Die 150-Prozentigen sind die Schlimmsten

14. August 2016 – 10:00 Uhr
Gottesdienste im Dietrich Bonhoeffer-Haus, Odendorf

Apostelgeschichte 9, 1-20
Eine Predigt über einen Mann, den Gott nicht mit Wattebäuschchen von seinem Wahnsinn abbrachte.

 

Liebe Gemeinde,

beim Predigttext wird es heute um die Bekehrung des Saulus zum Paulus gehen.

Man kann über diese Geschichte vom Paulus her nachdenken: Was ist da passiert, dass er sich bekehrt hat. Und man kann vergleichen, ob und wie wir uns bekehrt haben.

Ich möchte heute einen anderen Weg gehen und nach den Religionen fragen: Wie man sie aussucht, wann man sie wechselt, und schließlich, ob Paulus seine Religion überhaupt gewechselt hat und ob da nicht etwas ganz anderes passiert ist.

 

Die 150-Prozentigen sind oft die Schlimmsten

Übrigens in allen Religionen. Und auch bei den Atheisten. Daher zuerst die Frage: Was möchte Religion? Was möchten eigentlich alle Religionen?

Antwort:
Immer geht es der Religion darum, dass Menschen gut und friedlich miteinander leben können. Dass das Leben einen Sinn hat. Dass man in einer guten Gemeinschaft leben kann. Dass man von Liebe und nicht vom Hass geprägt ist. Dass man frei leben kann. Dass niemand im Stich gelassen wird.

Das Christentum und das Judentum sind solche Religionen. Sicher nicht die einzigen. Aber wir sind nun mal Christen, da können wir uns gerne auch darauf beschränken.

Müssen wir unsere Religionen mit anderen vergleichen? Das kann durchaus sinnvoll sein. Und dabei fallen mir hin und wieder Dinge auf, bei denen ich mich freue, Christ zu sein. An diesen Stellen empfinde ich es so, dass es mir im Christentum doch besser geht als in anderen Religionen. Und doch möchte ich vorsichtig sein und mir nicht zu viel drauf einbilden. Zu viel Schaden haben Menschen angerichtet, die ihre eigene Religion als die beste und höchste und schönste angesehen haben.

Manch einer tut so, als sei seine Religion die beste und größte und schönste. Eine ganze Zeit lang hat man sich da von einer fehlgeleiteten Vorstellung von Evolution leiten lassen. Man hat diesen Gedanken von Evolution auf die Religionen übertragen – und schwups galt das Christentum im Rahmen der weltweiten  Religionsgeschichte als die Krone der Religionen. Und auf die anderen wurde hinabgeblickt. Das Judentum – eine Gesetzesreligion. Davor – und zum Teil wurde auch das Judentum hinzu gezählt – gab es die primitiven Stammesreligionen. Und der Islam: Der ist zwar nach dem Christentum entstanden, aber die Höhe und Größe des Christentums habe er niemals erreicht. Die Nationalsozialisten versuchten, noch eins drauf zu setzen, das Christentum von allen niederen Bestandteilen zu reinigen und auf dieser evolutionären Entwicklung die allerhöchste Krone zu erobern.

Auf die anderen kann man dann herabblicken. Den anderen kann man dann den Wert absprechen. Sie sind doch selber schuld, wenn sie auf ihrer primitiven Stufe stehen bleiben wollen. Sie sind minderwertig. Und es schadet nichts, wenn man sie ausmerzt. Im Gegenteil. Von solchen Elementen gereinigt, kann die eigene Religion einen viel größeren und edleren Glanz entwickeln.

Aber warum sollte man eine Religion entwickeln, wo es doch so viel Auswahl gibt?

Manche der Religiösen probieren die Religionen gewissermaßen der Reihe nach durch, suchen nach der perfekten Religion, und lassen voller Verachtung hinter sich, was den hohen Ansprüchen nicht genügt. Und mache davon setzen noch eines drauf. Ihnen genügt es nicht, die beste Religion gefunden zu haben. Sie müssen auch die anderen, die mit den weniger guten Religionen aktiv bekämpfen. Wer sich dieser hohen Religion nicht anschließt, hat plötzlich sein Recht auf Leben verwirkt. Man muss ihn zwar nicht umbringen, aber wenn man es doch tut, ist es auch nicht schade um ihn. Auf jeden Fall kann er dann der eigenen Religion nicht mehr im Wege stehen. Selbst unser Reformator Martin Luther war leider nicht ganz frei von solchen Gedanken.

Und Paulus war es auch nicht. Die Religion soll Frieden bringen. Aber wehe, jemand hat eine andere Religion.

Hören wir auf Apostelgeschichte, Kapitel 9:

In Anlehnung an die Bibel in gerechter Sprache, Apg 9,1-20

1 Saulus schnaubte immer noch Drohung und Mord gegen die Schülerinnen und Schüler des Herrn. Er trat an den Hohenpriester heran 2 und erbat sich von ihm Briefe an die Synagogen in Damaskus: Wenn er dort welche finde, die sich an diese Richtung hielten, wolle er sie, Männer wie Frauen, gefesselt nach Jerusalem bringen. 3 Als er auf der Reise nahe an Damaskus herankam, umstrahlte ihn plötzlich Licht vom Himmel her. 4 Er stürzte zu Boden und hörte, wie eine Stimme zu ihm sagte: »Saul, Saul, was verfolgst du mich?« 5 Er sagte: »Wer bist du, Herr?« Der antwortete: »Ich bin Jesus, den du verfolgst. 6 Jetzt aber: Steh auf und geh in die Stadt! Dort wird dir gesagt werden, was du tun sollst.« 7 Die Männer, die mit ihm reisten, standen sprachlos da; sie hörten zwar die Stimme, sahen aber niemanden. 8 Saulus erhob sich vom Boden. Obwohl er die Augen offen hatte, konnte er nichts sehen. So führte man ihn an der Hand nach Damaskus hinein. 9 Drei Tage lang konnte er nicht sehen; und er aß nicht und trank nicht.

10 In Damaskus gab es einen Jünger namens Hananias. Zu ihm sagte der Herr in einer Vision: »Hananias!« Der sagte: »Da bin ich, Herr,« 11 Darauf der Herr zu ihm: »Auf, geh zur >Geraden Gasse< und suche im Haus des Judas einen Saulus aus Tarsus auf! Er wird dir auffallen, weil er betet. 12 Und er hat in einer Vision einen Mann namens Hananias gesehen, wie er hereinkam und ihm die Hände auflegte, damit er wieder sehe.« 13 Hananias antwortete: »Herr, ich habe von vielen über diesen Mann gehört, was alles er deinen Heiligen in Jerusalem Böses angetan hat. 14 Auch hier hat er Vollmacht von den Oberpriestern, alle festzunehmen, die deinen Namen anrufen.« 15 Der Herr sagte zu ihm: »Geh nur hin! Denn diesen habe ich mir als Werkzeug ausgewählt, um meinen Namen vor Völker zu tragen, vor Königinnen und Könige und vor das Volk Israel. 16 Ich will ihm nämlich zeigen, wie viel er für meinen Namen leiden muss.« 17Hananias ging weg, ging in das Haus, legte ihm die Hände auf und sagte: »Saul, lieber Bruder, der Herr hat mich geschickt, Jesus, der dir auf dem Weg, den du kamst, erschienen ist. Du sollst wieder sehen und von heiliger Geistkraft erfüllt werden.« 18 Sogleich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen und er konnte wieder sehen. Er stand .auf und ließ sich taufen, 19 nahm Speise zu sich und kam wieder zu Kräften.

Er hielt sich einige Tage bei den Jüngerinnen und Jüngern in Damaskus auf 20 und verkündete .sogleich in den Synagogen, dass Jesus der Sohn Gottes sei.

 

Wir alle kennen diese Geschichte als die Bekehrung des Saulus zum Paulus.
Hinweisen möchte ich dabei, dass Paulus auch danach immer noch „Saulus“ genannt wird, und dass Paulus auch danach immer noch Jude blieb und in den Synagogen gepredigt hat.

Paulus hat sich nicht vom Judentum abgewandt und zum Christentum bekehrt! Einer solchen Vorstellung müssen wir ausdrücklich widersprechen.

Ich glaube, dass das, was da geschehen ist, gar nichts einer speziellen Religion zu tun hat. Es kann sich so in fast jeder Religion so ereignen.

In allen Religionen gibt es Menschen, die glauben, sie müssten die Sache Gottes in die eigenen Hände nehmen. Ihnen ist zwar einerseits klar, dass nur Gott allmächtig ist.
Trotzdem kommen diese Anhänger Gottes auf die Idee, dass sie selber nicht nur Anteil an dieser Unfehlbarkeit haben, sondern dass sie selber unfehlbar sind und das Recht haben, an Gottes Stelle handeln zu dürfen.
Sie haben mit ihrer Auffassung recht und die anderen Unrecht. Und wer Unrecht hat, kann auch verfolgt werden.

Paulus kam nicht damit zurecht, dass die Jesusanhänger anders glaubten, als er es tat.
Dabei ist das Judentum durchaus eine Religion der Diskussion. Im babylonischen Talmud werden ganz unterschiedliche Auslegungen überliefert, damit die Nachfahren sich aus den unterschiedlichen Auslegungen eine eigene Meinung bilden können.
Paulus wollte nicht, dass sich die Nachfahren eine eigene Meinung bilden. Die Meinung dieser Christusanhänger sollten zum Schweigen gebracht werden.

