„Ich glaube. Hilf meinem Unglauben!“

Gedanken zur „Jahreslosung“ 2021 aus Lukas 6,36
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“

Gedanken zur Jahreslosung 2020

„Ich glaube. Hilf meinem Unglauben!“ Markus 9,24

Seit dem 16. Juni 2020 bin ich Militärpfarrer am Standort Mayen.

Meine Evangelischen Kirche im Rheinland hat mich für diesen Dienst freigestellt. Ich bin aber froh, immer noch zu meiner Landeskirche zu gehören, in der ich zuletzt im Kirchenkreis Bad Godesberg-Voreifel als „Pfarrer mit Besonderem Auftrag“ in der Altenheim- und Krankenhausseelsorge tätig war.

Die Zeit als Notfallseelsorger im Kriseninterventionsdienst-Team des DRK prägte mich ebenso wie die Aufgabe Sternenkinder zu beerdigen: Kinder, die tot auf die Welt gekommen sind. Unsere Welt ist manchmal ziemlich brutal – auch wenn ich das Privileg genieße, in einer Ecke der Erde zu leben, die seit Jahrzehnten von Wohlstand und Frieden geprägt ist. Für mich bedeutet es, dass ich versuche, dankbar aber auch ehrlich zu predigen – nun auch in der Militärseelsorge.

„Ich glaube!“ Das tun heute viele. Und sie glauben viel zu viel. Glauben ist gar nicht so schwer. Einfach liken und weiterschicken.
Aber kritisch hinterfragen? Nicht sofort weiterschicken, sondern erst einmal kontrollieren, ob die Quelle glaubwürdig ist? Nicht alles für bare Münze nehmen? Was mag dieser Vater des „besessenen“ Jungen nicht alles ausprobiert haben? Wer mag ihm nicht schon alles versprochen haben, er könne seinen Sohn heilen? „Ich glaube doch!“, schreit der Vater. „Den anderen habe ich doch auch geglaubt. Mein Sohn ist immer noch krank. Meine Zweifel gehören zu mir. Du kannst meinem Sohn nur helfen, wenn du mich so nimmst, wie ich bin. Mein Glaube gehört zu mir! Hilf auch meinem Unglauben!“
So lautet einer meiner Versuche, die Jahreslosung zu lesen. Wenn wir alles für bare Münze nehmen, wenn wir uns kritiklos ein X für ein U vormachen lassen, geben wir die Verantwortung ab an irgendwen. Wir übernehmen sie dann jedenfalls nicht mehr. Richard P. Feynman, der großartige Physik-Nobelpreisträger und unbestechliche Wissenschaftler, legte großen Wert darauf, dass es Wissenschaft ohne Zweifel nicht gibt. Und er bewunderte den Glauben, der seiner Meinung nach ohne Zweifel auskäme. Ich möchte ihm widersprechen. Auch der Glaube kommt nicht ohne den Zweifel aus. Nichts an Gott kann ich wissen. Es gibt keinen archimedischen Punkt, von dem aus ich über Gott Sicherheit bekommen kann. Und wenn ich mir besonders sicher scheine, kann ich von Gott besonders weit entfernt sein. Glaube gibt es nicht ohne den Zweifel.
„Hilf meinem Unglauben!“ Dieser Vater hatte etwas begriffen. Wie sein Sohn gesund geworden ist: Ich weiß es nicht. Ich muss das auch nicht wissen. Ich freue mich für die beiden. Und verliere hoffentlich meinen Glauben auch im Auslandseinsatz nicht. „Hilf meinem Unglauben!“

Bernd Kehren,
Militärpfarrer

Gottgewollte Diversivität

Wie vielfältig dürfen wir Gottes Schöpfung denken?
Wie vielfältig auch im Blick auf Konfessionen und Religionen?

Kurz gesagt bedeutet „Diversivität“: „Vielfalt“.Wir neigen dazu, Dinge oder Menschen in Schubladen zu stecken. Das betrifft nicht nur das Geschlecht, sondern auch die Auffassungen, Religionen, Parteien, Nationalitäten.

Wenn alle immer nur in dieselbe Richtung denken, ist das zwar irgendwie bequem, aber im Laufe der Zeit auch sehr gefährlich: Man verpasst möglicherweise wichtige Entwicklungen. „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“
Darum entdecken immer mehr Firmen den Vorteil, einer vielfältig zusammen gesetzten Belegschaft. Die Vielfalt ist manchmal anstrengend, aber sie befruchtet auch. Man muss sich mit ganz unterschiedlichen Meinungen auseinander setzen, aber man lernt auch neue Perspektiven kennen: Auch Lösungsansätze, an die man im ersten Moment gar nicht gedacht hätte.

Neu ist das alles nicht.

Im 1. Petrusbrief 4,10 findet sich der Vers:
„Dient einander als gute Verwalter der vielfältigen Gnade Gottes, jeder mit der Gabe, die er empfangen hat.“

Wir sind alle unterschiedlich. Jeder und jede kann etwas besser als andere und ist dafür an anderer Stelle weniger begabt. Man kann an seinen Begabungen arbeiten und sie verbessern.

Alle aber können wir uns mit unserer Vielfalt gegenseitig bereichern:

Männer und Frauen,
Kinder und Erwachsene,
Junge, Mittlere und Alte,
Protestanten, Katholiken, Freikirchlicher,
Gläubige, Ungläubige und Andersgläubige,
Menschen aller Religionen und Länder,
Flüchtlinge und Geborgene,
Heterosexuelle, Homosexuelle, Transgeschlechtliche, wie immer auch wir fühlen und denken,
Konservative und Progressive.

Jede (m/w/d) ist ganz individuell anders.

Wir bereichern uns gegenseitig.
Das ist gut so.
Gottgewollt oder natürlich.
Denn Natur ist Vielfalt.
Und jede und jeder hat seine eigenen Fähigkeiten, mit wir alle uns einbringen können.

Bernd Kehren

Was glauben wir denn?

Die Diskussion um Kirchenaustritte ist wichtig, klammert aber den Kern der Frage aus: Unseren Glauben. Was glauben wir? Was ist Glauben? Was unterscheidet ihn vom Wissen? Und wie predigen wir unseren Glauben? Und wie gehen wir mit Zweifel um?

Die Diskussion um Kirchenaustritte ist wichtig, klammert aber oft den Kern der Frage aus: unseren Glauben. Was glauben wir? Was ist Glauben? Was unterscheidet ihn vom Wissen? Und wie predigen wir unseren Glauben? Und wie gehen wir mit Zweifel um?

Was mir fehlt, ist ein ehrlicher Umgang mit den Inhalten unseres Glaubens und Wissens.

  1. Wir unterscheiden zu wenig Glauben und Wissen.
  2. Wir sind nicht ehrlich in dem Bereich, in dem es um das Wissen und Wissenschaft geht.
  3. Und wir tragen zu oft das Wissen in Bereiche, in denen wir „nur“ glauben können.

Immer noch herrscht der Irrglaube vor, in der Wissenschaft würde irgendetwas bewiesen. Richtig ist hingegen: In der Wissenschaft werden Theorien aufgestellt, die die Realität möglichst gut beschreiben. Und in der Tat beschreiben viele Theorien die Realität in einer sehr guten und sehr exakten Weise. Aber es bleiben Theorien. Denn zur Wissenschaft gehört untrennbar der wissenschaftliche Zweifel: Richard P. Feynman nannte Wissenschaft ohne diesen Zweifel Cargo-Kult-Wissenschaft, Scheinwissenschaft. Sieht aus wie Wissenschaft, ist es aber nicht. Zu dieser Problematik gehört eine Krise der Wissenschaft hinzu. Wird heute eine wissenschaftliche Untersuchung in Auftrag gegeben, traut ihr so gut wie niemand mehr zu, dass sie im Sinne Feynmans ehrliche Resultate (gute realitätsnahe Theorien) zustande bringt, sondern nur noch, dass sie die Interessen des Auftraggebers darstellt.

Was hat das mit dem Glauben zu tun? Viele Menschen behaupten, nur noch das glauben zu wollen, was bewiesen sei. Man schaue sich allein Wirksamkeitsstudien in der Medizin an, deren „Erweis“ rein statistisch ist. Wenn in Doppelblindstudien eine signifikant höhere Erfolgsquote erzielt wird, gilt die Medizin als wirksam. Bittesehr: Was ist da genau „bewiesen“?

Wir sollten das auch in unseren Predigten und Bibelarbeiten immer deutlich herausarbeiten: Wissenschaft gibt es nicht ohne den wissenschaftlichen Zweifel – oder es ist keine Wissenschaft mehr.

Richard P. Feynman steht zu diesem Zweifel und bewundert an dieser Stelle den Glauben, der Gewissheit habe. Genau da möchte ich ihm widersprechen. Denn auch zum Glauben gehört der Zweifel. Dabei hat es der Glaube noch schwerer als die Wissenschaft. Denn die Wissenschaft arbeitet „immanent“: mit den Dingen und Zusammenhängen, die man sehen oder messen kann. Wenn wir vom Glauben sprechen, kommt die Transzendenz hinzu. Ich kann mir einen Gott nicht denken, der (nur) immanent ist. Einen immanenten Gott kann ich untersuchen und Theorien bilden, wie es in der Wissenschaft üblich ist. Einen wissenschaftlichen Gegenstand kann ich im Rahmen der Untersuchung manipulieren, vielleicht sogar in Scheibchen schneiden, einfärben, Theorien bilden: Was sollte daran sein, was die Bezeichnung „Gott“ verdient?

„Gott“ ergibt für mich nur dann einen Sinn, wenn damit Transzendenz verbunden ist. Und damit ist Gott der Sphäre des Wissens grundsätzlich entzogen.

Und da liegt ein grundsätzliches Problem der Theologie. Solange sie sich dies nicht klar macht, versucht sie Gott in ihren Dogmen möglichst genau und immer genauer zu beschreiben. Insbesondere die katholische Kirche hat sich auf diese Weise in ein Glaubenssystem eingemauert, das immer stärker im Widerspruch zur erlebten Welt steht, dass dem zurecht immer weniger Menschen Glauben schenken.

