Gottes Gericht?

15.11.2015 – 10:00 Uhr
Gastpredigt Heilig-Geist-Kirche, Bergisch Gladbach
Vorletzter Sonntag im Kirchenjahr – Mt 25,31-46

Gedanken zum Gleichnis vom Großen Weltgericht nach Mt 25
unter dem Eindruck des Terrors in Paris

Wochenspruch:
Wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi.
2 Korinther 5,10

Eingangslied
Ich sing dir mein Lied, in ihm klingt mein Leben

Psalm 50 (EG 726)

Sündenbekenntnis
Guter Gott, wir müssen alle offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi.
Was war gut in unserem Leben? Was haben wir richtig gemacht?
Wo haben wir anderen Menschen geschadet – oder auch uns selbst?
Du weißt, wie es in uns aussieht.
Du kennst unsere guten und unsere schlechten Seiten.
Hilf uns, dass wir Dir und Deiner Gnade vertrauen – gerade auch dann, wenn schreckliche Ereignisse uns bedrohen. Darum bitten wir um Dein Erbarmen.

Lied: EG 382
Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr

Evangelium: Matthäus 25, 31-46
(nach: Bibel in gerechter Sprache)

Lied: EG 16
Die Nacht ist vorgedrungen

Predigt

Liebe Gemeinde,
dass ich diese Predigt halte, steht schon etwas länger fest. Und man überlegt sich, was man sagen kann – und dann kommt es wieder einmal ganz anders.
Nicht ein Terroranschlag, sondern gleich sieben in Paris. Bomben, Maschinengewehre, Geiseln. Tote, Verletzte, Blut. Trauernde. Hassvolle Glaubenskrieger.
Immer neue Nachrichten, Festnahmen, Ermittlungen, Gerüchte. Der Terror kommt uns plötzlich so nah.

„Die Nacht ist vorgedrungen.“ Mir kam es vor allem auf die letzte Strophe an: „Als wollte [Gott] belohnen, so richtet er die Welt.“
Dass die Nacht zu Samstag aber so dunkel und so traurig sein würde, dass sie so viele Tränen bringen würde, so viel Angst, so viel Unsicherheit, damit habe ich nicht gerechnet.
Aber so ist unsere Welt. Auch wenn wir es nur zu gerne ausblenden. Krankheit, Leid, Krieg, Not, Tod – gehören zu unserem Leben. Und wenn wir uns gerade besonders sicher fühlen, trifft es uns besonders hart.
Dabei müsste uns der Glaube an den Gekreuzigten und Auferstandenen immer wieder ermahnen, eben das Kreuz und das Leid nicht zu vergessen.

Und damit sind wir direkt beim Kern des Gleichnisses vom Großen Weltgericht, das wir in der Evangelienlesung gehört haben und das heute unser Predigttext ist.

Stimmt der Vorwurf, den man manchmal hört, die Pfarrer sprächen zu wenig vom Gericht und davon, dass Menschen ewig verloren gehen können? Denn für viele steht genau das fest, auch wegen unseres Gleichnisses. Heißt es nicht in seinem letzten Vers:

„Und sie werden in die °endlose Strafe fortgehen, die Gerechten aber ins °ewige Leben.“

Was wollte Jesus mit diesem Gleichnis sagen?

Ist es eine Beschreibung dessen, was wir das Weltgericht nennen?

Alle Völker versammelt, die Menschen in großen Gruppen in einer riesigen Ebene, und dann werden sie aufgeteilt wie die Schafe und die Böcke im Frühjahr.

Hintergrund dieses Bildes aus der Viehzucht ist die Erkenntnis, dass die Männchen vor allem nutzlose Esser sind; man braucht in der Herde nur wenige, um Nachwuchs zu erzeugen. Die Männchen gebären keine Nachwuchs, sie geben keine Milch, und wenn sie jung geschlachtet werden, sind sie besonders lecker. Also kommen sie im Frühjahr unter das Messer – die Weibchen, die Schafe, sie dürfen weiter leben.

Und diesem Bild entsprechend werden die Menschen aller Völker eingeteilt.

Die Männer hier können beruhigt sein. Der große Weltenrichter wird nicht nach dem Geschlecht unterscheiden. Aber wonach denn?