Kommt Ihnen dabei auch die gegenwärtige Entwicklung in der Türkei in den Sinn? Redaktionen werden geschlossen, Redakteure werden entlassen oder verhaftet. Die Opposition soll aus dem gesellschaftlichen Leben gedrängt werden. Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich. Angst und Misstrauen machen sich breit.

Ich muss aber auch an Menschen denken, die sich selbst „bibeltreu“ nennen und denen, die die Bibel anders auslegen als sie, die Bibeltreue absprechen. Da wird zwar meist niemand physisch verfolgt, aber man findet in den Äußerungen mancher dieser „Bibeltreuen“ ein Maß an Verachtung, das einen nur traurig stimmen kann. Und geht man in manches andere Land in der Welt, in der nicht nur das Christentum, sondern auch der Staat homophob geprägt ist, dann kann mit dieser Form Bibeltreue durchaus auch die Todesstrafe für Homosexuelle begründet werden.

Unsere Geschichte spielt also nicht nur in der Vergangenheit, sondern ist oft auch noch Teil unserer Gegenwart. Und es sind nicht nur die anderen Religionen, sondern es betrifft auch unsere eigene Religion.

Paulus damals hat es besonders schlimm getrieben. Aber Gott hat mit ihm noch eine Menge vor. Es trifft ihn wie ein Blitz. „Saul, Saul, warum verfolgst Du mich?“

Es kling ein wenig vorwurfsvoll. Aber noch viel mehr klingt es traurig. Als wolle Jesus sagen: „Was habe ich dir eigentlich getan? Ich bin doch Jude wie du! Ich glaube an den Gott, der Himmel und Erde geschaffen hat. Ich glaube an den Gott, der jeden Menschen zu seinem Ebenbild erschaffen hat. Wir sind doch Ebenbilder! Gibt es wirklich einen Grund, so miteinander umzugehen? Saul, Saul, warum verfolgst du mich?“

Ist es diese Erfahrung, die wie ein Blitz bei Paulus einschlägt und ihn förmlich umhaut, so dass er nichts mehr sehen kann?

Oder ist es diese Frage, die ihn so infrage stellt, dass ihm die Augen für drei Tage versagen? Ich möchte nicht wissen, was einer der Psychiater oder Neurologen auf einer der Stationen dazu sagt, auf denen ich in Euskirchen Patienten seelsorglich betreue.

Aber es geht nicht darum, diese Erzählung psychologisch zu erklären. Es geht um die Beziehung zu Gott.

Paulus hatte sich gegen Gott gestellt. So wie damals Jona in Ninive. Wie Jona drei Tage im Bauch des Wals in Sicherheit gebracht wurde, so wurde Saulus in den Tagen seiner Blindheit für drei Tage gut betreut.

Und Gott sorgt für einen Neuanfang. Es fällt Hananias nicht leicht, zu Saulus zu gehen. Zu viel hatte Saulus den Jesus-Leuten angetan. Aber Hananias bleibt in der Liebe, die Jesus immer gepredigt hat. Die Liebe Gottes und die Liebe der Menschen spricht aus seinen Worten: „Jesus hat mich geschickt, und Du sollst von seinem Geist erfüllt sein!“

Jetzt weiß ich gar nicht, was Saulus mehr beeindruck hat: Die vorwurfsvoll-traurige Frage vor Damaskus – oder die Zusage von Gottes Geist durch Hananias.

„Es fällt ihm wie Schuppen von den Augen.“

Und wie selbstverständlich lässt er sich taufen, noch bevor er etwas isst, um wieder zu Kräften zu kommen. Und fast harmonisch klingt es, wie er sich bei den Jüngerinnen und Jüngern aufhält.
Und wie selbstverständlich geht er in die Synagoge und bekennt sich zu Jesus als dem Gottessohn.

Nein, Paulus hat nicht das Judentum verlassen. Paulus ist Jude geblieben.

Aber die Liebe hat ihn überwunden. Nicht seine Religion ist einer andere geworden, sondern er ist ein anderer geworden. Gottes Liebe, und die Liebe der Jünger haben ihn verändert.
„Warum verfolgst du mich?“
»Saul, lieber Bruder, der Herr hat mich geschickt, Jesus, der dir auf dem Weg, den du kamst, erschienen ist. Du sollst wieder sehen und von heiliger Geistkraft erfüllt werden.«

Was ist daran für uns wichtig?

Derzeit wird in der Türkei die Todesstrafe diskutiert und ich zweifle nicht daran, dass es Präsident Erdogan gelingen wird, sein Volk so zu manipulieren, dass sie tatsächlich eingeführt wird.

Wer die Todesstrafe einführt, rechnet nicht damit, dass aus Feinden Freunde werden. Wer die Todesstrafe einführt, spricht jemandem, der einen großen Fehler begangen hat, die Fähigkeit zu einem Neuanfang ab.

Paulus ist ein sehr gutes Beispiel für einen Neuanfang. Wer die Geschichte von der Bekehrung des Paulus ernst nimmt, kann nicht für die Todesstrafe sein. Die Bekehrung des Paulus setzt gegen die Todesstrafe die liebevolle Zuwendung, die aber ein unmissverständliches Stopp-Signal nicht ausschließt.
Viele Menschen lachen regelmäßig, wenn etwa Margot Käßmann im Angesicht von Terror und Gewalt davon sprechen, man müsse Terroristen mit Liebe begegnen.

Das Schlimme ist: Wie viele Christen lachen regelmäßig über den Vorschlag, selbst brutalen Gegnern mit Liebe zu begegnen!

An der Bekehrung des Paulus kann man sehen, dass Liebe und hartes Eingreifen keine Gegensätze sein müssen. Wenn man so will: Der liebe Gott hat bei der Bekehrung des Paulus nicht mit Wattebäuschchen geworfen. Paulus war wie vom Blitz gerührt, er war drei Tage lang schwerbehindert und konnte nichts essen und trinken.

Liebe schließt nicht aus, dass Menschen für eine begrenzte Zeit aus dem Verkehr gezogen werden. Bei Paulus waren es nur drei Tage, aber drei sehr intensive Tage im Dunkeln.

Wer Menschen in Liebe begegnet, muss sich nicht alles gefallen lassen.

Wer Menschen in Liebe begegnet, kann ihnen auch entgegen treten.
Aber nicht hasserfüllt, sondern voll Trauer und Liebe.

„Paulus, warum verfolgst du mich?“ Liebe und Trauer sind kein Grund, der Aggressivität eines Terroristen enge Grenzen zu setzen.

Wer Aggressivität mit Aggression begegnet, wird die Gewalt nur steigern.

Die Geschichte der Bekehrung des Paulus ist eines von vielen Beispielen dafür, dass Aggression durch Liebe überwunden werden kann.
Es blieben genug weitere Aggressoren. Im weiteren Fortgang wird Paulus fliehen müssen, weil er mit dem Tode bedroht wird.
Ich selber habe damals den Wehrdienst verweigert und Zivildienst absolviert. Das war sicher gut. Aber es muss auch eine effektive Polizei und auch ein effektives Militär geben. Man kann sich nicht alles gefallen lassen. Aggressoren müssen gestoppt werden können.

Aber ich glaube, dass nicht – oder jedenfalls nicht nur die Gewalterfahrung Paulus zu Besinnung gebracht hat. Die vielleicht auch: Der Blitz und die Blindheit. Aber mir scheint, dass viel mehr die traurig-vorwurfsvolle Frage bewirkt hat und die Zusage, dass Gott einen Plan mit Paulus hat.

Letzten Sonntag haben wir von Gottes Gnade gepredigt.

Im Grunde habe ich das heute auch. So wie Gott mit Paulus gnädig war und einen Plan für ihn hatte, so hat er auch mit uns einen Plan und ist gnädig mit uns. Auch wir sind nicht perfekt. Wir verfolgen zwar nicht andere Menschen, jedenfalls nicht so, wie Paulus es getan hat. Aber wenn uns etwas quer kommt, dann können auch wir hin und wieder ganz schön ekelig sein.

Und dann wäre es gut, wenn wir Jesu Stimme hören können: „Warum tust Du mir das an? Warum bist Du gerade so ekelig?“

Manchmal hören wir diese Stimme nicht. Das liegt auch daran, dass Gott nicht in jedem Fall mit Blindheit straft. War es eine Strafe, das Paulus für drei Tage krank war? Oder war es ein Liebesbeweis, der ihm half, zur Vernunft zu kommen?

Manch einer von uns muss tatsächlich ins Krankenhaus kommen, braucht eine erzwungene Auszeit, um mit seinem ganzen Leben vernünftig zu werden.

Manchmal ist es Gottes Strafe, dass wir eben nicht so radikal gebremst werden.

Dass es uns nicht wie Schuppen von den Augen fällt.
Dass wir in unserer Wut gefangen bleiben.

Aber die Zusage bleibt und gilt auch uns: Gott verheißt uns seinen Geist. Gott ist bei uns mit seinem Geist. Wir dürfen leben aus Gottes Geist. Halleluja! Amen!