Aber auch in der protestantischen Welt wird Glaube zu oft in dieser Weise gepredigt. Im fundamentalistischen Bereich ist man darauf sogar stolz. Man versucht, den transzendenten Gott mit immanenten Mitteln beweisbar oder zumindest plausibel zu machen. Während die Evolutionstheorie ja „nur“ Theorie sei, habe man mit dem Gottglauben etwas Sicheres in der Hand und sei der Wissenschaft überlegen.

Erstens nimmt man dabei die Wissenschaft nicht ernst und zweiten nicht den Glauben.

Was soll das sein, ein sicherer Glaube? Wenn es diesen sicheren Glauben gäbe, gäbe es irgendwo einen immanenten Punkt, an dem ich meinen Glauben aufhängen oder festmachen kann. Aber dann hätte ich immanente Möglichkeiten, Gott zu bewerten oder zu beweisen und ich hätte immanente Fähigkeiten, diese Möglichkeiten zu unterscheiden und ihrerseits zu bewerten, ob sie denn auch wirklich das tun, was sie vorgeben. Im Ergebnis stünde ich „über“ Gott. Was soll das für ein Gott sein, den ich auf diese Weise immanent „bewiesen“ hätte?

Theologisch gedacht: Unser christlicher Glaube führt über das Kreuz. Und nach immanenten Kriterien ist dies die größte Niederlage und der größte Grund zu zweifeln.

Predigen wir das? Treten wir offensiv für diese Erkenntnis ein, sowohl, was den Zweifel in der Wissenschaft betrifft, als auch was den Zweifel im Glauben betrifft?

Angesichts jüngst geäußerter Zweifel von bekannten Musikern aus der Lobpreisszene kam im Gegenteil sofort der zweifelhafte Rat, über Glaubenszweifel möglichst nicht öffentlich zu sprechen. Was soll das?

Für viele Menschen ist der Glaube an die Auferstehung die Lösung. Auch dazu muss man ehrlich sagen: Die Auferstehung ist „unglaublich“. Doch, ich glaube auch daran. Aber es gibt im Bereich der Immanenz nichts, aber auch gar nichts, was dafür spricht. Als Notfallseelsorger habe ich immer wieder mit Notärzten zu tun, die sich die allergrößte Mühe geben, Menschen nach einen Herzstillstand zu reanimieren. Fragt doch mal einen solchen Notarzt, was er davon hält, dass jemand nach drei Tagen ohne Herztätigkeit wieder ins Leben erweckt wird. Nichts.

Nach zweitausend Jahren Christenheit ist manchem Christen die Rede von der Auferstehung so normal geworden, dass uns das Bewusstsein dafür verloren gegangen ist, wie wenig normal Auferstehung ist, wie unglaublich und unbegreiflich.

Ich kann mich Fälle von plötzlichem Kindstod oder von Unfällen mit Kindern erinnern, wo ich so gerne vor den Eltern gesagt hätte: „Im Namen Jesu Christi, steht auf, sei gesund, lebe!“ Aber ich kann es nicht. Trotz allen Glaubens.

Und wir wissen, dass deswegen die Auferstehung in der Bibel auch so „verschwommen“ beschrieben wird. Der Auferstandene wird nicht erkannt. Oder er wird an Dingen wie dem Brotbrechen erkannt, was doch nun wirklich keinen direkten Beweiswert hat.

Für mich persönlich hat dies zur Erkenntnis geführt, gläubiger Agnostiker zu sein. Und ich glaube, dass dies die einzige ehrliche Möglichkeit zu glauben ist. Auf der Ebene all dessen, was ich wissen kann, kann ich bei allen transzendenten Aussagen nur sagen: Ich weiß es nicht. Und ich muss damit leben, dass ich es nicht weiß.

Aber ich glaube. Ich kann trotz allem wissenschaftlichen und glaubensmäßigen Zweifel nicht vom Glauben lassen. Glaube gilt in der Theologie als ein Geschenk. Und ich weiß nicht, warum ich ihn geschenkt bekommen habe. Damals, als ich konfirmiert wurde, war ich mir meines Glaubens nicht sicher und habe mich nur nicht getraut, darüber zu sprechen. Inzwischen bin ich dankbar, dass ich mich damals habe konfirmieren lassen. Denn es hätte niemals in meinem Leben den Punkt gegeben, an dem ich nach immanenten Kriterien sicher gewesen wäre.

Aber dann kam das Theologiestudium. Da habe ich eine Menge gelernt, was man wissen kann. Zum Beispiel, wie diskursiv das Judentum ist. Wie intensiv im Talmud über den Glauben diskutiert wurde, im Pro und Kontra. Wie man sich im Judentum weigert, über Eigenschaften Gottes zu diskutieren und an dieser Stelle schweigt. Und wie weise diese Entscheidung war, damals oft angesichts von figürlichen Gottesdarstellungen und -statuen.

Da habe ich auch gelernt, wie vielschichtig die Bibel ist, widersprüchlich, nicht perfekt.

Gerade sehr fromme Menschen weisen auf Bibelverse hin, in denen vor der Philosophie gewarnt wird, menschliche Klugheit könne gegen Gott und den Glauben nichts ausrichten (Kol 2,8). Aber wenn es um die Unfehlbarkeit der Bibel geht, merken sie nicht, wie sie philosophischem Denken auf den Leim gegangen sind nach dem Motto: Gott muss als unfehlbar und allmächtig gedacht werden. Wenn Gott so ist, muss auch ein Buch, das er herausgibt, unfehlbar und widerspruchsfrei sein. Und so machen sie sich die Bibel dann passend. Keiner hat Gott gefragt, ob er die Bibel unfehlbar und widerspruchsfrei herausgeben wollte.

Wenn ich mir die Bibel anschaue, und wenn ich davon ausgehe, dass es Gott irgendwie gibt, dann hat er allem Anschein nach nicht die Absicht gehabt, die Bibel unfehlbar und widerspruchsfrei herauszugeben.

In der Theologie habe ich dann den Slogan vom „Gotteswort im Menschenwort“ kennengelernt. Und ich habe die kritische Theologie lange Zeit so kennen gelernt, dass sie versuchte, aus all dem Menschenwort das Gotteswort „herauszudestillieren“. Aber heraus kam immer nur das, was der jeweiligen Destillationstemperatur entsprach: Stellte man die „Temperatur“ auf „revolutionär“, bekam man einen revolutionären Jesus und einen revolutionären Gott. Man konnte die Temperatur auch auf „sozialkritisch“ stellen, als „Wanderprediger“ oder sonst irgendwas. Was unbequem war, konnte man schnell als „zeitbedingt“ abtun oder als „Gemeindebildung“. Übrig blieben dann echte Gottesworte, mit denen man Schöpfungstheologie oder sonst Wichtiges begründen konnte. Und selbst jetzt noch soll es NT-Programme geben, in denen Neutestamentler mit Mehrheitsentscheidung beschließen, welche Verse auf Jesus zurückgehen und welche nicht. Darum bin ich sehr empfindlich, wenn ich diesen Slogan vom „Gotteswort im Menschenwort“ höre.

Dabei kann man ihn auch so verstehen, dass wir Gottes Wort nur so haben, wie wir es haben: Ohne Urschriften. Nur in divergierenden Abschriften. In unterschiedlichem Umfang (mit oder ohne biblische Apokryphen). In unterschiedlichen Übersetzungen unterschiedlicher Qualität. Von Menschen gemacht. In unterschiedlichen Auslegungen. All das ist als Bibel Wort Gottes und Richtschnur für unser Leben. Aber nicht als eine Art Pfadfinderhandbuch (da schlägt man für eine bestimmte Lebenssituation die richtige Seite auf. Wenn man dann genau nach Anleitung verfährt, hat man sich sicher richtig verhalten), sondern als ein Buch, das zu Freiheit und Verantwortung anleitet und manchmal sogar zum Widerspruch. Wie bei Abraham: „Lieber Gott, wenn es 50 Gerechte in der Stadt gibt, kannst Du sie doch nicht im Ernst vernichten wollen!“ Oder: „Auch die Hunde essen doch von dem, was vom Tisch fällt!“

Und wenn es hundert Bibelverse gibt, die ein bestimmtes Verhalten nahe legen: Wenn das Verhalten jetzt in dieser Situation falsch ist, dann ist es dennoch falsch. Gott, wenn es ihn gibt, wird es mir unter die Nase reiben. Und wenn ich dann sage, „aber es gab doch all diese Verse“, dann wird er mich an den alten Elternspruch erinnern: „Und wenn dein Freund sagt, spring von der Brücke, springst Du dann auch von der Brücke?“ Na also!

Ich kann das jetzt nicht ausführen, was mir an meinem Glauben so gefällt: Gott, der Niederlagen kennt. Und von dem ich leidenden Eltern, wenn sie mich fragen sollten, sagen kann: Gott weiß, was Sie empfinden, denn er hat es auch erlebt.

Ich kann einen Glauben predigen, der keine Garantie vor Schicksalsschlägen bietet, aber davon spricht, dass wir trotzdem getragen sind. Beweisen kann ich es nicht. Ich weiß nicht mal, ob ich dann noch glauben kann, wenn meinen eigenen Kindern etwas von dem passiert, bei dem ich als Notfallseelsorger anderen Eltern beistehe. Und ich hoffe, dass mein Glaube niemals auf diese Weise auf die Probe gestellt wird. Auch um meiner Kinder willen.

Aber ich weiß, was vielen Menschen den Glauben verleidet: dass „wir“ ihn zu oft mit Sollbruchstellen predigen. Ich zucke in Kindergottesdiensten zusammen, wenn der sinkende Petrus mit einer Inbrunst so gepredigt wird, dass er mit dem richtigen Glauben nicht untergegangen wäre. Ist uns klar, dass wir mit solcher Predigt Sollbruchstellen in den Glauben unserer Kinder einbauen? Und dass das irgendwann einmal Einfluss auf Kirchenaustrittszahlen haben wird?