Weder die auf der einen Seite noch die auf der anderen Seite können sich einen Reim darauf machen.

Sie haben doch alle versucht, ein gottgefälliges Leben zu führen. Sie haben doch alle versucht, das Beste daraus zu machen. So stehen sie zusammen und warten ab, was der Richter sagen wird. Zum Glück sind sie nicht ganz allein in jeweils ihrer Gruppe. Noch haben sie kein besonders schlechtes Gewissen. Alle sind gespannt, was gleich passieren wird.

Es sind – in diesem Bild – riesige Menschenmassen. Und dann wendet sich diese königliche Person der Gruppe zu seiner Rechten zu:

„Ich war hungrig, ihr gabt mir zu essen; ich war durstig, ihr gabt mir Wasser; ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen. Ich war nackt, ihr habt mich gekleidet; ich war krank, ihr habt mich gepflegt; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.“

Große Verblüffung: „Sorry, aber wann haben wir das alles für dich getan?“ Sie können sich keinen Reim darauf machen.
Und auch die anderen nicht: Wann soll das bitte gewesen sein, als wir so heftig versagt haben sollen?

Große Ratlosigkeit auf allen Seiten.

Und dann die Auflösung:

„Was ihr für eine oder einen von diesen Geringsten getan oder nicht getan habt, habt ihr auch für mich getan oder nicht getan.“

Soweit dieses Gleichnis. Sola scriptura, so steht es in der Bibel. Jetzt ist doch alles klar.-  Ist es wirklich so einfach?

Es wäre ganz einfach, wenn wir in unserem Leben nur wenigen Menschen begegnen würden, die alt oder krank oder arm sind. Und wenn wir ihnen dann etwas Gutes getan hätten, kämen wir auf die richtige Seite. Und wenn wir ihnen nicht Gutes getan hätten, dann kämen wir auf die zur Strafe bestimmten Seite.

Aber wir sind nicht nur wenigen Menschen begegnet: Tagtäglich begegnen wir vielen Menschen. Tagtäglich sind viele Menschen im Gefängnis, viele im Krankenhaus. Gerade jetzt kommen viele Flüchtlinge zu uns und es braucht viele Menschen, die ihnen helfen, und es ist gut, dass sich so viele Menschen finden.

Gerade dieses Gleichnis kann einen ungeheuren Stress erzeugen:

Habe ich schon genug getan? Muss ich nicht noch viel mehr tun? Und wenn ich nicht noch mehr tue, mich nicht noch mehr aufreibe, riskiere ich dann meinen Platz im Himmel?

Es gibt viele Ehrenamtliche, die überhören sämtliche Warnsignale ihres Körpers und ihrer Psyche und verausgaben sich in ihren Ehrenämtern bis zum Zusammenbruch. Irgendjemand muss es doch tun, heißt es dann. Und wenn man nur einen Hilfebedürftigen übersehen hat, kommt man auf die verkehrte Seite, und dann kommt die Verdammnis?

Hat Jesus das wirklich so gemeint?

An dieser Stelle erst einmal ein herzliches Dankeschön an alle die vielen Ehrenamtlichen, die sich hier in der Kirche oder an einer anderen Stelle engagieren. Das muss einmal gesagt werden.

Und zugleich muss gesagt werden: Achten Sie gut auf sich. Achten Sie auf Ihre Grenzen. Wenn Sie wieder einmal eine neue Aufgabe übernehmen, überlegen Sie bitte, welche alte Aufgabe Sie dafür abgeben!
Das ist wichtig! Denn Sie sind nicht der liebe Gott, Sie können nicht die Welt retten, Sie haben wie jeder andere Mensch ihre Grenzen, und es ist gut, wenn Sie darauf achten. Jeder Mensch darf auch einmal sagen: Das schaffe ich nicht. Ich brauche Hilfe. Jetzt muss auch mal jemand anderes ran.

Und auch auf der anderen Seite: Gibt es das wirklich, dass jemand grundsätzlich an allen Menschen in Not vorbei gegangen ist, dass jemand niemals jemandem geholfen hat und immer nur an sich selber dachte?

Und so kommen wir nicht nur an unsere eigenen Grenzen, sondern auch an die Grenze dessen, was dieses Gleichnis aussagen kann und was es aussagen will.