Schuld zu Gnade: 3 zu 1000

1000 zu 3
So gewichtet Gott Gnade und Schuld.
Mit Gedanken zu Abgrenzung und Öffnung der Völker

Gottesdienst am 26.10.2014
Evangelische Kirchengemeinde Swisttal
Predigteihe VI

19. Sonntag nach Trinitatis
2. Mose 34,4-10

Wochenspruch für den 19. Sonntag nach Trinitatis:

Heile du mich, HERR, so werde ich heil;
hilf du mir, so ist mir geholfen.
Jeremia 17,14

Begrüßung

Herzlich willkommen zu diesem Gottesdienst. Ich bin Pastor Kehren und freue mich, dass ich wieder zu Ihnen in den Gottesdienst eingeladen wurde.
Im Evangelium heute werden wir von der Heilung des Gelähmten hören – und von der Sündenvergebung. Heil und Heilung, Sündervergebung und Gesundung. Und das eingebettet in eine Mosegeschichte, die es in sich hat. – Dazu gleich mehr.

Zum ersten Lied aber möchte ich jetzt einen Hinweis geben. Das Lied ist jetzt 40 Jahre alt und wurde einem alten hebräischen Lied nach Hoheslied 2,8 nachempfunden. Kommt herbei, singt dem Herrn, er ist der, der uns befreit.
Der ursprüngliche Text aus dem Hohenlied ist ein Liebeslied. „Horch, die Stimme meines Geliebten, er hüpft über die Berge, er springt über die Hügel“.
Und man wundert sich, dass sich solche hocherotischen Liebeslieder in der Bibel finden.
Aber genau darum geht es: Nachzuspüren, was für ein Freund Gott ist, wie er immer wieder zu uns kommt – auch wenn wir es nicht mehr verdient hätten.
Darum machen wir uns auf und kommen zu ihm …

EG RWL 577,1-6 Kommt herbei, singt dem Herrn

Liturgische Begrüßung

Psalm EG 716 RWL 716 Psalm 32

Gemeinde: Ehr sei dem Vater und dem Sohn

Sündenbekenntnis

Guter Gott, wie ein Geliebter kümmerst Du Dich um uns.
Kein Berg ist Dir zu hoch, kein Hügel zu weit, als dass Du nicht den Weg zu uns findest.
Und wir?
Wir zeigen Dir so oft die kalte Schulter.
Wir tanzen um unsere goldenen Kälber, denken vor allem an uns selbst und so wenig an Dich oder unsere Nächsten.
Wir vertrauen dem Fortschritt, oder vertrauen darauf, dass es doch schon immer gut gegangen ist.
Guter Gott, wir brauchen Dein Erbarmen.

Kyrie-Gesang

Zuspruch

Gott hat uns erwählt, wir gehören nun zu seinem Volk, damit wir seine Barmherzigkeit erlangen.

EG RWL 580 Gloria

Kollektengebet

Guter Gott, du willst heilen, was zerbrochen ist,
du willst zusammenbringen, was zertrennt,
du willst aufrichten, was zerstört ist.
Sei du jetzt mitten unter uns mit deiner heilenden Kraft.
Gib uns Geduld und Ausdauer zu warten –
und mitzuarbeiten, wo du am Werk bist.
Berühre uns mit deiner Gegenwart durch Jesus Christus.
(nach ev Gottesdienstbuch)

Lesung
Mk 2,1-12 (nach: Bibel in gerechter Sprache)

1 Als Jesus Tage später wieder nach Kafarnaum kam, sprach sich herum, dass er im Haus sei.
2 Es versammelten sich so viele, dass auch vor der Tür nicht genug Platz war. Er verkündigte ihnen das Wort Gottes.
3 Da schleppten vier Leute eine gelähmte Person herbei, die sie zu ihm tragen wollten.
4 Doch sie kamen nicht an ihn heran, weil so viele andere da waren. Da deckten sie das Dach des Hauses ab, in dem er sich aufhielt. Sie rissen das Dach auf uns ließen die Schlafmatte herab, auf der die gelähmte Person lag.
5 Als Jesu ihr Vertrauen sah, sagte er zu dem kranken Menschen: „Kind, Gott hat dir dein ungerechtes Tun vergeben.“
6 Einige toragelehrte Frauen und Männer saßen dabei und dachten in ihrem Herzen:
7 „Wie kann der so reden? Er lästert Gott! Nur eine Macht kann unrechtes Tun vergeben, Gott allein.“
8 Sogleich merkte Jesus, in welche Richtung ihre Gedanken gingen, und sagte zu ihnen: „Wie könnt ihr so etwas bei euch denken?
9 Was ist leichter – zu einer gelähmten Person zu sagen: ‚Gott hat dir dein unrechtes Tun vergeben‘, oder ‚Steht auf, nimm deine Schlafmatte und geh?’
10 Damit ihr erfahrt, dass Menschen die Vollmacht haben, auf der Erde unrechtes Tun zu vergeben“ – so sprach Jesus zur gelähmten Person -,
11 sagte ich Dir: Steht auf, nimm diene Schlafmatte und geh nach Hause.“
12 Sie stand auf, nahm sogleich die Schlafmatte und ging vor aller Augen davon. Da gerieten alle außer sich, lobten Gott, und riefen: „So etwas haben wir noch nie gesehen!“

Halleluja

Halleluja.
HERR, deine Güte ist ewig. *
Das Werk deiner Hände wollest du nicht lassen.
Psalm 138,8b

EG RWL 579 Halleluja.

Glaubensbekenntnis

Lied EG 320,1+2+6-8 Nun lasst uns Gott

Predigt

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus!

Liebe Gemeinde,

der Predigttext heute finde sich im 2. Buch Mose 34,4-10. Gott will Mose zwei neue Steintafeln mit den Geboten geben und nach dem Tanz ums Goldene Kalb den Bund mit seinem Volk neu schließen. Ein halsstarriges Volk, so heißt es, und trotzdem will Gott immer wieder vergeben.

Ein wunderbarer Text – und trotzdem habe ich heute Probleme. Damit die Situation etwas klarer wird, setze ich drei Verse vorher ein. Und meine Probleme werden Sie sofort erkennen, wenn ich noch einige Verse weiter lese. Ich lese nach der Bibel in gerechter Sprache.

Ex 34,4-10 (nach: Bibel in gerechter Sprache)

[1 Der Herr sprach zu Mose: „Haue dir zwei neue Steintafeln zurecht genau wie die vorigen. Ich schreibe darauf die Worte, die auf den ersten Tafeln gestanden haben, welche du zerbrochen hast.
2 Sei bereit, morgen früh auf den Berg Sinai zu steigen und mir auf dem Gipfel gegenüber zutreten.
3 Niemand darf dich begleiten, auf dem ganzen Berg soll sich kein Mensch blicken lassen, und weder Schaf noch Rind dürfen auf ihn zu weiden.“]
4 Mose richtet die beiden Steintafeln wie die vorigen her und machte sich frühmorgens auf den Weg. Wie der Ewige es ihm aufgetragen hatte, stieg er auf den Berg Sinai; die beiden Steintafeln trug er bei sich.
5 Da kam der Ewige in einer Wolke herunter, stellte sich zu Mose und rief seinen Namen aus: [Der] „ICH-BIN-DA“.
6. Dann ging der Ewige an Mose vorbei und rief erneut: „ICH-BIN-DA. ICH, der EWIGE.
7 Ich sorge für 1000 Generationen und bin bereit, Schuld, Verirrung und Verfehlung zu vergeben. Doch ich lasse nicht alles durchgehen, ich ahnde auch Schuld der Eltern an Kindern, Enkeln und Urenkeln.“
8 Mose warf sich schnell zur Erde und nahm die Gebetshaltung ein .
9 Er sagte: „Mein Herr, wenn du mir wohl willst, dann gehe doch mit uns, Herr, es ist ein starrköpfiges Volk, doch du kannst uns unsere Schuld und Verfehlungen vergeben. Nimm uns doch als dein Eigentum an.“
10 Gott erwiderte; „Gut, ich will einen Bund mit euch schließen. Vor dem ganzen Volk werde ich Erstaunliches tun, wie es auf der ganzen Erde und unter allen Nationen noch nie geschehen ist. Alle Menschen der Gemeinde, in der du lebst, sollen meine Taten miterleben; gewaltig ist, was ich für euch tun werde.
[11 Beachte sorgfältig, was ich dir heute auftrage. Ich werde die anderen Völker vor euch vertreiben, die amoritischen, kanaanäischen, hetitischen, perisitischen, hiwitischen und jebusitischen Stämme.
12 schließt nur ja keine Verträge mit diesen Menschen, die du dort antriffst. Das würde euch ins Verderben stürzen.
13 Ihr sollt vielmehr ihre Altäre zerstören, ihre Mazzeben zerschlagen, ihre heiligen Bäume fällen.
14 Denn ihr dürft einfach keine andere Gottheit verehren. Ich bin der ICH-BIN-DA, voll Leidenschaft, eine verzehrende Liebe ist in mir.
15 Ihr dürft keinen Bund mit Landesbevölkerung eingehen. Sonst passiert Folgendes: Sie laufen hinter ihren Gottheiten her, opfern ihnen und laden euch eventuell zu ihren Mahlzeiten ein.
16 Oder ihr sucht euch unter ihnen Frauen für eure Söhne, und dann laufen die Schwiegertöchter hinter deren Gottheiten her und verführen eure söhne zu fremdem Gottesdienst.“
17 Du darfst Dir keine Gottesstatuen gießen. …
[Es folgen eine Reihe von Einzelgeboten über die Erstgeborenen und Opfer. Und dann heißt es noch: ]
26 … das Böckchen dürft ihr nicht in der Milch seiner Mutter zubereiten.“

Liebe Gemeinde, ich habe heute etwas mehr vorgelesen.