Wie vielen von den älteren Christen ist beigebracht worden, dass das Christentum in der Evolution der Religionen die beste und moralischste und höchste sei? Kein Wunder, dass die Austrittszahlen hochspringen angesichts von sexuellem Missbrauch!

Wie oft haben wir davon gepredigt oder noch Predigten gehört, wie toll es damals in der Urgemeinde war? Und dann ging es nur noch bergab. Aber wenn wir wieder so toll wären wie in der Urgemeinde und deren Glauben hätten, dann …! Haben wir die Bibel nicht gelesen, wie die gezankt haben wie die Kesselflicker, auch in zentralen Glaubensfragen? Und was für windige Gesellen die zwölf Apostel waren?

Warum predigen wir so wenig davon, wie sehr und wie sich die Gemeinden des Alten und Neuen Testaments mit dem Glauben der Umwelt auseinandergesetzt haben? Warum z.B. Sonne und Mond in der Urgeschichte nur „das große Licht und das kleine Licht“ genannt werden? Warum nicht nur der König Ebenbild Gottes ist, sondern jeder Mensch, gleichberechtigt männlich wie weiblich (und dass damit keine abschließende Aufzählung verbunden ist, sondern eher eine inklusive Aufzählung)?
Es gibt in der Bibel im Gespräch mit ihr so viel zu entdecken. Wenn man mich fragt: so viel Freiheit und so viel Aufruf zu eigener und gesellschaftlicher Verantwortung. Soviel Aufruf, auch mit Gott zu ringen – und sich zugleich demütig auf ihn einzulassen.

Und sich auf den Zweifel einzulassen, vielleicht wie Dietrich Bonhoeffer in jenem bekannten Text „Wer bin ich?
Die vielen soziologischen Diskussionen darüber, wie man auf die Kirchenaustritte reagiert, sind sicher wichtig. Aber wir dürfen auch den Kern nicht vergessen: unseren (bibeltreuen) Glauben.
Lassen wir uns auf die Bibel ein – so wie sie ist? Predigen wir im Gespräch mit der Bibel – so wie sie ist? Und was bedeutet das für unseren Glauben? Oder haben wir eine Dogmatik im Hinterkopf, wie man auch „schon immer“ gepredigt hat, dass die Bibel sein müsste, und predigen wir diese Dogmatik? Und wehe dem, der davon abweicht?

Wo lassen wir uns jeweils auf diese Dogmatik ein, ohne uns dessen noch bewusst zu sein? Wo bauen wir darum die Sollbruchstellen im Glauben unserer Gemeindeglieder ein? Und in unseren eigenen Glauben? Wo stehen wir zu Zweifel und wo sind wir Vorbild, mit diesem Zweifel umzugehen?

Manchmal sage ich: „Wenn ich nicht mehr zweifele, dann bin ich tot.“ Solange ich lebe, werde ich zweifeln. Aber möglichst lange werde ich von meinem Glauben erzählen, der mir bisher trotz des Zweifels geschenkt ist. Und ich habe das Gefühl, dass dieses Erzählen weniger Sollbruchstellen hervorruft.
Wenn wir über Kirchenaustritte reden, lasst uns auch über Glauben und Zweifeln und solche Sollbruchstellen reden und lasst uns ehrlich bleiben angesichts dessen, was jedem von uns im Leben passieren kann.

Einmütigkeit trotz schwerster Differenzen

Predigt zum 3. Advent 2018 (Röm 15,4-13), Bad Münstereifel

Bevor ich zum eigentlichen Predigttext aus dem letzten Kapitel des Römerbriefes komme, benötigt es heute einige Vorbemerkungen über über Martin Luther und das Verhältnis von Juden und Christen.
Vielleicht wissen Sie noch davon: für Martin Luther ist die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium besonders wichtig.

Das Gesetz hatte er als Mönch gelebt. Er wollte vor Gott gut dastehen. Im Bibellesen. In den Gebeten. In dem, was er an Bußübungen tat. So sehr, dass sein Prior ihm sagen musste: „Martin Luther, wenn du so weiter machst, treibst du uns alle in den Wahnsinn. Wir können nicht mehr. Du möchtest möglichst gut bei Gott dastehen, indem du alle mönchischen Regeln erfüllst. Du zwingst uns auch, alle diese Regeln zu halten. Aber wir können es nicht in dieser Intensität.“

Und dann entdeckt Luther die Verheißung, dass Gott gnädig ist – aus sich heraus: einfach weil er ein barmherziger Gott ist. Wir können nichts tun, um Gott gnädig zu stimmen. Gott ist schon immer ein barmherziger Gott.

Und nun sieht er sich im Konflikt mit der katholischen Kirche. Für ihn ist die katholische Kirche eine Kirche, die viele Regeln aufstellt, die man alle einhalten muss.

Und davon distanziert sich Martin Luther.

Gott ist gnädig aus sich heraus. Den Himmel bekommen wir geschenkt. Es gibt nichts, was man dafür tun kann, um in den Himmel zu kommen. Wer etwas tun möchte, um in den Himmel zu kommen, wird den Himmel verfehlen.

Und nun passiert folgendes: Luther identifiziert sich selber mit Paulus, von dem er diese Erkenntnis hat. Und Luther glaubt, dass Paulus gegenüber dem Judentum in dem selben Konflikt gestanden hat wie er, Luther, im Konflikt mit dem Katholizismus steht.

Egal was in der Bibel steht: Martin Luther ist davon überzeugt, dass Juden aus Werkgerechtigkeit in den Himmel kommen wollen.

Dass auch die Juden eine solche Werkgerechtigkeit ablehnen könnten und schon immer an einen gnädigen Gott glauben, kommt für Martin Luther überhaupt nicht in den Sinn.

Luther ist in seiner Auseinandersetzung mit dem Katholizismus so gefangen, dass er selbst dann, wenn es ganz anders in der Bibel steht, trotzdem daran festhält: Juden halten das Gesetz nicht aus Liebe zu Gott, sondern um Gott dazu zu bringen dass sie in den Himmel kommen. Darum sind die Juden für Luther die allerschlimmsten Sünder. Und darum hat er auch noch in seinen allerletzten Lebenstagen dafür gesorgt, dass die letzten noch verbliebenen Juden aus dieser Umgebung vertrieben werden.

Im Blick auf die Juden hat Martin Luther die Bibel völlig falsch gelesen und falsch interpretiert. Und das schlimme ist: in der deutschen Theologie setzt sich das noch fast bis heute immer weiter fort.
Auf diese Weise gilt Paulus als der, der sich vom Juden Saulus zum Christen Paulus gewandelt hat.

Wenn man aber die Bibel ganz genau liest, fällt einem auf, dass Paulus Zeit seines Lebens Jude geblieben ist. Er hat die Synagoge besucht, wo immer er in einen neuen Ort gegangen ist.

Generell muss man festhalten, dass sich die Jünger und Schüler von Jesus niemals selber als Christen bezeichnet haben, sondern eben immer z.B. als Schüler bzw. wie wir heute noch gewohnt sind zu sagen:: als Jünger. Und sie haben nie aufgehört, sich als Juden zu empfinden.
In der englischsprachigen Theologie gibt es schon seit den 70er Jahren die sogenannte „neue Perspektive auf Paulus“, die nach intensivem Bibelstudium genau das festhalten hat:
Wir verstehen Paulus nur dann richtig, wenn wir auf die vielen Indizien achten, dass er Zeit seines Lebens Jude geblieben ist, wie im übrigen auch alle andere der ersten Schülerinnen und Schüler Jesu.

Das vorweggenommen, möchte ich nun den Predigttext vorlesen – in der Übersetzung meines alten Neutestament-Professors Klaus Wengst.

Römer 15,4-13 (Klaus Wengst)

4Alles nämlich, was zuvor geschrieben worden ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben worden, damit wir mit Beharrlichkeit und unter Ermutigung vonseiten der Schriften Hoffnung haben. 5Gott, die Quelle von Beharrlichkeit und Ermutigung, gebe es, dass ihr untereinander einmütig seid entsprechend dem Maßstab, den der Gesalbte vorgibt, 6damit ihr übereinstimmend aus einem Mund Gott loben können, den Vater Jesu, des Gesalbten, unseres Herrn. 7Deswegen: Nehmt einander auf, wie auch der Gesalbte euch aufgenommen hat – zum Lobe Gottes. 8 Ich sage ja: Der Gesalbte ist Diener des Volks der Beschneidung geworden zum Erweis der Treue Gottes, um die den Vorfahren gegebenen Verheißungen zu bestätigen; 9und die Völker loben Gott für sein Erbarmen. Wie geschrieben steht: „Deshalb will ich Dich bekennen unter den Völkern und Deinem Namen lobsingen“ (Ps 18,50). 10und wiederum sagt die Schrift: „Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk!“ (Dtn 32,43) 11und wiederum: „Preist, all ihr Völker, Adonaj! Loben sollen ihn alle Nationen!“ (Ps117,1) 12Und wiederum sagt Jesaja: „Bestand haben wird die Wurzel Isais; und der aufsteht, über Völker zu herrschen – auf ihn werden die Völker hoffen“ (Jes 11,10). 13Gott, die Quelle der Hoffnung, erfülle euch im Vertrauen auf ihn ganz und gar mit Freude und Frieden, damit ihr Kraft des Heiligen Geistes voller Hoffnung seid.

(Aus: Klaus Wengst, „Freut euch, ihr Völker, mit Gottes Volk!“ Israel und die Völker als Thema des Paulus – ein Gang durch den Römerbrief, Stuttgart, 2008)

Worum geht es in diesen Versen?

Ein wichtiges Wort ist die Einmütigkeit. Wir sollen einmütig sein.