Wenn wir es konsequent zu Ende denken, gibt es keinen von uns, der genug getan hätte. Es hätte immer noch etwas mehr getan werden können.

Wir würden feststellen: Wir haben alle versagt. Die Seite zur Rechten des Weltenrichters wäre leer. Die Seite der Hölle (oder wie immer wir es bezeichnen wollten), sie wäre übervoll.

Ist es wirklich das, was Jesus sagen wollte? Es gibt eine ganze Reihe anderer Stellen, die in dieselbe Verzweiflung führen – bis Jesus dann sagt: Nach Eurer menschlichen Logik unmöglich. Aber verlasst Euch auf Gott, der macht das für Euch: Bei Gott sind alle Dinge möglich!

Geht es bei diesem Gleichnis wirklich darum, wie wir uns das Gericht vorstellen sollen? Menschenmassen in langen Prozessionen, die sich auf einem riesigen Platz mit Milliarden von Menschen versammeln und aufgeteilt werden?

Und warum soll man dann bedürftige Menschen gut behandeln? Damit man selber in den Himmel kommt? Ulrich Bach erzählt die Geschichte eines Kranken, der sich für die gute Pflege bedankt. „Ach wissen _Sie, ich habe es für meinen Gott getan“, sagt die Pflegerin. „Schade, sagt der ehemalige Kranke, ich dachte, sie haben es für mich getan!“

Oder geht es möglicherweise um etwas ganz anderes?

Sicherlich haben sie aufgemerkt, als in der „Bibel in gerechter Sprache“ ganz am Anfang der Lesung vom „Menschen“ und nicht wie in der gewohnten Lutherübersetzung vom „Menschensohn“ die Rede war.

Menschensohn: Das klingt wie ein besonderer Titel, der nur zu Jesus gehört.

Aber ist daran nicht viel mehr wichtig, wie nahe uns Gott sein möchte? Wie sehr er für uns Mensch sein möchte? Wo er uns doch, wie es im ersten Schöpfungsbericht heißt, jede und jeden als sein Ebenbild erschaffen hat? „Seht in jedem Menschen das Ebenbild Gottes“, so könnte man die Aufforderung verstehen.

Denkt bei Gott nicht zuerst an die richtige Religion, an den korrekt gefeierten Gottesdienst, an die richtige Konfession… Denkt bei Gott daran, dass ihr ihm in jedem Menschen begegnen könnt. Nein, dass ihr ihm in jedem Menschen begegnet.

„Was ihr für eine oder einen von diesen Geringsten getan habt, habt ihr auch für mich getan“.

Das ist der eigentliche Clou dieses Gleichnisses. Ändert Eure Sichtweise. Behandelt nicht nur die mit Ehrfurcht, von denen ihr etwas erwartet, Vorgesetzte etwa oder Fürsprecher. Sondern behandelt auch jene Menschen so, die alt oder schwach oder unansehnlich sind.

Behandelt übrigens auch euch selber so! Nehmt Euch selber wichtig, denn auch ihr seid Gottes Ebenbilder.

Gerade sehr religiösen Menschen fällt das sehr schwer. Wie oft setzen religiöse Menschen ihre Religion an die wichtigste Stelle und richten damit verheerendes Unheil an?

Es sind nicht nur die Terroristen, die mit „Gott ist groß“ als Schlachtruf und der Kalaschnikow im Arm grausames Unheil anrichten. Es sind auch jene Menschen, die in den Religionen etwas Trennendes sehen und Gott eben in einem Andersgläubigen nicht erkennen wollen.

Sie können die schönsten Gottesdienste feiern und die innigsten Gebete formulieren – aber statt aus ihrem Glauben heraus in jedem Gesicht Gott zu suchen, teilen sie die Welt in Gläubige und Ungläubige, sehen sich selbst selbstverständlich bei den Gläubigen und nur die anderen kommen halt nicht in den Himmel.

Stopp, sagt Jesus, so macht Ihr alles kaputt.
Es geht nicht um ein Szenario mit Milliarden von Menschen, die in zwei Gruppen eingeteilt werden: Es geht darum, dass Ihr jedem, wirklich jedem Menschen seine Menschenwürde zubilligt. Jedem Menschen.

Und dann wird es wieder spannend.

Wenn es um die vielen Toten in Paris geht: Denen sprechen wir diese Menschenwürde zu.