Den letzten Vers deswegen, weil er die Ursache für die strenge Trennung bei den jüdischen Mahlzeiten ist:

Das Böckchen dürft ihr nicht in der Milch seiner Mutter zubereiten: Das ist der Vers, warum im Judentum Milch und Fleisch streng getrennt zubereitet und gegessen werden. Dieser Vers aus 2. Mose 34 (und 2 Mose 23) ist der Grund, warum, es in einem jüdischen Haushalt zwei Spülmaschinen, zwei Kühlschränke, zweierlei Geschirr und zweierlei Besteck gibt und warum niemals Milch und Fleisch oder Wurst gemeinsam serviert werden.
Das wollte ich Ihnen an dieser Stelle einfach nicht vorenthalten.

Die Probleme machen mir die Verse vorher. In Zeiten, in denen Krieg mit einer Organisation IS „Islamischer Staat“ geführt wird, treffe ich immer wieder auf Christen, die sagen: ‘Im Gegensatz zum Christentum und Judentum ist der Islam auf Konflikt und Krawall angelegt. Wir haben so etwas nicht.’

Wenn ich Ihnen heute nur den Predigttext vorgelesen hätte, hätten wir wieder einmal nicht gemerkt, dass die Bibel auch nicht ohne ist.
„Ich werde die anderen Völker vor Euch vertreiben“ – und dann werden diese Völker aufgezählt.

Schließt keine Verträge mit denen, das gibt nur Ärger.
Zerstört ihre Heiligtümer – wem fallen da nicht die Freveltaten der Isis ein und der Taliban, die Jahrtausende alte Kulturgüter zerstörten und sprengten und sich völlig intolerant denen gegenüber verhalten haben, die etwas anders oder weniger streng glaubten als sie selber.
Sucht Euch keine Schwiegertöchter oder Schwiegersöhne bei denen, denn sonst werden Eure Kinder vom wahren Glauben abfallen.
Und wir – wir können uns an die Erzählungen unserer Eltern erinnern oder haben vielleicht sogar noch eigene Erinnerungen daran, wie das war, als der Partner, in den man sich verliebt hat, leider die verkehrte Konfession hatte und zu welchen Problemen dies geführt hatte.
Wie gehen wir damit um?

Wir lesen in der Bibel von einem strengen und doch vergebenden Gott. Es ist uns wichtig, dass die Bibel die Richtschnur für unser Leben ist. Wir glauben daran, dass Gott sie uns gegeben hat. Ich halte es für wichtig, dass wir sie uns nicht einfach zurecht biegen, wie es uns am besten passt.

Wie oft höre ich genau diesen Vorwurf.
Die konservativen Kardinäle haben es den liberalen Kardinälen auf der letzten Bischofssynode in Rom vorgeworfen, als es schien, dass die römisch-katholische Gottes Gnade endlich etwas offener verkünden könnte.
Die konservativeren Protestanten werfen es immer wieder und wieder der EKD und den Pfarrerinnen und Pfarrer unserer Landeskirche vor: Wir würden mit unserer historisch-kritischen Theologie die Bibel nicht mehr ernst nehmen und unsere eigenen Regeln finden.

Vielleicht ist an diesem Vorwurf sogar etwas dran. Ich gestehe nämlich, dass für mich Völkerverständigung ein eminent wichtiger Bestandteil meines Glaubens ist.
Wenn es gleich am Anfang der Bibel heißt, dass Gott den Menschen geschaffen habe als sein Ebenbild, dann ist damit jeder Mensch gemeint – und nicht nur Juden oder Christen: Jeder Mensch ist Gottes Ebenbild. Auch die, die anders glauben als ich, auch deren Nase mir nicht passt. Auch die, die eine andere Sprache sprechen und in einer anderen Kultur leben.

Und dann diese Verse hier, die so sehr auf Abgrenzung setzen.
Wie können wir damit umgehen?

Es ist der Versuch, den eigenen Glauben sauber zu halten. Es ist der Versuch, Gott treu zu bleiben – dem Gott, dem wir doch so viel zu verdanken haben.

Wenn wir genau hinschauen, dann finden wir in der ganzen Bibel genau diese Auseinandersetzung zwischen der Abgrenzung von anderen, damit der eigene Glaube bewahrt bleibt, und der Integration und der Vermittlung, weil Gott ein Gott aller Menschen ist.

Wir merken es selbst in der Abgrenzung des Bibeltextes.
Vollmundig heißt es, „ich werde die Menschen dort vertreiben.“ Wenn diese Menschen alle vertrieben sind – mit wem soll man denn noch Verträge schließen können? Wie soll man dort Schwiegersöhne und Schwiegertöchter finden? Wie soll man dort Götzenopfer finden – wenn sie doch alle vertrieben wurden?
Wie nehmen wir den Bibeltext wahr, wenn wir ihn ganz wörtlich nehmen?

Mein Jüngster ärgert sich gerade, dass sich die ganze Klasse zu Halloween verabredet – und seine Gemeinde hat ausgerechnet den Reformationsgottesdienst als verpflichtenden Gottesdienst für die Konfis angesetzt.
Wie ernst nimmt man es, dass alle Kinder feiern – aber leider nicht das Reformationsfest?
Mir ist schon klar, dass sowohl Halloween als auch Reformationsfest etwas mit Allerheiligen zu tun haben!
Der 31. Oktober ist nun mal der Vorabend vor Allerheiligen, der für die katholische Sündenvergebungslehre, für Ablass und Volksglauben eminent wichtig ist. Luther hat sich etwas dabei gedacht, wenn er seine Thesen ausgerechnet am Vorabend an die Schlosstür von Wittenberg geschlagen hat.
Und Halloween hat auf volkstümliche Weise eine ganz eigene Vorstellung von den verstorbenen Heiligen und ihren Geistern geformt, der sich unsere Kinder jetzt auch nicht mehr ganz entziehen können.
Wie verhält man sich da, wenn der Jüngste fragt, ob er diesen Gottesdienst nicht blaumachen kann, der doch nun extra auch für die Konfis gestaltet werden soll?
Ausgerechnet dir fromme Oma ergreift auch noch Partei für ihn!
Wie gehen wir um mit Abgrenzung und Integration, wenn es um unseren Glauben geht?

Wir können den Bibeltext so lesen, dass wir versuchen, ihn radikal umzusetzen: Das wird uns nicht gelingen.

Wir können die Problemanzeige darin lesen: Wie schwer es schon immer war und ist, eine reine Glaubensposition durch die Generationen durchzuhalten. Die Liebe fällt, wo sie will, man trifft auf Menschen, die anders sind, und man ist immer in der Notwendigkeit, eine eigene Position zu finden.

Und es geht ja nicht um irgendwelche Kleinigkeiten, sondern es geht um den einen Gott!

Deutlich wird jedenfalls an den zusätzlich gelesenen Versen, dass es den reinen Glauben in einem auf absolute Abgrenzung bedachten Gottesvolk niemals gegeben hat. Andere Bibeltexte wie etwa der Stammbaum Jesu zeigen, dass selbst in der Herkunft des Gottessohnes viele von denen auftauchen, die es anderen Versen zufolge dort niemals geben dürfte.

Andere Bibeltexte zeigen, wie wichtig es ist, zu den eigenen Kindern zu halten – und dass die im Zweifel wichtiger als alle göttlichen Gebote erscheinen mögen – und dann gibt es wieder die Feststellung, dass selbst Jesus sich erheblich von seiner eigenen Familie distanzieren kann.

Ich kann nicht anders: Die Bibel hat mich gepackt und ich komme von ihr nicht los.

Aber die Beobachtung heute macht mich vorsichtig bei Vorwürfen gegenüber den Glaubensurkunden anderer Religion, wie z. B. gegenüber dem Koran.

Denn auch in der eigenen Bibel finde ich Stellen, die mich verstören, die Gewalt provozieren und feindliche Abgrenzung, Unfrieden und Intoleranz. Wenn ich auf andere mit dem Finger zeige, zeigen drei Finger auf mich zurück.

Es ist nicht so einfach mit unserer Bibel. Und an vielen Stellen bleibt sie eine Zumutung.

Das gilt auch für den eigentlichen Predigttext. Auch er mutet uns eine Menge zu.