Darüber könnte man nachdenken, völlig ohne einen Bezug auf das Judentum. In der katholischen Kirche wird damit die Ablehnung des gemeinsamen Abendmahl begründet. Wir stimmen in der Lehre nicht über ein. D. h. wir sind nicht einmütig. Deswegen dürfen wir nicht zusammen Abendmahl feiern.

Wenn man sich allerdings anschaut, um was es im Römerbrief in den Versen zuvor, kommt man zu einer völlig anderen Auffassung.

In den Versen zuvor setzt sich Paulus mit folgendem Problem auseinander: wie können Nichtjuden und Juden, die gemeinsam an Jesus glauben, zusammenleben?

Müssen Nichtjuden, die an Jesus glauben, erst Juden werden? Dürfen Juden mit diesen Nichtjuden zusammen essen, wenn die Nichtjuden sich nicht an die Reinheitsgebot erhalten?

Das spannende daran ist: Paulus findet keine klare Regel, an die sich alle halten müssen.

Sondern Paulus sagt: wer glaubt, sich an die Regeln halten zu müssen, der möge sie einhalten.

Wer glaubt, er kann an Christus glauben, ohne die Regeln einzuhalten, der kann das tun. Aber keiner von beiden soll sich dem anderen überlegen fühlen.

Beide sollen zusammen an den Gesalbten, also an Christus glauben können.

Und sie sollen Rücksicht aufeinander nehmen.

Diejenigen, die größere Freiheit empfinden, sollen nicht auf die hinab schauen, die sich strengeren Regeln verpflichtet fühlen. Und die sollen sich so verhalten, dass die anderen trotzdem kommen können ohne sich ausgeschlossen zu fühlen.

Die ersten Verse aus unserem Predigttext sind der Schluss dieser Passage.

Nichtjüdische und jüdische Schüler von Jesus sollen jeweils nach ihrer Auffassung leben und die Gesetze einhalten oder auch nicht einhalten, aber sie sollen das aus Liebe zu Jesus tun, und sie sollen trotzdem einmütig bleiben.

Einmütigkeit hat also nichts damit zu tun, ob alle einer Meinung sind. Ganz im Gegenteil: Einmütigkeit sollen gerade diese sein, die völlig unterschiedlicher Meinung sind.

Einmütigkeit sollen sie im Gotteslob zeigen.

Und Gott soll gelobt werden, weil er ein barmherziger Gott ist. Gott ist nicht erst mit Jesus barmherzig. Sondern Gott ist schon das ganze Alte Testament von der ersten Seite an ein barmherziger Gott. Dafür loben ihn die Juden. Und dafür sollen ihn auch alle anderen Völker loben. Weil Gott ein barmherziger Gott ist. Und weil Gott ein barmherziger Gott ist sind wir voller Hoffnung.

Aber das bedeutet eben nicht – wie Christen so lange gepredigt haben -, dass die Juden davon ausgeschlossen sind. Oder dass Juden nicht an den barmherzigen Gott glauben.

Sondern: schon Jesaja hat hat an den barmherzigen Gott geglaubt. Ganz Israel hat an den barmherzigen Gott geglaubt. Unter diesen barmherzigen Gott werden auch die Völker glauben. Und wir heute glauben auch an diesen barmherzigen Gott und deswegen sollen wir einstimmen in das große Gotteslob: preist ihr Völker den Herren. Hört nicht auf Gott zu loben. Alle Nationen sollen ihn loben. Gott ist treu. Er verlässt sein Volk nicht. Und er wird auch uns nicht verlassen, die wir zu seinem Volk hinzugekommen sind.

Wie anders würde die Welt aussehen, wenn Christen das immer ernst genommen hätten.

Wie anders würde die Welt aussehen, wenn Christen immer den barmherzigen Gott gepredigt hätten.
Stattdessen haben Christen gerne den Richter Gott gepredigt-und dann gleich selber den Richter gespielt. Sie selber, die Christen, waren dann immer die guten. Und die anderen waren die bösen. Die Juden waren die, die als besonders böse galten.

Und die lutherische Auslegung hat dazu erheblich beigetragen.

Was haben wir Christen an dieser Stelle für Schuld auf uns geladen!

Wie konnte man Paulus nur so schrecklich missverstehen!

Paulus predigt von der Barmherzigkeit und der Einmütigkeit – gerade auch zwischen Juden und Nichtjuden in der Nachfolge Jesu. Und Christen hatten nichts besseres zu tun, als Juden aus der Gemeinschaft auszuschließen und zu verfolgen.

Wenn wir jetzt auf Weihnachten zu gehen und uns darauf freuen, sollten wir immer wissen: wir freuen uns auf die Geburt des Juden Jesus.

Wir glauben an einen Jesus, der zeitlebens Jude geblieben ist.

Und wir, die Menschen aus den Völkern, dürfen auch an diesen barmherzigen Gott glauben, an den Jesus geglaubt hat.

Weihnachten nimmt uns hinein in den Glauben an den barmherzigen Gott.
Wir dürfen uns gegeneinander annehmen.
Das betrifft uns in unserem Verhältnis zum Judentum.
Aber mit Juden haben wir hier weniger zu tun. Es betrifft auch uns im Verhältnis zum Katholizismus.

Darum können wir z.B. andere Konfessionen gar nicht vom Abendmahl ausschließen. Wir sind gehalten, sie einzuladen.
5Gott, die Quelle von Beharrlichkeit und Ermutigung, gebe es, dass ihr untereinander einmütig seid entsprechend dem Maßstab, den der Gesalbte vorgibt, 6damit ihr übereinstimmend aus einem Mund Gott loben können

Hier steht, dass wir gemeinsam Gott loben sollen. Und in den Versen direkt vor unserem Predigttext finden wir, dass wir auch zu den Mahlfeiern einmütig kommen sollen.

Dieser Gott ist es, dem wir unsere Lieder singen, den wir rühmen, den wir loben: wegen seiner Barmherzigkeit.

Darum sind die Lieder, die wir noch in diesem Gottesdienst singen werden, auch im tiefsten Sinne Adventslieder. Auch wenn die Melodie möglicherweise sich gar nicht so adventlich oder weihnachtlich anhört.
Aber es ist das Lob des barmherzigen Gottes, der seine Barmherzigkeit im Gesicht des Kindes in der Krippe zeigt und auf diese Weise seinen Frieden zu uns bringen möchte.

Bernd Kehren

Wenn Kinder sterben

Wenn Kinder sterben

Unsere letzten Jahre in Deutschland sind insgesamt von Frieden und Wohlstand geprägt. Die Medizin hat einen hohen Standard. Und so leben wir oft, als könne uns nichts geschehen. Wir wissen vom Tod, aber er geschieht oft im Heim oder im Krankenhaus und erscheint weit weg. Es passiert anderen, nicht uns.

Und so fallen wir aus allen Wolken, wenn wir selber davon betroffen sind. Der Tod von Kindern berührt uns besonders. Ist uns bewusst, wie oft das geschieht, auch vor der Geburt?

Statistisch werden jedes Jahr knapp 700 000 Kinder in Deutschland geboren. Aber wussten Sie, dass 30-40 % aller Schwangerschaften die 12. Woche nicht erreichen, weil der Embryo nicht lebensfähig ist? Das wären knapp 400 000 Fälle in Deutschland jedes Jahr. Hinzu kommen Schwangerschaften, die als verspätete Regelblutung unerkannt bleiben.

Manchmal ist das so früh, dass sich eine persönliche Betroffenheit nicht zeigt. Oftmals hat man sich aber schon in bunten Bildern ausgemalt, wie es weiter geht: Wie soll das Kinderzimmer aussehen. Wie lange bleibt man zu Hause? Viele Fragen werden durchgespielt.

Und dann wird diese Hoffnung durch die Worte der Frauenärztin jäh zerstört. Wichtig zu wissen: Diese Kinder werden durch unseren Kliniken beerdigt, egal wie klein sie sind. In Euskirchen werden sie zweimal im Jahr gemeinsam beerdigt, falls die Eltern nicht eine individuelle Lösung gefunden haben, etwa auf einem vorhandenen Grab der Großeltern.

Der weltweite Gedenktag am 2. Sonntag im Dezember zeigt uns: Wir sind damit nicht allein. Wir dürfen auch um diese Kinder trauern – gemeinsam mit all den Eltern, deren Kind das Licht der Welt erblickt hatte, bevor das Schreckliche eintrat.

Dieses Jahr findet die Gedenkfeier in Euskirchen am 9. Dezember um 16 Uhr in St. Matthias (Franziskanerplatz 1) statt unter der Überschrift: „Heile mein gebrochenes Herz!“

Die Partnerschaft der Eltern wird durch ein solches Ereignis auf eine harte Probe gestellt. Männer trauern oft anders als Frauen. Die Gedenkfeier ist ein guter Ort, um gemeinsam zu trauern. Es tut gut, solche Orte immer wieder bewusst aufzusuchen. Denn dann können wir auch gemeinsam all die vielen anderen Orte des Lebens suchen, die uns gut tun. So bleibt die Trauer ein wichtiger Teil unseres Lebens, gibt aber zugleich Raum für all die anderen wichtigen und auch schönen Teile, die unser Leben ausmachen.

Bernd Kehren, Pfarrer

2. Vorsitzender von NEST e.V.


  • Diese Kolumne erscheint seit Anfang 2015 im Abstand von vier Wochen im Euskirchener Wochenspiegel. Wir danken der Redaktion für diese Möglichkeit, auf NEST e.V. aufmerksam zu machen.

Suchet der Stadt bestes…

Suchet der Stadt bestes…

Warum man seine Wut herausschreien darf, ihr aber nicht freien Lauf lassen sollte.