Aber was ist mit den vielen anderen Menschen, deren Menschenwürde uns wenig bis gar nicht interessiert haben? Die irgendwo in der Welt unsere Klamotten im Akkord zusammen nähen, damit wir sie hier preiswert kaufen können? Die unter fürchterlichen Bedingungen für uns die “Seltenen Erden” aus dem Boden kratzen, damit unsere Handys funktionieren? Denen das Land weggenommen wird, damit dort Palmölplantagen angelegt werden können? Denen man an der Afrikaküste die Fische weggefischt und sie so arbeitslos gemacht hat und deren Kunden man in den Hunger trieb? – Bis sie sich nun aufmachten über das Mittelmeer, um auch etwas von jenem Wohlstand abzubekommen, den sie für uns erarbeitet haben.

Wenn die Saudis einem klammen deutschen Industriekonzern mit ihren Öldollars helfen, vergessen wir nur zu gerne, wie sehr sie an anderer Stelle die Menschenwürde mit Füßen treten.

Es gibt so viele Gelegenheiten, an denen uns auf den ersten Blick nicht klar ist, wessen Menschenwürde wir ignorieren. Viele dieser Menschen kommen als Flüchtlinge zu uns. Und manche dieser Menschen, deren Menschenwürde wir ignoriert haben, kommen als Terroristen wieder zu uns.

Manchmal ist es zu schnell, wenn wir anfangen, die Welt in Gute und Böse, in Schafe und Böcke einzuteilen, in Erwählte und in Verdammte.

Macht es wie Gott, sagt Jesus, und teilt die Menschen nur in eine einzige Gruppe ein: In Gottes Ebenbilder, die jede und jede und jeder eine unveräußerliche Menschenwürde haben. Und bei denen es sich rächt, wenn ihr diese Menschenwürde zu lange mit Füßen tretet. Dann werden Menschen stark, die die Menschenwürde viel grausamer mit Füßen treten können. Und die Euch verleiten, es ihnen nachzumachen. Die Euch verleiten, im Kampf für die Menschenwürde genau diese Menschenwürde mit Füßen zu treten.
Die Euch verleiten, das Gericht selber in Hand zu nehmen, statt in jedem Menschen Gott selber zu sehen…

Geht es also in unserem Lesungstext aus dem Matthäusevangelium wirklich ums Gericht? Oder geht es um eine Einstellungssache: Nämlich in jedem Menschen ein Ebenbild Gottes zu sehen? Übrigens auch in sich selbst?

Die Terroristen wollen vor allem unsere Angst schüren.

Aber Jesus ist kein Terrorist. Er möchte uns nicht Angst machen, sondern er möchte uns ermutigen. Ihr seid Gottes Ebenbilder, vergesst das nicht. Ihr selber und Eure Gegenüber. Wenn Ihr das nicht vergesst, kommt Euch der Himmel ganz nahe. Trotz des Terrors. Trotz Eurer Begrenztheit.

Gott will Euer Bestes. Vertraut ihm. Dann wird das Gericht kein Thema für Euch sein. Und ihr werdet immer mehr versuchen, so zu leben, dass ihr damit anderen nicht die Würde nehmt. Lasst Euch auf seine Liebe ein! Es ist jetzt wichtiger denn je.

Lied EG 432
Gott gab uns Atem, damit wir leben

Fürbitten

Guter Gott, Du gibst uns Atem und Augen und die Erde.
Du gibst uns Ohren und Worte und Hände und Füße, damit wir die Erde verwandeln.
Du machst uns Mut:
Wir können neu ins Leben gehen.
Darum bitten wir Dich, gerade nach Tagen wie gestern und vorgestern.
Hilf uns, dass wir nicht unbarmherzig werden sondern für Deine Barmherzigkeit einstehen.
Hilf uns, dass wir gnädig mit uns sind, wenn wir unsere Wut und Angst herausschreien wollen. Wir sind auch nur Menschen.
Hilf uns, dass wir die Menschen sehen lernen, die für uns arbeiten, überall auf der Welt. Für Erdöl und Palmöl, für die seltenen Erden, mit denen unser Handy funktioniert. Sie arbeiten für uns. Haben wir im Blick, dass es ihnen dabei gut geht?
Hilf uns, dass wir und unsere Politiker das Geld gut einsetzen. Für den Wert eines einzigen Panzers könnte man ein ganzes Krankenhaus bauen. Warum bauen wir so wenig Krankenhäuser und so viele Panzer in der Welt? Wie viele unschuldige Menschen sterben, weil Krankenhäuser fehlen und Panzer zerstören, was Menschen lieben?
Hilf uns, die drei Finger zu sehen, die auf uns zurück weisen, wenn wir auf die Terroristen zeigen.
Vielleicht wird es dann ein wenig mehr Frieden geben in der Welt.
Und darum bitten wir. Um Frieden. Für die Menschen in Paris, in Frankreich, hier bei uns – überall auf der Welt.