Da ist zunächst der Hauptakteur: Mose.
Nach den jüdischen Geboten dürfte es ihn gar nicht geben, denn Amram, der Vater von Mose, hatte Jochebed, die Schwester seines Vaters, zur Frau genommen. Mose, ein Pflegekind in der ägyptischen Oberschicht wird zum Terroristen und erschlägt einen Ägypter. Man fragt sich ja heute, warum so mancher verzogener gutsituierter Mensch zum Terroristen wird. So ungewöhnlich ist das gar nicht. Mose lernt beim heidnischen Schwiegervater das Priesterhandwerk, und ausgerechnet ihm offenbart sich Gott, ausgerechnet ihn sucht sich Gott aus, um sich ihm als Gott zu offenbaren und nur er darf nun die neu gemeißelten Gebotstafeln in Empfang nehmen.
Er und nur er. Und wenn er vor Gott auf die Knie und auf den Boden fällt, ist es genau die Gebetshaltung, die wir von den Bildern aus den Moscheen kennen.

Und dann Gott. Ich bin, der ich bin. Ich bin der „ich bin da“. Er lässt sich greifen. Er lässt sich nicht in ein Schema packen. Er ist Gott. Kein Götze. Allein schon die Frage, ob es berechtig ist, „er“ zu Gott zu sagen, kann viele Menschen aufregen. Gott ist nicht Mann, Gott ist nicht Frau. Manchmal zornig, das lässt Gott sich nicht nehmen. Aber dann legt er sich doch fest.

„ICH-BIN-DA. ICH, der EWIGE.
Ich sorge für 1000 Generationen und bin bereit, schuld, Verirrung und Verfehlung zu vergeben. Doch ich lasse nicht alles durchgehen, ich ahnde auch Schuld der Eltern an Kindern, Enkeln und Urenkeln.“

1000 Generationen gegen drei Generationen.

1000 Generationen Vergebung. 3 Generationen Schuld.

1000 : 3 – das ist die Verhältnisbestimmung von Gnade und Schuld. Gott ist, der er ist. Gott will sich nicht greifen lassen. Aber er will als gnädiger Gott wahrgenommen werden. Das darf man nie vergessen, wenn an anderen Stellen von Abgrenzung und Gewalt die Rede ist. Die Geschichte mit Abraham und Lot zeigt, wie sehr Gott darin auch mit sich handeln lässt.

Und jene 3 Generationen? Mein Professor für altes Testament, ein exzellenter Kenner des Judentums, erklärte es anhand der alten jüdischen Tora-Auslegungen so: Wenn du in deinem Leben Fehler machst, werden die sich auswirken. Und wenn du genügend lange lebst, wirst du an deinen Urenkeln sehen können, welche Folgen sie haben. Pass genau auf, was du tust. Du hast eine Verantwortung für deine Kinder und Enkel und Urenkel. Alles, was du tust, hast Folgen. Nicht nur für Dich, sondern auch für andere Menschen. Denke daran.

Ich habe gerade den Artikel im Stern angelesen, in dem Hape Kerkeling vom Suizid seiner Mutter erzählt. Er war damals 8 Jahre lang.

Wir diskutieren gerade einen neuen Gesetzentwurf, wer Menschen möglicherweise bei einem Suizid beistehen darf. Ich bin selber für eine relativ liberale Regelung. Die Geschichte von Hape Kerkeling aber zeigt, dass auch dieses Handeln Folgen hat. Auch wenn man sie nicht mehr direkt an seinen Urenkeln miterleben kann, weil man sich dem entzogen hat. Gestern im Stadtanzeiger fragte ein Arzt nach genau diesen Folgen. Von jedem Suizid sind mindestens 10 Menschen betroffen. Haben das alle Menschen bedacht, die, – wie man so schön sagt – „in die Schweiz gehen“ wollen?

Drei Generationen – man könnte sagen: Dann ist auch genug! Die Erfahrung eines Pflegevaters zeigt: Manchmal sind es in der Realität viel mehr Generationen!

Ein letzter Gedanke:

Viel zu oft hat man im Christentum gedacht, das Neue Testament habe das Alte Testament abgelöst. Die Guten, das sind die Christen, die Bösen, das sind die Juden.

Ich möchte sagen: Wir sind keinen Deut besser, wir waren auch nie besser.

Die ersten Jünger waren allesamt raue Kerle mit Ecken und Macken, die immer wieder zeigten, wie wenig sie von dem verstanden haben, was Gott ihnen gepredigt hat. Wenn ich mir die gegenwärtigen Diskussionen in der ev. Kirche anschaue, auf die besonders im Rheinland große Probleme zukommen oder die Bischofssynode in Rom, dann wird auch da das ganze Spektrum deutlich.

Wenn wir mit ernst Christen sein wollen, dann können wir gar nicht anders, als es Mose nachzusprechen:

„Mein Herr, wenn du mir wohl willst, dann gehe doch mit uns, Herr, es ist ein starrköpfiges Volk, doch du kannst uns unsere Schuld und Verfehlungen vergeben. Nimm uns doch als dein Eigentum an.“

Auch wir gehören dazu. Zu den Halsstarrigen gegenüber Gott. Zu denen mit Schuld. Zu denen mit Verfehlungen.

Sind wir es Wert? Weißt Du Gott, worauf Du dich einlässt, wenn Du Dich mit uns einlässt? Du wirst nichts als Ärger haben mit uns. Naja, manchmal wirst Du auch lächeln können, und vieles wird dir gefallen. Aber willst du wirklich unser Gott sein?

Gott wollte der Gott dieses halsstarrigen Volkes sein. Es ist bis heute halsstarrig – und es ist sein Volk geblieben. Die Juden wurden über alle Kontinente verteilt, aber sie sind Gottes Volk geblieben.

Und wir? Sind wir weniger halsstarrig? Gott hat uns hinzugenommen. In seinen Bund.

Er will auch unser Gott sein.

Er will uns vergeben. Er will uns trotzdem mit Haut und Haaren. Trotz der Dinge, die wir anstellen.

Und immer wieder erinnert er uns: Denkt an die Folgen. Nichts, was ihr tut bleibt ohne Folgen. Andere werden es mit ausbaden müssen.
Aber ich will Euer Gott sein und bleiben. Einer der lieber vergibt, als zu strafen. Einer, der am liebsten überhaupt nicht straft. Einer, der auch dann bei euch bleibt, wenn ihr die Folgen Eures Handelns ertragen müsst. Und wenn ihr ertragen müsst, dass auch andere euer Handeln ausbaden müssen.

1000 zu 3: Das ist meine Verhältnisbestimmung von Gnade.

Soweit der Abend vom Morgen lasse ich Eure Übertretungen von Euch sein.

Wenn Ihr euch auf mich einlassen könnt und wollt:
Ich lasse mich auf euch ein. Das ist unser Gott.
(Phil 4,7)

7 Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

EG RWL 677,1-4 Die Erde ist des Herrn

Fürbitten

Guter Gott,
du willst unser Gott sein und wir wollen zu dir gehören.
Du bist ein Gott, der bei uns ist ein Leben lang – und der uns im Tod nicht loslässt. Wir denken an HP und EM. Bei Dir wissen wir sie geborgen. Und trotzdem tut ihr Tod uns weh und besonders den Menschen, für die sie da waren. Gib ihnen Trost und hilf uns, bei den Trauernden zu sein. Hilf den Trauernden, auf uns zuzukommen. Du bist unser Gott. Hilf uns, das Richtige zu tun.

Guter Gott, wenn wir in der Bibel lesen, erschrecken wir, wenn wir von Flucht und Vertreibung lesen, von Hass und Gewalt, von Grenzen zwischen den Menschen und Völkern, von Grenzen zwischen Nachbarn.

Guter Gott, diesen Hass und diese Gewalt gibt es nun schon so lange. Warum ist damit nicht endlich Schluss? Warum fühlen sich religiöse Menschen so oft als etwas so Besonderes, dass sie auf andere Menschen herabschauen und sie bedrängen und unterjochen und vertreiben?

Guter Gott, wir möchten zu Dir gehören. Wir möchten Deine Bibel lesen und sie Richtschnur für unser Leben sein lassen. Hilf uns, dass wir uns und unseren Glauben nicht missbrauchen lassen für Hass und Gewalt, für Grenzen zwischen Menschen, die allesamt Deine Ebenbilder sind.

Hilf uns, das Nötige zu tun. Hilf uns, großzügig zu sein, wenn wir für Bibeln in Ruanda spenden. Es geht um viel mehr als nur um Bibeln. Noch gilt Ruanda als frei von Ebola. Wie lange noch? Auch dort haben die Menschen Angst. Auch sie brauchen unsere Unterstützung zu einem Glauben, der Menschen vereint und sie nicht trennt.

Guter Gott, hilf uns zu glauben, dass wir uns in unserem Glauben nicht einigeln müssen. Hilf uns zu glauben, dass wir eine Botschaft haben, die Menschen auch ohne Gewalt und Druck überzeugt. Hilf uns an die frohe Botschaft zu glauben, dass das Lachen eines Babys mehr überzeugt und größere Kraft hat als Bomben und Waffen. Und hilf uns, wenn trotzdem Waffen benötigt werden, um Menschen zu schützen, dass sie in die richtigen Hände gelangen und nicht mehr Unheil anrichten als nötig ist, um andere Menschen gegen Hass und Gewalt zu verteidigen.

Guter Gott, wir können nicht leben, ohne schuldig zu werden. Guter Gott, es tut oft so weh, an Kindern, Enkeln oder Urenkeln zu sehen, welche Folgen unser Handeln oder unser Unterlassen hat. Im Kleinen und im Großen. In der Familie und auch weltweit.

