitrag hinter diesem Link oben reden, den es in der palliativen Betreuung gibt und den es dort geben muss. Und dass es dann in diesem Kontext diesen Graubereich auch in christlichen Alten- und Pflegeheimen geben darf.
Und dann brauchen wir eine offensive Diskussion darüber, dass lebenswertes Leben nicht nur auf der Überholspur des Lebens lebenswert ist, sondern auch (wer stellt das infrage), wenn doch jeder Mensch schwer pflegebedürftig auf die Welt kommt und (das stellen viele infrage) viele zuletzt auch wieder pflegebedürftig werden und auf mehr oder weniger Hilfe angewiesen sind.
Mal ganz ehrlich: Auch auf der „Überholspur des Lebens“ sind wird auf andere angewiesen. Nur weil deren Hilfe anonym an der Kasse bezahlt werden kann, heißt es doch nicht, dass wir davon unabhängig sind. Nur weil wir uns großzügig aussuchen können (je nach Einkommen), was wir in den Einkaufswagen legen.
Was bilden wir uns auf unsere vermeintliche Autonomie alles ein und merken gar nicht mehr, wie sehr wir abhängig von anderen Menschen sind – und wie sehr wir denen durch unseren Lebensstil auch schaden.
Wenn wir nicht schnell genug sind: kaufen wir ein Auto mit viel PS.
Dass auch ein Rollator uns helfen kann, Autonomie zu behalten oder ein Pflegedienst oder ein Seniorenheim oder ein Hospiz: Wer spricht darüber? Wer sieht das halbvolle Glas mal von dieser Seite?
Ich war lange Zeit Altenheimseelsorger und habe dort viele dankbare und glückliche Menschen erlebt.
Aber auch Unglückliche erlebt, die über ihren Todeswunsch nicht sprechen konnten – und dann auf eine Weise aus dem Leben geschieden sind, die ich niemandem wünsche. Denen hätte ich gewünscht, dass sie die Offenheit gespürt hätten, darüber zu sprechen. Vielleicht hätte man dann die Umstände verändern können, die am Leben hindern. Oder zumindest mit ihnen gemeinsam ringen können, ihnen dabei beistehen können, Und wenn nicht, hätte ich ihnen einen assistierten Suizid gewünscht, der im Gegensatz zur Weise, wie sie einsam aus dem Leben geschieden sind, wenigstens ein wenig mit Menschenwürde in Verbindung gebracht werden könnte. Nein, deutlich mehr.
Das offizielle Sprachtabu verhindert keinen (assistierten) Suizid, befürchte ich, sondern fördert sie nur.
Lasst uns vom Leben sprechen, das es ohne Schmerz nicht gibt. Von dem man mehr aushalten kann, als man denkt.
Lasst uns ehrlich über die „Vögel unter dem Himmel“ sprechen, „die unser himmlischer Vater ernährt“ – und von den Würmern und kleinen Fröschen usw., mit denen er sie ernährt. Lasst uns ehrlich von den grünen Wiesen sprechen, auf denen Gott uns begleitet (das tun wir nur zu gerne), aber eben auch von den finsteren und tiefen Tälern des Lebens. Davon, dass Gott manchmal zulässt, dass sie tiefer sind, als wir es ertragen können. Aber auch von den Möglichkeiten, mit denen wir es erträglich machen können.
Ich wünsche mir eine Kirche, die nicht strikt Nein sagt, sondern auch ganz offen die Bereitschaft deutlich macht, dass Seelsorgerinnen und Seelsorger drüber sprechen können und einen nicht im Stich lassen, wenn jemand dann doch den Notausgang aus dem Tal nehmen will. #chrismon.evangelisch.de