Predigt am 21.10.2018
in der ev. Kirche zu Bad Münstereifel
(21. Sonntag nach Trinitatis) „Suchet der Stadt bestes…“ weiterlesen

Gottes Bibel – Inspiration und Widersprüche

Gottes Bibel – Inspiration und Widersprüche

Die Abfrage

Ich würde gerne einmal abfragen:

  • Wer glaubt, dass die (ganze) Bibel Gottes Wort ist?
  • Wer glaubt, dass die Bibel völlig ohne Widersprüche ist?
  • Wer glaubt, dass die Bibel von Menschen gemacht und daher Widersprüche enthält?
  • Und wer glaubt, dass sich in diesem Menschenwort Gottes Wort wiederfindet?
  • Und dieses Gotteswort, dass man dann findet: Wer glaubt, dass das ohne Widersprüche ist und unmittelbar befolgt werden muss?

Wie denken wir über Gott?

In “Kurz gefragt” (Chrismon 02/2008) fragt ein Leser danach, warum Gott die bösen Menschen in der Sintflut mit dem Tode bestraft und sich damit selber nicht an das Tötungsverbot hält, dass er nun selber erlässt.

Burkhard Weitz beginnt seine Antwort darauf mit den Worten:

„Die Bibel ist voller Widersprüche. Sie ist eben nicht verbal inspiriert, sondern von Menschen geschrieben.“

Dieser Satz hat eine Voraussetzung: Gott ist ohne Widersprüche. Widersprüchliches muss dann vom Menschen kommen.

Was wäre eigentlich, wenn wir erkennen, dass Gott sehr wohl widersprüchlich sein kann? Unfassbar? Rätselhaft? Manchmal auch brutal?

Darum hat Karl Barth von Gott als dem „ganz anderen“ gesprochen. Dietrich Bonhoeffer sagte: „Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht.“

Wer über Gott spricht, musste sich schon immer darauf einlassen, wie rätselhaft und unfassbar Gott ist. Gibt es Gott überhaupt? Wie gehen Menschen mit ihrem Zweifel um?
Ist die Bibel wirklich Gottes Wort?

Gottesbeweise

Als im Judentum die (hebräische) Bibel ins Griechische übersetzt werden musste, sagte die Legende, dass 70 Gelehrte in sieben Monaten die ganze (hebräische) Bibel übersetzte hätten – und Gottes Geist habe dafür gesorgt, dass alle diese Übersetzungen aufs Wort übereinstimmten. Auf diese Weise greifen Gottesbeweis und Bibelbeweis ineinander: Menschen machen Fehler, daher kann eine perfekte Bibel nur von Gott kommen. Diese Übersetzung ist zumindest im Blick auf die Übereinstimmung perfekt, also gibt es Gott.

Auch später wurde immer wieder versucht, nach bestimmten logischen Regeln einen Gott zu konstruieren, der in sich widerspruchsfrei ist und als „bewiesen“ gelten kann. Spätestens bei Kant mussten wir aber anerkennen, dass Gott sich der Beweisbarkeit entzieht.

Ich finde das auch unmittelbar einleuchtend. Nehmen wir einmal an, wir könnten Gott beweisen. Die logische Folge ist: Wir wären mehr als Gott. Wir könnten nicht nur den Beweise an sich führen, wir wären sogar in der Lage zu beurteilen, ob diese Beweisführung stimmig ist. Wer einen solchen Beweise führen kann, steht über Gott. Gott wäre dieser Beweisführung unterworfen. In der Konsequenz hätten wir bewiesen, dass wir über Gott stehen. Wir hätten bewiesen: Gott ist nicht Gott.

Darum würde ich zugespitzt sogar sagen: Jeder Versuch, Gott in irgendeiner Weise zu beweisen, ist Gotteslästerung. Gott erweist sich selber. Oder gar nicht. Aber wir können ihn nicht beweisen.

Frühere Auffassungen über Bibel und Welt

Lange Zeit war man tatsächlich der Auffassung, dass die Bibel die Realität in allen Punkten richtig und widerspruchsfrei darstellt – und dass man die Bibel jeweils auch richtig interpretiert. Falls Beobachtungen in der Natur dieser Auffassung widersprachen, gab man der Auffassung der Bibel den Vorrang.

Auch wenn wir heute wissen, dass die Babylonier zu der Zeit, in der die jüdische Gelehrtenschicht dort im Exil war, Planetengeschwindigkeiten messen und grafisch darstellen konnte (darüber gibt es Keilschriftentexte, die dies dokumentieren), war man lange Zeit der Auffassung, die Bibel würde die Erde als eine Scheibe beschreiben. So interpretiertem an etwa Bibelverse, in denen von den vier Enden der Erde die Rede ist.

Dabei merken wir: Ob das wirklich so in der Bibel steht und wirklich so verstanden werden muss, steht gar nicht fest. Dennoch war man der festen Überzeugung, die Erde sei eine Scheibe – weil es doch (angeblich) so in der Bibel steht.

Kritische Bibelmethoden

Irgendwann war diese Sichtweise nicht mehr wirklich zu halten. Mit Methoden der Literaturwissenschaft erkannte man Wachstumsprozesse. Man begann die alten Handschriften der Bibel zu erforschen, entdeckte unterschiedliche Textfassungen und begann, die Bibelhandschriften zu sammeln, auszuwerten, zu sortieren. Der Forschungszweig, der sich mit der Analyse und dem Vergleich der erhaltenen Abschriften befasst, nennt sich Textkritik.

Im Rahmen dieser Methoden wurden Regeln erarbeitet, an denen man sich orientieren kann, welche von unterschiedlichen Textfassungen wohl die ursprünglichere war. Da man beim Abschreiben eher vereinfacht, gelten kompliziertere Textformen als wahrscheinlich ursprünglicher.

Dann werden immer wieder bestimmte Begebenheiten an mehreren Stellen überliefert. Das Leben und Wirken Jesu wird in vier Evangelien dargestellt, die sich auf charakteristische Weise unterscheiden. Es begann eine Forschung, die aus diesen unterschiedlichen Darstellungen Theorien entwickelte, wie sozusagen eine Urfassung des Evangeliums ausgesehen haben könnte. Auch wenn diese Theorien immer hypothetischer wurden, hatte man das Gefühl, auf diese Weise näher an eine göttliche Urfassung heran zu kommen. Fehler, Widersprüche und Ähnliches wurden dann dem menschlichen Entstehungsprozess zugeordnet. Unhinterfragt galt aber immer noch der Grundsatz: Wenn Gott der Urheber ist, dass ist dieser Text wahr und beschreibt auch die Realität richtig.

Die Kurzformel dazu lautet: Gottes Wort im Menschenwort. Wenn man ganz ehrlich ist, war das auch ein bewährtes Mittel, um sich von unliebsamen oder schwer verständlichen Texten zu trennen. Böse ausgedrückt: Was einem nicht passte, galt als zeitbedingt, von Menschen jener Zeit verfasst – und hat heute keinerlei Gültigkeit mehr.

Wissenschaft

Auch die Naturwissenschaften begannen sich neu zu entwickeln. Immer genauer konnten Naturphänomene beschrieben und genutzt werden. Dampfmaschine, elektrischer Strom, Raumfahrt: Die Kosmonauten im Himmel fanden nichts, was auch nur entfernt zu den Vorstellungen eines göttlichen Himmels über den Wolken passte. Immer wieder traf man auf Behauptungen, die Wissenschaft habe Gott widerlegt.

Widerstand

Damit war für viele Christen eine Grenze überschritten. In der Opposition gegen solche Auffassungen wurde als Gegenüber zum Deutschen evangelischen Kirchentag der Gemeindetag unter dem Wort gegründet. Bis heute legen Vertreter dieser Richtung Wert darauf, dass die ganze Bibel Gottes Wort sei.

Eine neue Auffassung

Dem würde ich gerne eine neue Auffassung von Inspiration entgegenstellen:

Ich halte die ganze Bibel für inspiriert. Aber nicht so, wie man die Bibel gerne hätte, sondern genau so, wie wir sie haben: Ohne ein einziges Original. Zahlreiche Handschriften, die immer wieder voneinander abweichen. Vier Evangelien, die in wichtigen Details unvereinbar sind. Dazu gehören die beiden Abstammungslisten für Jesus, aber auch der Zeitpunkt der Kreuzigung. Dazu gehört die Erzählung von Noah und der Arche, in der merkwürdigerweise fast alles irgendwie doppelt vorkommt. Und vieles mehr.

Einige Beispiele würde ich Ihnen vorstellen ….

Dazu gehören für mich auch die unterschiedlichen Bibelfassungen und Übersetzungen. Die Biblia Hebraica und das NT Graece ebenso wie die Einheitsübersetzung, den Luthertext in den unterschiedlichen Ausgaben oder die Bibel in gerechter Sprache, um nur einige zu nennen.

Gott spricht zu uns durch die Bibel. Die Bibel ist sein Buch.

Aber hat irgendjemand Gott mal gefragt, ob er sein Buch wirklich ohne Widersprüche geplant hatte? Als eine vollständige Beschreibung der Realität? Die Bibel ist zugegeben ziemlich dick – aber dafür ist sie nicht dick genug.

Philosophie?

Menschen, die die Widerspruchsfreiheit der Bibel behaupten, verweisen gegenüber der Wissenschaft gerne auf Kolosser 2,8: „Seht zu, dass euch niemand einfange durch die Philosophie und leeren Trug, die der Überlieferung der Menschen und den Elementen der Welt folgen und nicht Christus.“

In der Regel setzen sie sich damit von der Evolutionstheorie ab, von kritischer Bibelwissenschaft und vielem mehr. Was ihnen aber in der Regel nicht auffällt: Wie sie selber philosophischen Auffassungen folgen, die sich so oder so einfach nicht in der Bibel selber finden, sondern der (Viel-) Gestalt, in der sich die Bibel präsentiert, widersprechen.