Steh denen bei, die wegen uns leiden müssen. Die für uns schuften für selten Erden oder die unsere Jeans nähen. Die für unsere Nahrung von ihrem Land vertrieben wurden – und wir wissen oft gar nicht davon.

Steh uns bei, wenn wir erkennen, wo unsere Schuld liegt. Wie sehr wir in Schuld verknüpft waren und in Schuld verknüpft sind. Weil Du trotzdem unser Gott sein möchtest, beten wir Dein Gebet:

Vaterunser

EG RWL 607 Herr, wir bitten: Komm und segne uns

Segen

Gehet hin im Frieden des Herrn.

Der Segen und die Güte Gottes
führe uns von der Ungerechtigkeit
zur Gerechtigkeit.

Der Segen und die Güte Gottes
führe uns vom Krieg
zum Frieden.

Der Segen und die Güte Gottes
führe uns
von den Ersten
zu den Letzten.
(Gottesdienst in gerechter Sprache, 2003, S. 129)

24 Der HERR segne euch und beschütze euch!
25 Der HERR blicke euch freundlich an und schenke euch seine Liebe!
26 Der HERR wende euch sein Angesicht zu und gebe euch Glück und Frieden!

Ulrich Bach

Ulrich Bach verstarb am Sonntag, dem 8. März 2009 in Bergisch-Gladbach.

Ich erinnere mich noch genau, wie ich ihn zum ersten Mal sah. Er trug seine Volmarsteiner Rasiertexte in der Bochumer Westfalenhalle beim CVJM-Ostertreffen vor. Vormittags, und dann nachmittags noch einmal einen Text, nachdem der Hauptredner, nach langer schwerer Krankheit endlich wieder genesen, seine Zeit hemmungslos überzogen hatte.

Ulrich Bach rollte nach vorne und kündigte an, angesichts der fortgeschrittenen Zeit nur noch einen seiner Texte vorzutragen.

Ich war damals ca. 16 Jahre alt und fand es beeindruckend, wie dieser Mensch ohne jegliche Begleitung halb gesungen, halb gesprochen das “Lied vom Asozialen” vortrug. “

Später dann, ich hatte gerade mit dem Theologiestudium für das Lehramt begonnen, erhielt Ulrich Bach die Ehrendoktorwürde in Bochum verliehen. Immer im Sommersemester las er zu den verschiedenen Themen rund um “den behinderten Menschen als Thema der Theologie” und vermittelte lutherische Theologie.

Wir begegneten uns immer wieder, mal lud ich ihn nach Essen zum Jugendmeeting des CVJM Essen-West ein, dann war er Referent bei der Auswertungstagung zum Diakoniepraktikum,,,

Warum ausgerechnet im Lokalteil der Essener WAZ auf seinen Abschied hingewiesen wurde, wird für mich ein dauerhaftes Wunder bleiben. Nach einer ermutigenden Pfingstpredigt (sie ist in “Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz” abgedruckt) wurde er völlig zu Recht von zahlreichen Rednern gelobt und konnte mit dem gebührenden Dank in den Ruhestand verabschiedet werden.

Ich kenne kaum einen Menschen, der so sorgfältig auf die Befindlichkeiten einzelner Gruppenteilnehmer achten und darauf eingehen kann. Um so erstaunlicher war sein Geständnis, er habe einmal beim Thema Gewalt eine der Gruppenteilnehmerinnen nicht ernst genug genommen. “Über Gewalt kann ich auch etwas erzählen!” – “Du bist hier in Volmarstein so behütet, was willst Du hier über Gewalt erzählen?”

So behielt sie ihre Erfahrung für lange Jahre für sich, bis sie dann  doch einmal von ihrer Puppe erzählte. Sie hätte diese selbstgebastelte Puppe gar nicht haben dürfen. Die Diakonissen nahmen den Kindern die Geschenke ab und leiteten sie an Kinder in den Missionsgebieten weiter, denen es noch viel schlimmer ging. Aber in diese Puppe hatte sie sich verliebt, und so versteckte sie sie unter der Bettdecke.

Eines Nachts rutschte die Bettdecke hoch, die Puppe geriet in den Taschenlampenkegel der Nachtschwester. Das Mädchen wurde wach gemacht, die Puppe wurde zerrissen, weil es sich nicht an die Spielregeln gehalten hatte. Die Diakonissen hatten es nur gut gemeint, aber es war Gewalt, zweifellos. “Das Gute will ich, das Böse vollbringe ich”, Ulrich Bach hätte den Apostel Paulus sicherlich sorgfältiger zitiert, als ich es hier tue, aber deutlich wird mir zumindest, dass Kirche nie perfekt war, niemals perfekt sein kann, und dass somit immer wieder Menschen schrecklich unter ihr und ihrem “Bodenpersonal” leiden müssen.

Doch, gerade auch die Kirche ist nicht perfekt. Wenn wieder einmal aus Rom eines der Signale kommt, dass die Evangelische Kirche gar keine Kirche sei, sondern “allenfalls eine kirchliche Gemeinschaft”, dann habe ich bei Ulrich Bach gelernt, dass dies in Wirklichkeit eine Auszeichnung ist.

Theologisch will die römisch-katholische Kirche als Kirche Jesu Christi perfekt sein. Das wirkt sich in fast alle ökumenischen Streitpunkte aus: Ekklesiologie, Ämterfrage, Sakramente. Im Jahr 2000 hat sich der Papst für die Verfehlungen von kath. Christen entschuldigt, niemals aber für Fehler der Kirche. Denn der kath. Ideologie entsprechend kann es solche Fehler in der Heiligen Kirche niemals geben. Wie unmenschlich wird die Kirche da oftmals gegenüber Menschen, die eigentlich Hilfe und nicht Maßregelungen brauchen?

Wer sich als Teil eines Patientenkollektivs versteht, in dem Starke und Schwache sich gegenseitig stützen und aufrichten und von Gott getragen werden, der kann sich nicht mehr daran stoßen, wenn jemand daran festhält: Die reale Kirche ist nicht fehlerlos, sie ist nicht perfekt und wird es niemals sein.

Gott bleibt gerade auch den Menschen in ihren Niederlagen und Schwächen solidarisch zugewandt: Dieser Glaube hat mich durch so manches tiefe Tal in meinem Leben getragen; und ich hoffe, dass er auch weiter trägt, wenn in meiner eigenen Kirche fast nur noch Einser- und Zweierkandidaten ohne Erfahrungen des Scheiterns in den Pfarrdienst gelassen werden.

Kirche ist nur zusammen mit Schwachen und Scheiternden ganz. Ich hoffe, dass diese Erkenntnis von Ulrich Bach so nachhaltig bei seinen Zuhörerinnen und Zuhörerinnen eingepflanzt wurde, dass sie eine dauerhafte Mahnung und Ermutigung bleiben wird.

Kirche ist nicht die Gemeinschaft der Perfekten, sondern die Gemeinschaft der von Gott geheiligten Sünder.

Ist es ein Widerspruch, wenn ich mir meinen theologischen Lehrer Ulrich Bach nun ohne Rollstuhl, ohne die Schwierigkeiten des Post-Polio-Syndroms verstelle, einfach nur geborgen und aufgerichtet in Gottes Gnade?

Jesu Botschaft begann mit der Predigt, dass Gott den Menschen ganz nahe sein will. Ulrich Bach ist nun ganz von Gottes Nähe umgeben und darin geborgen.

In diesem Trost fühle ich mich mit allen verbunden, die um Ulrich Bach trauern. Insbesondere seiner Familie, seiner Frau und seinen Kindern und Enkeln wünsche ich alles Gute

Bernd Kehren

Zwei Anmerkungen 2016: Beim Lesen dieses Artikels wird mir deutlich, wie sehr Papst Franziskus bereits seine Kirche verändert hat. Vor sieben Jahren hätte ich mir nicht vorstellen können, dass ein Papst sich derart von einem solchen Perfektionismus entfernen und sich auf diese Weise auch angreifbar machen kann.
Nach einem Besuch in Wittenberg und auf der Wartburg ist mir noch einmal an mehreren Bildern deutlich geworden, wie sehr und wie unerträglich Luther in Antijudaismus verstrickt gewesen ist. Sie ganz ganz schön weh tun, die Sünde, der von Gott geheiligten Sünder. Dazu gehört auch, was die Freunde von Ulrich Bach über die früheren Zustände in Einrichtungen der Diakonie dokumentieren (siehe den Link ganz unten in diesem Beitrag).   