Vaterunser

Segen

Pfingsten waren die JüngerInnen nicht ängstlich

War Pfingsten ein Aufbruch von Angsthasen, wie man es immer wieder in Andachten und Kommentaren zum Pfingstfest lesen kann?

Warum die Jüngerinnen und Jünger voller Erwartung waren und was Christinnen und Christen vom Judentum lernen können.
Meine Pfingstpredigt zu Apostelgeschichte 2 und (kurz) zu Römer 8 vom 19.05.2002, Pfingsten 2014 neu eingestellt und 2022 nachbearebeitet

War Pfingsten ein Aufbruch von Angsthasen, wie man es immer wieder in Andachten und Kommentaren zum Pfingstfest lesen kann?

Warum die Jüngerinnen und Jünger voller Erwartung waren und was Christinnen und Christen vom Judentum lernen können.
Meine Pfingstpredigt zu Apostelgeschichte 2 und (kurz) zu Römer 8 vom 19.05.2002, Pfingsten 2014 neu eingestellt und 2022 nachbearebeitet:


Welche Vorstellung haben wir von den Jüngern, wie sie da im Hause sitzen?
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich hatte bis zur Kindergottesdiensttagung um Himmelfahrt den Text mit dem ungläubigen Thomas aus dem Johannesevangelium vor Augen.

„Die Jünger waren beisammen und hatten aus Angst vor den führenden Juden die Türen abgeschlossen. Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: »Frieden sei mit euch!«“

Vor meinem inneren Auge sitzen ängstliche Jünger, die sich gegenseitig anstarren, wie sie voller Angst zittern. Sonst machen sie nichts.

Aber mit den inneren Augen ist es wie mit den richtigen Augen: Manchmal sind sie arg kurzsichtig.

[Ergänzung 2022:
Denn die letzten Verse des Lukasevangeliums, am Ende der Verse über die Himmelfahrt (!), lauten:
51 Noch während er sie segnete,  entfernte er sich von ihnen und wurde zum Himmel emporgehoben. 52 Sie fielen zu Boden und beteten ihn an. Dann kehrten sie voller Freude nach Jerusalem zurück. 53 Sie verbrachten die ganze Zeit im Tempel und lobten Gott.]

Auf der Kindergottesdienst-Helfer-Tagung [2002] in Duisburg gab es Bibelarbeiten zur Pfingstgeschichte, und eine davon wurde von Sasja Martel gehalten. Sasja ist Jüdin und leitet ein Lehrhaus in der Nähe von Amsterdam.

Für manchen Juden ist unser Neues Testament das bedeutungsloseste, was man sich vorstellen kann. Andere, und dazu gehörten ihre Lehrer Aschkenasi, Flusser und Safrai, haben das NT als ein jüdisches Buch schätzen gelernt. Sie glauben zwar immer noch nicht, dass Jesus der Messias ist, aber sie entdecken darin so viel aus ihrer eigenen jüdischen Religion.

Ostern und das Pessach-Fest gehören einfach zusammen. Und fünfzig Tage nach dem Pessachfest liegt das Wochenfest, das Schawout-Fest, das unserem Pfingsten entspricht. “Pfingsten” bedeutet hat auch nur “50”, nämlich 50 Tage nach Ostern, 50 Tage nach Pessach.

Was machen fromme Juden fünfzig Tage nach Ostern? Sasja Martel erklärte es uns so:

Pessach, zum Passafest, denken die Juden daran, wie sie aus der Sklaverei in Ägypten befreit wurden. Aber es ist gar nicht so einfach, in Freiheit zu leben. Wirklich frei zu sein, wirklich in allem frei entscheiden zu können, das muss man lernen.