Eine solche Auffassung ist die Konstruktion Gottes als eines höchsten Gutes. Gott muss dann als allmächtig gedacht werden. Was er erschafft, ist nicht nur gut, sondern perfekt. Wenn Gott ein Buch herausgibt, dann muss es notwendig ohne Widersprüche sein und die Realität möglichst genau abbilden. Gott erscheint in dieser Vorstellung wie ein seelenloser historischer Bürokrat. Aber ist es demgegenüber so völlig abwegig, sich Gott als jemanden vorzustellen mit Fantasie, der gute Dichtung mag, vielleicht sogar Kabarett? Es ist eine philosophische Annahme, dass die Welt genau so erschaffen wurde, wie es im ersten Kapitel der Bibel beschrieben ist. Wer genau hinschaut, und sich ein wenig über die Hintergründe informiert, wird feststellen, dass sich das Judentum in einem wunderschön gefassten Text mit der babylonischen Mythologie, ihrem hohen Grad an Wissenschaftlichkeit und dennoch einem faszinierenden Hang zum Aberglauben auseinander setzt. Kern dieser Behauptung ist die Beobachtung, dass dieses Kapitel am vierten Schöpfungstag die Gottesnamen „Sonne“ und „Mond“ vermeidet und sie als „großes Licht und kleine Laterne“ bezeichnet. Uns fällt das nicht direkt auf, aber die ersten Zuhörer dieses Textes in Babylon wussten natürlich, dass der babylonische König sich als einzige Ebenbild von Gott Sonne ansah und Angst hatte vor Gott Mond. Nichts da, sagt das erste Kapitel der Bibel, Sonne und Mond sind keine Götter, sondern so etwas wie Lampen am Himmel. Und Ebenbilder sind wir alle. Und zwar gleichberechtigt Männer wie Frauen.

Das hat mindestens an diesen beiden Stellen Szenenapplaus oder wenigstens ein deutliches Schmunzeln gegeben, so stelle ich mir das jedenfalls vor.

Und für mein Empfinden sind wir damit wesentlich näher am Bibeltext als wenn wir ihn zu einer Offensive gegen die Evolutionstheorie missbrauchen.

Er erinnert uns an unsere Verantwortung, jede und jeder an seiner Stelle. Denn Ebenbilder Gottes sind wir nun alle. Wie der König steht jeder Mensch in einer besonderen Verantwortung für das, was er tut und wie er oder sie anderen Menschen begegnet. Falls dabei bei Ihnen sofort Assoziation zum großen Weltgericht in Matthäus 25 entsteht („was ihr diesem Geringsten (nicht) getan habt, habt ihr mir (nicht) getan“), so ist das durchaus beabsichtigt. Aber wie nehmen wir diese Verantwortung wahr?

Kein Pfadfinderhandbuch

Sind Tick, Trick und Truck noch ein Begriff? Immer, wenn sie mal nicht weiter wissen, können sie zu ihrem Pfadfinderhandbuch greifen. Sie müssen nur die richtige Seite aufschlagen und den Algorithmus abarbeiten, der dort beschrieben ist. Dann verhalten sie sich richtig und keiner kann ihnen etwas anhaben. Verantwortung brauchen sie dazu nicht. Sie müssen nur wissen, wo die Anleitung steht. Dann ist alles gut. Tick, Trick und Track sind in diesem Sinne irgendwie Diener, die Befehle ausführen, aber sie tragen keine eigene Verantwortung.

Manche verwechseln die Bibel mit einem solchen Pfadfinderhandbuch. Wenn sie einen Vers nennen können, der zu ihrem Verhalten passt, dann ist ihr Verhalten damit legitimiert.

Demgegenüber mutet uns Jesus Verantwortung zu: Wenn Ihr ein Ebenbild Gottes seht, dann behandelt es so. Und wenn es ein Bettler oder ein Gefangener wäre.

Wenn ein bestimmtes Verhalten richtig und vernünftig ist, dann ist es richtig und vernünftig, auch wenn es nicht in der Bibel steht. Und wenn ein Verhalten nicht richtig ist, dann wird es nicht besser, wenn es durch einen Bibelvers legitimiert werden könnte. Und wenn es Tausend Verse gäbe, die ein bestimmtes Verhalten gut heißen, aber jetzt, in dieser Situation ist es falsch, dann bliebe es in dieser Situation auch dann falsch, wenn es zweitausend Verse dazu gäbe.
Und die Verantwortung tragen jeweils wir selber. „Aber der Peter hat doch gesagt!“, haben wir uns herauszureden versucht. Und die Mutter oder der Lehrer oder… holte uns dann oftmals mit den Worten : „Und wenn Peter sagt, ‚du springst aus dem fünfte Stock‘, dann machst Du das auch?!“

Die Bibel ist dialogisch

Das haben wir Christen vom Judentum lernen dürfen.  In der jüdischen Bibelauslegung wissen wir, dass im Talmud ganz unterschiedliche Toraauslegungen überliefert werden konnten. Rabbi A hat gesagt, und Rabbi B hat gesagt. Und die Leserinnen und Leser der Talmudauslegung dürfen sich ein eigenes Bild machen. „Ihr habt gehört, dass gesagt ist, ich aber sage euch…“ ist die entsprechende Sprachfigur, die sich dazu im Neuen Testament erhalten hat. Es geht nicht um ein Überbieten, sondern darum, in einen Traditionsprozess neu einzutreten, in dem in der jeweiligen Gegenwart neue Entscheidungen getroffen werden müssen.

In diesem Sinne ist und bleibt die Bibel verbindliche Richtschnur für unseren Glauben und unser Leben. Aber wir sind nicht gedacht als seelenlose Befehlsempfänger, sondern als Gottes Ebenbilder, die Verantwortung übernehmen und mit Gott und anderen Ebenbildern Gottes im Gespräch sind.

Die Liebe

Ein Kriterium nennt die Bibel selber. Das Hohelied der Liebe endet in 1. Kor 13,13 mit den Worten: „… aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ Wenn Glaube, Liebe und Hoffnung in Konkurrenz geraten, ist die Liebe das Kriterium, nicht der Glaube und nicht die Hoffnung.

Und nun?

Wir diskutieren (ggf. in Kleingruppen),

  • wie wir unter diesen Umständen unserer Verantwortung gerecht werden, wenn wir etwa auf Röm 1,26 und 27 treffen,
  • ob diese Auffassung von Inspiration genügend überzeugend ist, um im Dialog mit „Bibeltreuen“ hilfreich zu sein,
  • wie sinnvoll diese Überlegungen im Blick auf das Gottbild sind,
  • Hat sich in Bezug auf die Anfangsfragen etwas verändert hat?

Was fehlt noch?

  • Anknüpfungspunkte an die Theologie von Ulrich Bach.
  • Konkrete Hinweise auf aktuelle Exegese (vgl. Klaus Wengst)
  • ggf. Musik nach dem aktuellen Kirchentagsliederbuch.

Bernd Kehren

Namensschilder bei Sitzungen

Kennt Ihr das auch?

Für eine Sitzung hat jemand Namensschilder gefertigt, oben gefalzt, vorne steht der Name. Wer gegenüber sitzt, kann den Namen gut lesen. Von der Seite hat man keine Chance. Und wenn das Papier nicht dick genug war, bleiben sie auch nicht stehen, sondern fallen in sich zusammen.

Darum drucke ich die Namen am liebsten zweimal: Einmal rechts und einmal links. Davon passen zwei übereinander, so dass ich das Blatt DIN-A-4 der Länge nach zerteile und dann in der Mitte knicke.

Ein Namensschild

Dieses Blatt stelle ich so vor mir auf, dass alle anderen das Blatt vor mir so sehen, wie auf dem Bild hier, und dass ich dahinter der Einzige bin, der es nicht lesen kann. Und das Blatt wird auch nicht zusammenfallen.

Und wer das einfach drucken will, für den gibt es eine Excel-Tabelle für die Namen und ggf. eine Zusatzangabe und ein Word-Dokument für die Serienbrieffunktion.

Als erstes trägt man in der Excel-Tabelle die Namen und ggf. eine Zusatzangabe ein und speichert sie ab.

Im Word-Dokument (hier: Office 2010) wählt man oben im Reiter „Sendungen“ zunächst die Excel-Tabelle aus („vorhandene Liste auswählen“) (1.),

Vorgehen in Word 2010

wählt dann unter „Empängerliste bearbeiten “ die betreffenden Einträge aus (2.)
und druckt diese dann unter „Fertigstellen und Zusammenführen“ aus (3.).

Das Word-Dokument und die Excel-Tabelle findet Ihr hier:

Viel Vergnügen und viel Erfolg mit der neuen Art, Namensschilder zu erstellen.

Vorsorge für ein „Leben bis zuletzt“

Vorsorge für ein „Leben bis zuletzt“

„Schon wieder ist ein guter Freund gestorben!“
Bei einem Spaziergang mit zwei älteren Damen klagt die eine, wie wenig Freunde ihr geblieben sind.
„Ab einem bestimmten Alter sollte man sich um jüngere Freunde kümmern!“, bemerkte ich. Die beiden Damen stutzen.
„Ja“, sage ich, „denn sonst steht man irgendwann ganz alleine da!“

So haben die beiden Damen das noch nie gesehen. Man verlässt sich auf seine Familie, aber die wird auch nicht jünger. Kinder und Enkel ziehen oft weg oder werden auch älter und weniger belastbar. Irgendwann gibt es oft niemanden mehr, der sich um einen kümmert oder den man um Hilfe bitten kann.

Wer immer nur die alten Freundschaften pflegt, riskiert der Letzte zu sein, der irgendwann „das Licht ausmacht“.

Wie kommt das eigentlich? Die meisten Menschen legen doch etwas auf die „Hohe Kante“, um in Notfällen daraus zurück greifen zu können. Wir schließen Versicherungen ab, falls etwas passiert. Viele haben auch eine Patientenverfügung und eine Vorsorgevollmacht, um noch selbst Entscheidungen für ein eventuelles Lebensende zu treffen.

Aber wie sorgen wir vor für die Zeit davor? Wen können wir um Hilfe bitten? Und warum sollte er für mich da sein – wenn er mich nicht kennt?

Wir wollen alle möglichst selbstständig und autonom leben. Helfen vielleicht gerne anderen. Lange Zeit geht das gut. Aber oft verlernen wir dabei, wie man selber um Hilfe bittet.