Gläubige Gelassenheit

An Tobias werde ich noch sehr oft denken. Was mir an ihm auffiel, war seine Stimmungslage, ein Gemisch aus Besonnenheit und Heiterkeit. Tobias war von Geburt an schwer behindert, inzwischen ein Mann in mittleren Jahren. Wir sahen uns zwei-, dreimal die Woche. Wie oft haben wir ihn sagen hören: „Ja und?“

Als die Fußballmannschaft seiner Heimatstadt absteigen mußte, Tobias hielt den Kopf etwas schräg, schmunzelte und sagte: “Ja und?” Das konnte ich ja noch verstehen. Gewundert hat’s mich aber, als sein Rollstuhl plötzlich einen Platten hatte. Ich selbst beginne in solchem Falle leicht zu schimpfen. Tobias hielt den Kopf etwas schräg, schmunzelte und sagte: „Ja und?“

Nur als der Arzt ihm sagte, er habe nur noch Wochen zu leben, und als Tobias wieder sagte: „Ja und?“, da verstand ihn auch seine Mutter kaum noch: „Übertreibst du jetzt nicht, mein Junge?“ Aber Tobias sagte nur: „Hör mal, Mutter, hat Ostern denn nur mit Eiern zu tun – oder auch mit mir?“

Diesen Satz fand ich großartig, aber er machte mir Tobias ein bißchen fremd. Und das wurde erst anders, als seine Mutter mir erzählte – der Sohn war an einem Ostersonntag gestorben -, Tobias hätte fast nie von seiner Behinderung gesprochen. Nur einmal, da saßen sie beim Tee, und der Junge – ach, er war schon erwachsen -, der Junge stieß eine Tasse um. Da fing er an
zu weinen. Der Mann in mittleren Jahren fing wegen einer Tasse an zu weinen. Und er zischte vor sich hin: „Ich bin ein alter Krüppel.“
Wenn ich jetzt an Tobias denke, ist er mir nicht mehr fremd. Die Sache mit Ostern und die Sache mit der Tasse – das beides gehört eben zusammen. Tobias hatte Ziele, sehr hohe Ziele. Aber er war Mensch genug, zu wissen: Wir können unsere Ziele nicht immer fassen. An Tobias werde ich noch sehr oft denken.

aus: Ulrich Bach, Volmarsteiner Rasiertexte

 

Diese Geschichte von Ulrich Bach hat sicher dazu beigetragen, dass unser Jüngster den Namen “Tobias” bekommen hat. Ulrich Bach ist Sonntagabend, genau am Abend des 8. Geburtstages von “unserem” Tobias, verstorben.

Links:

Das Milgram-Experiment

Das Milgram-Experiment

Wieviel Gehorsam kann ein Mensch freiwillig einem anderen Menschen entgegen bringen, ohne dazu in irgendeiner Form gezwungen zu werden?

Hannah Arend sprach von der „Banalität des Bösen“: Ganz normale Menschen – keine Bestien – hatten sich bei der fürchterlichen Menschenvernichtung während der Nazizeit beteiligt. Menschen wie Du und ich beteiligten sich daran in einem ungeheueren Maße, ohne irgendwelche Gewissensbisse zu empfinden und zu einem erheblichen Teil, ohne in irgendeiner Weise gezwungen zu sein. Sie machten einfach ihre Arbeit – und das war es dann. Sie gehorchten einer übergeordneten Instanz, der sie vertrauten, die sich halt als irgendwie übergeordnet legitimierte, sie hielten es für richtig, zu gehorchen. Manche gehorchten nur unter Protest, manche leisteten Widerstand. Gibt es Bedingungen, die den Gehorsam fördern?

Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, ist es erforderlich, Gehorsam zu messen. Aber was könnte der Maßstab sein?

Dazu wurde ein geradezu teuflisches Experiment ausgedacht.

Du liest in einer Zeitung: Versuchspersonen gesucht zu einer Untersuchung über Gedächtnis und Lernvermögen. Kostenerstattung von 25 DM je Stunde.

Du bewirbst dich und wirst mit einer weiteren Person in ein Labor eingeladen. Ein leidenschaftsloser Versuchsleiter erklärt folgendes:

Die Psychologen haben mehrere Theorien entwickelt, die eine Erklärung für die Tatsache bieten, wie Menschen unterschiedliche Arten von Lernstoffen lernen. Einige der bekannteren Theorien werden in diesem Buch abgehandelt.

Der Versuchsleiter legt euch ein Buch über den Lehr- und Lernprozess vor. Er erklärt weiter:

Eine Theorie lautet, dass der Mensch etwas exakt lernt, wenn er für einen Fehler jedesmal bestraft wird. Eine  allgemeine Anwendung dieser Theorie ist etwa, dass Eltern ein Kind schlagen, wenn es etwas angestellt hat. Die Erwartung geht dahin, dass Prügel als Bestrafung das Kind lehren werden, sich besser zu erinnern, dass sie es lehren werden, erfolgreicher zu lernen.

Wir wissen jedoch noch sehr wenig über den Einfluss von Strafe auf den Lernprozess, weil es fast keine wirklich wissenschaftlichen Untersuchungen am Menschen darüber gibt. Wir wissen zum Beispiel nicht, wieviel Strafe sich am günstigsten auf das Lernen auswirkt, und wir wissen nicht, welchen Unterschied die Person des Strafenden ausmacht – ob ein erwachsener Mensch am besten von einer jüngeren oder älteren Person als er selbst lernt – usw., usw.

Deshalb versammeln wir für unser Experiment eine Anzahl von Erwachsenen mit verschiedenen Berufen und von unterschiedlichem Alter und bitten einen Teil von ihnen, Lehrer zu sein, einen anderen Teil, Schüler zu spielen.

Wir wollen herausfinden, welche Auswirkungen verschiedenen Menschen füreinander als Lehrer und als Schüler haben, und wir wollen auch herausfinden, welche Auswirkung Bestrafung in dieser Situation hat.

Deshalb werde ich jetzt einen von Ihnen beiden bitten, hier heute abend den Lehrer darzustellen, den anderen, die Rolle des Schülers zu übernehmen.

Zieht einer von Ihnen die eine oder andere Rolle vor?

Du kannst dich nun dazu äußern, auch der andere Versuchsteilnehmer äußert seine Vorliebe. Der Versuchsleiter fährt fort:

 Also, ich glaube, es ist am fairsten, wenn ich auf zwei Zettel die Wörter „Lehrer“ und „Schüler“ schreibe und Sie beide losen lasse.

Du wirst als Lehrer ausgelost. Danach seht ihr euch die Versuchsanordnung an. Der Versuch beginnt. Der Schüler setzt sich auf eine Art elektrischen Stuhl. Er wird festgeschnallt, an seinen Armen werden Elektroden angebracht. Eine Elektrodensalbe soll helfen, Verbrennungen zu vermeiden. „Obwohl die Schocks äußerst schmerzhaft sein können, verursachen sie keine bleibenden Gewebsschädigung“, erklärt der Versuchsleiter.

Die Lernaufgabe besteht darin, Assoziationspaare zu lernen. Du sitzt im Nebenraum und liest dem Schüler Wortpaare vor:

Blau Schachtel
Schön Tag
Wild Vogel
usw

Anschließend muss der Schüler sich an das zweite Wort erinnern: Du liest vor:

Blau: Himmel, Tinte, Schachtel, Lampe.

Entsprechend der Position der richtigen Antwort drückt der Schüler einen von vier Knöpfen. Du kontrollierst die Antworten anhand von vier Kontroll-Lampen. Zur Versuchsanordnung gehört auch der Schockgenerator.

Vor dir befindet sich eine Tafel mit 30 Kippschaltern. Sie sind beschriftet mit 15 Volt, 30 Volt, 45 Volt usw bis 450 Volt. Jeweils vier Schalter tragen die Bezeichnung: „Leichter Schock“, „Mäßiger Schock“, „Mittlerer  Schock“, „Kräftiger Schock“, „Schwerer Schock“, „Sehr schwerer Schock“, „Gefahr: Bedrohlicher Schock“. Zwei Schalter nach dieser letzten Bezeichnung tragen nur die Markierung „X X X“.

Wenn ein Kippschalter betätigt wird, leuchtet über ihm eine rote Kontrollampe auf; man hört ein elektrisches Summen; ein elektrisches Blaulicht mit der Aufschrift „Spannungsverstärker“ blitzt auf; der Zeiger auf dem Voltmeter schlägt aus.

Bevor es losgeht, erhältst Du einen Probeschock von 45 Volt.

Bei jeder falschen Antwort musst Du auf dem Schockgenerator eine Stufe höher gehen. Du musst vor der Verabreichung die Voltstärke ankündigen. Z.B.: „Sie erhalten jetzt einen Schock von 150 Volt!“ Falls Du bis 450 Volt gehen wirst, sollst Du diese Stufe beibehalten. Nach zwei weiteren Versuchen wird der Versuchsleiter abbrechen.

Der einzige Ansporn, den Du erhalten wirst, besteht aus vier Sätzen, die jeweils der Reihe nach gesagt werden, bis Du den Schalter umlegst.

1 – Zuerst:

Bitte machen Sie weiter! Oder: Bitte fahren Sie fort!

2 – Falls das nicht nutzt:

Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen!

3 – Dann:

Sie müssen unbedingt weitermachen!

4 – Die letzte Steigerung:

Sie haben keine Wahl, Sie müssen weitermachen.

Das Maß für den Gehorsam ist gleichsam die Stromstärke, die Du als Lehrer maximal zu geben bereit bist, bevor Du den Versuch auf jeden Fall abbrechen wirst. Die Auslosung nach Schüler und Lehrer war natürlich Betrug: Du bist die eigentliche Versuchsperson, Du wurdest auf jeden Fall der Lehrer. Gemessen wird Deine Bereitschaft gehorsam zu sein.        