Und wirklich frei entscheiden zu können, das bedeutet, Ebenbild Gottes zu sein. Wir sind von Gott geschaffen, um frei entscheiden zu können. Einfach ist das nicht. Die Juden sagen, 40 Jahre lang mussten sie es lernen, 40 Jahre lang sind sie deswegen durch die Wüste gezogen. Und am Schawout-Fest, am Wochenfest, zu unserem Pfingsten, da feiern sie diese Freiheit, die Gott uns allen gegeben hat. So wie wir Adventskalender haben, in denen wir jeden Tag ein Türchen aufmachen und auf Weihnachten zugehen, so zählen die Juden jeden einzelnen der 50 Tage bis Schawout.

Und wodurch wird man frei? Wenn man sich frei entscheiden will, braucht man Tradition, muss man wissen, woher man kommt, muss man seine Geschichte kennen, muss man im Gespräch bleiben mit den Alten, mit den ganz alten Geschichten.

Diese alten Geschichten mit der Tora, dort finden die Juden ein Modell für das Leben, ein Modell dafür, frei zu sein. Die 5 Bücher Mose sind wie Steno, wie eine Kurzfassung alles dessen, was das Leben möglich macht.

Und deswegen ist es so wichtig, die Bibel zu lesen und zu studieren. Nicht so sehr, um die richtigen Antworten zu finden. Die Antwort ist nur für jetzt, aber mit einer guten Frage kann man 50 Jahre lang leben.

Dafür muss man streiten und diskutieren und immer wieder die Bibel studieren.

Dass ist Leben, dass ist frei sein, entscheiden können, das ist Mensch sein.

Es geht nicht darum den anderen zu überzeugen. Jeder soll er selber bleiben. Denn es gibt nicht die Wahrheit. Die Wahrheit entwickelt sich weiter, bis die Erlösung kommt.

Deswegen soll man streiten, aber das Ziel ist das Leben, das Ziel ist es, frei zu sein. Und für dieses Ziel ist für die Juden das Torastudium so ungeheuer wichtig.

Und was hat dies alles mit Pfingsten zu tun? Warum heute dieser lange Ausflug ins Judentum?

Zum Wochenfest, zu Schawuot, zu Pfingsten nehmen sich orthodoxe Juden den ganzen Tag frei zum Torastudium.

Sie beginnen am Abend und lesen und diskutieren die ganze Nacht hindurch, wenn sie es durchhalten. Sie lesen und streiten, denn es geht um das Leben und um die Freiheit.

Und wenn man sich so intensiv um die Tora bemüht, dann geschehen auch schon einmal merkwürdige Dinge.

„Es wird erzählt, dass Rabbi Elieser und Rabbi Joschua einmal im Haus von Abuja zu Gast waren, als dort ein Fest gefeiert wurde. ‚Lasst uns auch Vergnügen haben’, sagten die beiden zueinander, und sie befassten sich mit den Worten der Tora; von der Tora gingen sie zu den Propheten über und von den Propheten zu den Schriften, Und ein Feuer kam vom Himmel herab und umgab sie. Abuja rief erschrocken: ‚Meine Lehrer, seid ihr gekommen, um mein Haus in Brand zu stecken?’ ‚Keineswegs’, sagten sie, ‚aber die Worte erfüllen uns mit der gleichen Freude wie damals, als sie auf dem Berge Sinai offenbart wurden, und damals brannte der Berg bis ins Herz des Himmels.’“

Für eine Jüdin wie Sasja Martel ist völlig klar, was die Jüngerinnen und Jünger damals zu Pfingsten gemacht haben in Jerusalem: Sie haben ihre Torastudien betrieben, sie haben intensiv die Bibel gelesen und sich darüber unterhalten.

Zu Pfingsten wird übrigens die Rolle mit dem Buch Ruth gelesen, die Geschichte der Ausländerin, die nicht-jüdische Frau, die sagt, ‚dein ist mein Gott’, die Geschichte also, die deutlich macht, dass Gott die Freiheit und Erlösung für jeden Menschen will, nicht nur für Juden etwa.