Dabei sind wir – das klingt nur im ersten Moment paradox – im Alter oder bei Krankheit auf Hilfe angewiesen, um möglichst lange selbstständig leben zu können. Wie sorgen wir also hier vor?

Indem wir uns, wenn wir noch fit genug sind, umschauen, wer unsere Unterstützung benötigen könnte. Da ist eine junge Familie im Umkreis, die eine „Wahl-Oma“ oder einen „Wahl-Opa“ gut brauchen könnte. Manche jungen Eltern würden sich freuen, wenn sie mal einen Nachmittag oder Abend „frei“ haben. Da braucht ein Nachbar, der berufstätig ist, mittags einen „Gassigeher“ für den Hund. Warum nicht einem Flüchtling bei dem Sprachkurs helfen oder eine Wohnung an eine alleinerziehende Mutter vermieten? Man kann sich im einem sozialen Bereich engagieren oder in Vereinen mitarbeiten.

Ein gutes Motiv für solche Dienste sind Mitgefühl und Nächstenliebe. Aber auch Egoismus darf ein Motiv sein: Wir beteiligen uns an Netzwerken und hoffen, dass sie auch uns einmal tragen, wenn es nötig wird.

Bernd Kehren
2. Vorsitzender von NEST e.V.


  • Diese Kolumne erscheint seit Anfang 2015 im Abstand von vier Wochen im Euskirchener Wochenspiegel. Wir danken der Redaktion für diese Möglichkeit, auf NEST e.V. aufmerksam zu machen.

Trauer ist schön!

Trauer ist schön!

„Herr Pfarrer, ich werde mit meiner Trauer nicht fertig! Ich muss so weinen!“, so beginnt manchmal ein Seelsorgegespräch. Immer öfter wird ein trauernder Mensch schon nach wenigen Wochen vom Hausarzt sogar in die Psychiatrie überwiesen.

Viele Menschen wollen Trauer unbedingt vermeiden. Und wenn das nicht gelingt, halten sie sich für krank. Dabei ist Trauer ein gutes menschliches Gefühl. Da hat ein Mensch eine Riesenlücke hinterlassen. Und nun reagieren wir auf einen Abschied. Auf dieser Welt wird es kein Wiedersehen geben. Und doch:

Da gibt es einen Menschen, der mir so viel bedeutet – über den Tod hinaus! Da soll ich nicht traurig sein? Dieser Mensch hinterlässt eine unfüllbare Lücke! Und da soll ich nicht trauern?

Es gibt nur eine Möglichkeit, nicht mehr zu trauern: Ich müsste diesen Menschen vergessen. Wollen Sie einen Menschen vergessen, mit dem sie so viel gemeinsam erlebt haben? In guten wie in schlechten Tagen? Niemals!

Darum schäme ich mich meiner Tränen für diesen Menschen nicht. Der Tod konnte ihn mir nehmen. Aber er kann nicht verhindern, dass ich mich erinnere und dass ich für diesen Menschen meine Tränen vergieße. Jede einzelne Träne verbindet mich mit dem Menschen, um den ich trauere. Und dann denke ich daran, was wir gemeinsam erlebt haben. Ich erinnere mich, was dieser Mensch gesagt und gedacht hat. Ein Lächeln kommt auf meine Lippen. Er war doch einfeiner Kerl! Oder auch: Sie war doch ein feiner Kerl. Was haben wir nicht alles gemeinsam erlebt!

Dietrich Bonhoeffer empfahl, diese kostbaren Erinnerungen sorgfältig aufzubewahren. Wertvolle Dinge gibt man in einen sicheren Tresor. Nur zu besonderen Gelegenheiten holt man sie wieder hervor. Erinnerungen sind kostbar.

Und in der Zwischenzeit werde ich auftanken, mir auch etwas Schönes gönnen und das Leben genießen. Der oder die Verstorbene würde es mir gönnen. „Lebe Dein Leben!“, so ruft er mir zu!
Und ich lebe mein Leben. Und wenn ich an ihn denke, dann vergieße ich eine Träne. Und ich lächle für alles, was wir gemeinsam an Schönem erlebt haben. Ich will nicht aufhören zu trauern. Denn ich will ihn oder sie nicht vergessen. Wenn ich gut für mich sorge, wird meine
Trauer sich verändern. Und ich werde an den Punkt kommen, an dem ich sagen kann: Trauer ist
schön.

Bernd Kehren, Pfarrer

2. Vorsitzender von NEST e.V.


  • Diese Kolumne erscheint seit Anfang 2015 im Abstand von vier Wochen im Euskirchener Wochenspiegel. Wir danken der Redaktion für diese Möglichkeit, auf NEST e.V. aufmerksam zu machen.

Schwangerschaft – Abtreibung – Fehlgeburt

Gerade werden die Zahlen für das erste Quartal 2018 veröffentlicht.
In der Pressemitteilung Nr. 207 vom 13.06.2018 des statistischen Bundesamtes heißt es: „Im ersten Quartal 2018 wurden rund 27 200 Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland gemeldet. Wie das Statistische Bundesamt weiter mitteilt, waren das 2,2 % mehr als im entsprechenden Vorjahreszeitraum.“

Die einen beklagen die Zunahme, andere weisen darauf hin, das die Geburten aber um etwa 7 % zugenommen hätten. Anteilmäßig hätten die Abtreibungen aber abgenommen.

Zu meinen eigenen beruflichen Aufgaben gehört es, die Sammelbestattungen der Tot- und Fehlgeburten eines Krankenhauses zu gestalten. Daher weiß ich, dass Fehlgeburten gar nicht so selten sind. Aber wie verhalten sich die Zahlen zueinander?

Für das Jahr 2016 liegen vergleichbare Zahlen vor.

Lebendgeborene:   792 131 
Totgeborene:        2 914
Abtreibungen:      89 721

Summe:                          893 766

„Man schätzt, dass dreißig, vielleicht sogar bis zu vierzig Prozent aller Schwangerschaften in den ersten zwölf Wochen in einem Abort enden“, sagt Christian Albring, Vorsitzender des Berufsverbands der Frauenärzte. (www.welt.de, abgerufen am 22.6.2018) Es gibt andere Schätzungen, die liegen doppelt so hoch. Geht man also davon aus, dass 70 Prozent der Schwangerschaften diesen Punkt erreichen, dann wären das im Jahr 2016 ca. 894000 Schwangerschaften gewesen. Dann müssten die übrigen 30 Prozent etwa 383 000 Aborten, also Fehlgeburten in den ersten 12 Schwangerschaftswochen entsprechen.

Diese Zahlen von 2016 sollte man noch einmal gegenüber stellen:

Lebendgeburten: 792 000
Abtreibungen:    90 000
Aborte:         383 000

Ich stehe auf dem ethischen Standpunkt, dass Abtreibungen möglichst vermieden werden sollten. Allerdings kann man das werdende Leben nur mit der Mutter schützen und nicht gegen sie. Die deutsche Beratungsregel scheint mir in diesem Zusammenhang eine der besten Lösungen der Welt zu sein.

Dennoch machen mich diese Zahlen nachdenklich. Manche Abtreibungsgegner fordern, dass der Staat jedes werdende Leben schützen müsse. Aber ein Drittel aller Schwangerschaften kann der Staat schon allein deswegen nicht schützen, weil dieses Leben auf natürlichem Wege ein trauriges Ende nimmt, ca. 383 000-mal im Jahr 2016. Manche Mutter hat es für eine verspätete Regelblutung gehalten. In vielen Fällen hatten die Eltern aber bereits das schlagende Herz auf dem Ultraschall sehen können. Ich erlebe immer wieder die Trauer mit, wenn dieses winzige Herz zu schlagen aufhörte und die Hoffnung der werdenden Eltern zerstörte. Es gibt viel mehr betroffene Eltern als man denkt. Man sollte um diese immense Zahl wissen, damit man sich nicht so einsam fühlt, wenn man selber betroffen ist.

Andererseits: Das ist mehr als das Vierfache der Zahl, mit der die Abtreibungen beziffert werden.

Was bedeutet das für die ethische Debatte um die Abtreibungen? Wenn ich mit Beraterinnen aus der Schwangerschaftskonfliktberatung spreche, sagen sie alle: Keine Frau treibt leichtfertig ab.

An dieser Stelle: Den Vergleich mit der Judenvernichtung oder dem Euthanasieprogramm der Nazi halte ich für infam. Im Blick auf die Abtreibungen gibt es keinerlei Bestrebung, Frauen massenweise zu einer Abtreibung zu veranlassen. Es gibt in Deutschland kein staatliches Programm, um massenweise Kinder abzutreiben. Hinter jeder Abtreibung steht eine einzelne Frau, die sich selber nicht in der Lage sieht, die Schwangerschaft auszutragen, aus welchen Gründen auch immer. Sie sieht für sich in diesem Augenblick keine andere Möglichkeit als den Schwangerschaftsabbruch. Das ist schwer genug.

Dennoch ist jede Abbtreibung eine zu viel. Allerdings erscheint mir die Problematik in einem anderen Licht, wenn ich die Zahl der Abtreibungen mit der Zahl der Aborte in den ersten 12 Schwangerschaftswochen vergleiche. Viermal mehr Schwangerschaften enden durch einen solchen Abort. So brutal ist die Natur. Als frommer Mensch sage ich: Da verstehe ich meinen „lieben“ Gott nicht mehr.