 

Soweit der Versuchsaufbau. Nun zu den Ergebnissen:

In einem Vorversuch gab es außer den Lämpchen keine Kommunikation zwischen Lehrer und Schüler.

Nahezu keine Versuchsperson brach den Versuch ab. Alle fragten so lange, bis auch der Schalter mit der höchsten Voltstärke umgelegt wurde. Kaum einer ließ sich von den Aufschriften über den Schaltern beeindrucken.

Also musste ein Schauspieler den Schüler spielen. Auch wenn der Schüler zunächst mäßig, dann auch schärfer  protestierte, führte die Mehrheit der Versuchspersonen den Versuch bis zum bitteren Ende der Skala durch.

Im eigentlichen Versuch wurden dann bestimmte Äußerungen an eine bestimmte Voltstärke gekoppelt:

 75 Volt: leichtes Knurren

120 Volt: „Es tut weh“

135 Volt: schmerzliches Stöhnen

150 Volt: Schreie „Ich weigere mich!“

180 Volt: Brüllen „Ich kann nicht mehr!“

270 Volt: Qualvolles Brüllen

300 Volt: Der Schüler weigert sich, noch Antworten zu geben.

Der Versuchsleiter gibt die Anweisung, dies als falsche Antwort zu werten und nach 5 bis 10 Sekunden Toleranzzeit weiterzumachen.

Nach 330: Keine Antworten mehr

Diese Versuchsanordnung soll also zu einem Konflikt führen: Einen Konflikt zwischen dem Gehorsam gegenüber der Forderung des Versuchsleiters weiterzumachen und der zunehmend dringenden Bitte des Schülers, das Experiment abzubrechen. Die jeweils maximale Voltstärke ist das Maß für Deinen Gehorsam.

Vorher wurden Menschen gefragt, ob sie bei diesem Versuch abbrechen würden und wann. ALLE Menschen gaben an, in jedem Falle abzubrechen. Eine ganze Reihe würde sich sogar weigern, auch nur den ersten Schock zu geben. Keiner würde einen „Sehr schweren Schock“ geben, für die meisten wäre der „Mittlere Schock“ die äußerste Grenze.

Die Zahlen der dann durchgeführten Versuche sprechen eine andere Sprache:

62 Prozent gingen bis zum bitteren Ende über „X X X“ hinaus. Und erschreckend viele der übrigen machten erst beim „Sehr schweren Schock“ Schluß.

Selbst wenn man die Anordnung veränderte und der Schüler im selben Raum saß wie der Lehrer, waren es noch 40 Prozent, die 450 Volt an einen Schüler verabreichten, der keine Äußerung mehr von sich gab.

In einer weiteren Versuchsreihe bekam der Schüler nur dann einen Schock, wenn seine Hand auf einer „Schockplatte“ lag. Ab 150 Volt weigerte sich der Schüler, und der Lehrer musste mit steigender Gewalt die Hand selbst auf die Platte drücken: Immer noch zogen 30 Prozent bis zum bitteren Ende durch!!!

Das Experiment wurde unter veränderten Bedingungen immer wieder wiederholt.

Ändert sich das Ergebnis, wenn …

  • Frauen statt Männer Versuchspersonen sind?
  • der Versuchsleiter direkt neben dem Lehrer steht?
  • wenn der Versuchsleiter zwar im Raum sitzt, aber weiter entfernt hinter einem Schreibtisch?
  • wenn er den Raum verlässt und die Anweisungen nur noch per Telefon gibt?
  • wenn der Schüler vorher unterschreiben muss, dass er sich freiwillig am Experiment beteiligt und alle Beteiligten von jeglicher Haftung an den Folgen freispricht?
  • wenn das Labor in einem Hinterhof statt hinter einer renommierten Fassade eingerichtet ist?
  • wenn der Schüler zwar unter Schmerzen schreit, aber dennoch bittet weiterzumachen, weil er es als seine Pflicht ansieht?

Teilweise kommt es zu abweichenden Ergebnissen. Immer ist jedoch der Bereitschaft, einfach weiterzumachen, enorm.

Das Ergebnis widerspricht allen Prognosen, die Versuchspersonen über ihr eigenes Verhalten abgegeben haben.

Der Autor schreibt: „Das Dilemma, das sich aus dem Konflikt zwischen Gewissen und  Autorität ergibt, ist in der Gesellschaft selbst beschlossen, und wir würden damit leben müssen, selbst wenn es Nazideutschland nie gegeben hätte. Wenn man das Problem ausschließlich historisch behandelt, verleiht man ihm eine allzu große, zu Illusionen verleitende Distanz.

Manche lehnen das Nazi-Beispiel ab, weil wir heute in einer Demokratie und nicht in einem autoritären Staat lebten. Aber das Problem wird dadurch nicht beseitigt. Denn es lautet nicht „unbedingte Autorität in der Art politischer Organisation“ oder „Gruppe von psychischen Einstellungen“, sondern „Autorität“. Unbedingte Autoritätsgläubigkeit kann demokratischer Praxis weichen, aber Autorität als solche kann nicht ausgeklammert werden, solange die Gesellschaft in der uns vertrauten Form weiterexistieren soll.

In Demokratien werden Menschen durch öffentliche Wahlen in ihr Amt eingesetzt. Doch sobald sie einmal installiert sind, besitzen sie nicht weniger Autorität, als jene, die durch andere Mittel  ihre Position erlangt haben. Und wie wir wiederholt gesehen haben, können auch die Forderungen einer demokratisch installierten  Autorität mit dem Gewissen in Konflikt geraten. Der Import und die Vernichtung der indianischen Bevölkerung Amerikas, die Intervenierung japanischer US-Bürger, der Einsatz von Napalm gegen Zivilisten in Vietnam – alle diese Aktionen waren grausam und entsprangen der Autorität einer demokratischen Nation, und man begegnete ihnen mit dem erwarteten Gehorsam. In jedem einzelnen Fall erhoben sich Stimmen des moralischen Protests, doch die typische Reaktion des Durchschnittsmenschen war, den Befehlen zu gehorchen.“

Inzwischen sind mehr als 20 Jahre vergangen. Mich würde eine Neuauflage dieses Versuches interessieren.

Ich weiß heute auch nicht mehr, ob es unbedingt ein Problem des Gehorsams ist. Ist es gehorsam, wenn man in das verlogene Geheul eines Teils unserer Politiker und des amtierenden Innenministers einstimmt, es gäbe massenhaften Asylmissbrauch in unserem Land und mögliche Asylbewerber müssten durch reduzierte Sozialhilfe usw. abgeschreckt werden, es kämen ganz „Fluten“ von ihnen in unser Land usw.? Jeder, der sich ein wenig für Flüchtlingsarbeit interessiert, kann wissen, wie verlogen dieses Geheul ist. Jeder  kann wissen, dass Bürgerkriegsflüchtlinge von den Ämtern der Gemeinden zum Asylmissbrauch aufgefordert werden, damit nicht mehr die Gemeinden, sondern andere Kostenträger für die Unterbringung zuständig werden. Jeder kann es wissen…

Und dennoch „legt“ die brave Omi von nebenan „den Schalter um“,  redet von ihrer Angst vor diesem „Pack“ und dass sie dringend „raus müssten“. Und dennoch klatschen ansonsten unauffällige Familienväter Beifall, wenn Brandsätze auf Asylheime geworfen werden.  Dennoch werden Menschen zu reiner Manövriermasse für skrupellose Politiker, die künstlich die Bearbeitungsdauer von Asylanträge verlängern und im Gegensatz dazu öffentlich erklären, sie seien zu lang, und viel mehr Menschen müssten ohne individuelle Prüfung ihres Schicksals unmittelbar wieder abgeschoben werden können.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Milgram-Experiment und der gegenwärtigen Asyldebatte? Gibt es vielleicht auch einen Zusammenhang zwischen dem Experiment und der gestiegenen Gewaltbereitschaft (nicht nur) unter Jugendlichen in unserer Gesellschaft?

Ich weiß es nicht. Mir würde es reichen, wenn der eine oder die andere nachdenklich würde über seine eigene Gehorsams- und Gewaltbereitschaft – und heute aufsteht gegen Gewalt gegen Menschen, Frauen, Männer und Kinder, egal welche Hautfarbe sie tragen und egal, ob die Gewalt sich institutionell durch Asylgesetzgebung oder ganz offensichtlich durch Brandsätze geschieht…

Bernd Kehren (ca. 1995)

Literatur:

Stanley Milgram,
Das Milgram-Experiment.
Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität.

Deutsch von Roland Fleissner.
1974 Rowohlt Verlag, Hamburg

Aus diesem Buch wird ziemlich viel ohne besondere Kennzeichnung sinngemäß und wörtlich zitiert.

Zu diesem Buch gibt es auch einen Film. Er hat seinen Titel in Anlehnung an die Geschichte von der „versuchten Opferung des Isaak“.

Film: „Abraham – ein Versuch“
BRD, 1970
Regie: Hans Lechleitner / Paul Matussek / David M. Mantell
16 mm / Lichtton / schwarz-weiß
48 Minuten
Link: https://www.fernuni-hagen.de/videostreaming/zmi/video/1986/86-16_76674/