Und für diese Jüdin ist überhaupt nicht verwunderlich, dass an einem solchen Tag der Geist Gottes in dieses Haus des Torastudiums kommt, in dieses Haus, in dem ganz intensiv die Bibel gelesen und diskutiert wird.

Schöpfung, Offenbarung, Erlösung: Mit diesen drei Worten hat Sasja die ganze jüdische Tradition zusammen gefasst.

Gott der Schöpfer, würde ich übertragen, Jesus der, in dem sich Gott uns Menschen offenbart hat, und der Geist, in dem Gottes Erlösung zu uns kommt. So würde ich als Christ die Analogie zu diesen drei Begriffen sehen.

Und in Pfingsten läuft dies zusammen. Gott hat den Menschen als sein Ebenbild geschaffen, als freien Menschen, aber die Menschen konnten mit der Freiheit nicht umgehen. Darum kam am Sinai mit der Tora die Offenbarung, und zu Pfingsten bemühen sich die Juden um das Torastudium, um die Freiheit, um das Leben, kurz: um die Erlösung.

Und so sitzen die Jünger im Haus, und über dem Torastudium kommt der verheißene Geist. Völlig unverwunderlich erleben sie eine Flammenerscheinung, völlig unverwunderlich öffnet sich die Erlösung zu den vielen Menschen und Völkern, wie es schon in der Geschichte der Ruth angedeutet ist.

Genau um diese Freiheit geht es auch im Predigttext aus Röm 8.

Wenn man diese Zusammenhänge mit dem Torastudium und dem Geist und der Erlösung für alle Menschen begriffen hat, dann versteht man auch recht schnell die Verse aus dem Predigttext.

Paulus schreibt:

„Ihr aber seid nicht mehr von eurer eigenen Natur bestimmt, sondern vom Geist. Es will doch etwas besagen, dass der Geist Gottes in euch Wohnung genommen hat! Wer diesen Geist – den Geist von Christus – nicht hat, gehört auch nicht zu ihm. 10 Wenn nun also Christus durch den Geist in euch lebt, dann bedeutet das: Euer Leib ist zwar wegen der Sünde dem Tod verfallen, aber der Geist erfüllt euch mit Leben, weil Christus die Sünde besiegt hat und ihr deshalb bei Gott angenommen seid.“

Pfingsten feiern wir Christen, dass Gottes Geist zu uns gekommen ist, dass er die Erlösung gebracht hat, dass dieser Geist in uns wohnt., dass wir zu Jesus gehören.

Wir leben noch in dieser Welt, in einer Welt, in der es auch Krankheit und Tod noch gibt.

Aber wir feiern Pfingsten: Das Fest des Geistes Gottes, der uns mit Leben erfüllt, der uns die Sünde wegnimmt, der uns frei macht zu einem erfüllten Leben, zu einem Leben gefüllt mit Lernen und Tun. So feiern wir Pfingsten als ein besonderes Fest des Lebens.

[2. Ergänzung 2022:
Woher kommt nun das Missverständnis?
Das findet sich im Lesungstext II von Pfingstmontag aus Joh 20,19-22.
Es handelt sich um eine Ostergeschichte (!), die schon am Ostersonntagabend in der Geistausgießung mündet. Auch dort werden die Jünger zu Ostern aus der Angst gerissen.
Das geht parallel zur Lukasvariante:

Am Abend des ersten Tages der Woche,
da die Jünger versammelt
und die Türen verschlossen waren
aus Furcht vor den Juden,
kam Jesus und trat mitten unter sie
und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch!
20 Und als er das gesagt hatte,
zeigte er ihnen die Hände und seine Seite.
Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen.
21 Da sprach Jesus abermals zu ihnen: Friede sei mit euch!
Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.
22 Und als er das gesagt hatte, blies er sie an
und spricht zu ihnen : Nehmt hin den Heiligen Geist!
23 Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen ;
welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.“

Nimmt man aber mit Lukas Bezug auf das Pfingstfest 50 Tage nach Ostern, gibt es dort keine Furcht mehr.

Bei Johannes erscheint der Hinweis auf den Heiligen Geist abschließend wie eine Warnung:
Wer nicht aus Gottes Liebe und Vergebung heraus lebt, kann Menschen in ihren Sünden festhalten. Aber das ist noch ein ganz anderes Thema.]