Habe ich mich verrechnet? Mir erscheint die Zahl als sehr hoch. Aber es scheint mir, als könne man mit dieser Zahl im Hinterkopf etwas gelassener in die Diskussion um Abtreibungen gehen. Wir können nicht jedes lebende Leben retten. In manchen Fällen wird es auch besser sein, dass man es nicht retten kann, angesichts dessen, was es in seinem irdischen Leben hätte erdulden müssen. Wer einmal das Leid miterlebt hat, das die Eltern eines Kindes durchmachen, das völlig gesund war und wegen eines Knotens in der Nabelschnur nur tot zur Welt kam, der wird auch angesichts der Zahl der Abtreibungen nicht gleichgültig werden. Aber er wird anders auf die Not der Schwangeren blicken können, die sich zu diesem Schritt entscheiden. Er oder sie wird nicht zu haltlosen „Fetizid“-Vorwürfen greifen müssen. Und sie wird betroffenen Frauen und Paaren anders zur Seite stehen können.

 

 

 

 

Von Kindern Trauern lernen

Was Erwachsene in der Trauer von Kindern lernen können

Alice steht traurig neben Opas Sarg. Sie spürt seine kalte Hand. „Opa atmet nicht mehr. Das Herz schlägt nicht mehr. Darum ist er auch nicht mehr warm. Opa lebt nicht mehr. Opa ist tot.“ Mit einfachen Worten erklärt ihre Tante, was mit Opa ist.

Es ist gut, dass Alice mit ihren Händen ‚be-greifen‘ kann, was sich mit Opa verändert hat. Im Sarg liegt nicht der Opa, an den sie sich ankuscheln konnte, der ihr vorlas und mit ihr spielte. Im Sarg liegt der kalte tote Opa. Alice begreift das, wenn sie ihn berührt. Sie wird keine Angst haben, dass er im Sarg erstickt. Die Eltern sind traurig, Alice ist traurig. Und dann dreht sich Alice um, geht nach draußen und spielt! „Du kannst doch nicht einfach spielen, wenn Opa tot ist. Bist Du denn gar nicht traurig?!“ Die Eltern sind entsetzt.

Früher habe ich immer wieder aufgeklärt: Kinder trauern anders. Es ist normal, wenn Kinder spielen. Das hebt ihre Trauer nicht auf. Aber es wäre falsch, deswegen mit ihnen zu schimpfen oder ihnen Vorwürfe zu machen. Männer trauern anders als Frauen. Kinder trauern anders als Erwachsene. Und es ist gut, das zu wissen, damit man auf gute Weise beieinanderbleiben kann.

All das ist richtig. Doch heute sage ich: Wir Erwachsenen sollten von den Kindern lernen.

Kinder können noch viel mehr als wir Erwachsenen auf ihre Gefühle hören. Wenn Kindern die Trauer zu viel wird, steigen sie aus und gehen spielen. Und wenn sie genug gespielt haben, können sie auch wieder traurig sein.

Und wir Erwachsenen? Viel zu oft haben wir verlernt, auf unsere Gefühle und Bedürfnisse zu achten. Wir merken oft nicht mehr, wann wir uns selbst überfordern. Dann trauern manche von uns, bis sie zusammenbrechen. Wenn ein lieber Mensch gestorben ist, verbieten sie sich alles, was das Leben schön machen könnte. Die Sonne scheint, aber sie gönnen sie sich nicht, sich daran zu wärmen.

Lernen wir von den Kindern: Wenn es zu schwer wird, dürfen wir aussteigen und auftanken. Was tut uns gut? Lasst es uns genießen! Wir brauchen es, um Kraft zu schöpfen. Wir dürfen Kraft schöpfen! Damit es uns gut geht. Damit wir mit unserer Trauer leben können.

Bernd Kehren, Pfarrer

2. Vorsitzender von NEST e.V.


  • Diese Kolumne erscheint seit Anfang 2015 im Abstand von vier Wochen im Euskirchener Wochenspiegel. Wir danken der Redaktion für diese Möglichkeit, auf NEST e.V. aufmerksam zu machen.

„Zeitgeist“ – Von 100 auf Tod in nahezu null Sekunden

Über die Totenstille des „Zeitgeist“-Vorwurfes

Immer wieder kann man erleben, wie in der Kirche (manchmal auch außerhalb von ihr) der Tod gepredigt wird.

Die Kurzform dieser „Predigt“ lautet: „Zeitgeist“.

Die Funktion dieser „Predigt“ ist, jegliche Reaktion auf eine Entwicklung, auf eine Idee, auf einen Missstand, auf eine Erkenntnis zu brandmarken und abzuwerten.
 
Auf den Vorwurf dieser Zeitgeist-Brankmarkung kann man wenig sagen. Der Vorwurf „Zeitgeist“ beendet jedes Gespräch.
 
Das ist kein Wunder. Denn dieser Vorwurf wird vom Tod regiert.
 
Wo der Tod regiert, gibt es kein Leben mehr. Keine Veränderung. Keinen Geist, der auf diese Veränderung reagieren müsste oder dürfte.
 
Wer „Zeitgeist“ vorwirft, predigt den Tod. Das Ende jeglichen Lebens. Das Ende von Kreativität und Phantasie.
 
Wer den „Zeitgeist“ vorwirft, predigt einen tödlichen Perfektionismus. Der weiß schon genau, was richtig und falsch ist. Der lässt keine Fehler mehr zu. Und wer sich zuerst bewegt, hat schon verloren.
 
Der „Zeitgeist“-Vorwurf maßt sich unerlaubt Macht über andere an. Wer diesen Vorwurf verwendet, weiß sich als etwas Besseres, stellt sich auf das Podest und verweist allen anderen einen Platz weiter unten zu. „Kusch, kusch, Zeitgeist, Zeitgeist, kusch, schweig, stör mich nicht, mich nicht und meine Totenruhe.“
 
Aber ich lebe. Und viele andere leben auch. Denken etwas Neues, sie erleben Altes neu, sie spüren die Veränderung, sie planen Veränderung, machen sich auf, wollen die Welt verändern, zu einem Besseren – auch wenn es nicht immer klappt. Als Gottes Ebenbilder sind wir erschaffen, kreativ, schöpferisch, verantwortlich, zu Entscheidungen befähigt.
 
Und dann immer wieder die Vollbremsung: „Zeitgeist!!“ hallt es, während das Gummi dieser Vollbremsung stinkend in die Nase steigt.
 
Das unterscheidet jene, denen der „Zeitgeist“ unter die Nase gerieben wird: Sie können und wollen nicht so rücksichtslos sein, dass sie einfach drüber fahren.
 
Es existiert ein Machtgefälle der Rücksichtslosigkeit. „Zeitgeist“ vorzuwerfen ist rücksichtslos. Es verhindert den Blick zurück, es verhindert, die Veränderung wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Wer „Zeitgeist“ vorwirft, will ewig gestrig bleiben. Das wäre nicht weiter schlimm. Die Zeit würde weiter gehen. Er verlangt aber genau dies auch von den anderen: Gestrig zu bleiben, zeitlos, ohne Entwicklung, tot.
Ein Vollbremsung vom Leben in den Tod. Von 100 auf Null in nahezu null Sekunden.
 
Mögen sie noch so laut „Zeitgeist, Zeitgeist“ rufen.
 
Ich wähle das Leben. Das Leben, das auch Fehler riskiert. Unperfekt, aber lebendig, auf Lebendiges reagierend.
 
Gottes Geist ist ein Geist der Lebenden, nicht der Toten. Gottes Geist ist ein Geist der Zeit. Mag sein, dass es in der Ewigkeit einmal anders ist. Ich weiß es nicht. Aber noch lebe ich, begeistert. In der Zeit. Mit dem Geist der Zeit.
 
Komm, lebe mit!

Wie lange darf ich trauern?

Wie lange darf ich trauern?

Die Hinterbliebenen trauern. Ein geliebter Mensch ist gestorben. Er fehlt. Tränen kommen. Manchmal auch Aggressionen, die man so nicht kannte. Trauer hat ganz viele Gesichter. Freunde, Nachbarn und Angehörige nehmen gerne eine ganze Zeit lang Rücksicht.

Und doch kommt irgendwann die Frage: „Hört das denn nie auf mit der Trauer?“
Manchmal man sich mit dieser Frage auch selber unter Druck.

Ich frage manchmal zurück: „Willst du wirklich, dass die Trauer aufhört?“

Trauer kann als unangenehm empfunden werden. Man teilte so viele gemeinsame Erinnerungen. Nun ist man mit diesen Erinnerungen allein. Weil das wehtut, möchte man, dass die Trauer endet. Aber andererseits kann und will man auf diese Erinnerungen nicht verzichten. Man erinnert sich doch gern an diesen Menschen. Ihn zu vergessen kommt gar nicht infrage.

Genau darin besteht das Problem: Man will einen geliebten Menschen nicht vergessen. Aber die Trauer hätte nur dann ein Ende, wenn genau das passierte: Zwei widersprüchliche Wünsche, die einen innerlich zerreißen.

Wie wäre es, wenn Sie Tränen nicht negativ als Kontrollverlust verstehen, gegen den man sich wehrt, sondern positiv als etwas Verbindendes. Der Tod konnte mir diesen Menschen nehmen, aber die Tränen kann er mir nicht nehmen. Sie sind und bleiben etwas, das mich mit einem geliebten Menschen verbindet. Und mit den Tränen freue ich mich über gute Erinnerungen.

Darüber hinaus sollte man sich die Erlaubnis geben, neue Erfahrungen zu machen. Welcher Verstorbene würde wollen, dass wir in Trauer versinken und uns nicht mehr des Lebens freuen?! Sagen unsere Verstorbenen uns nicht: „Geh auf andere Menschen zu!“ Oder: „Lass die Sonne in Dein Herz!“

Je mehr wir neue gute Erfahrungen zulassen oder aktiv auf sie zugehen, desto weniger tut die Trauer weh. Die Trauer muss sich dann den Platz mit anderen guten Gefühlen teilen. Sie kann dann zu einem guten Teil unserer Erinnerungen werden. Und in Gedanken können wir dem sagen, um den wir trauern: „Freust Du Dich mit mir darüber, wie gut es mir gerade geht?“

Ich wünsche Ihnen, dass sie einen guten Zugang zu Ihrer Trauer finden.

Bernd Kehren
2. Vorsitzender von NEST e. V.
www.nest-euskirchen.de