Ein Koffer für die letzte Reise

Ein Koffer für die letzte Reise
Der Bestatter Fritz Roth aus Bergisch-Gladbach lud 100 Menschen ein, einen “Koffer für die letzte Reise” zu packen.
Roth will herausfordern, sich über Sterben, Trauer und Tod Gedanken zu machen. Wer würde mitmachen?

Infos zum Projekt

Ich fand den Gedanken spannend, selber einen solchen Koffer zu packen. So manche Beerdigung habe ich selber gehalten, mir Gedanken gemacht.

Aber:

“Das letzte Hemd hat keine Taschen.” Wirklich mitnehmen kann man nichts, es kann meiner Meinung nach “nur” um Symbole gehen. “Nur”?

“Der Tod ist wie der Mond – niemand hat seinen Rücken gesehen” lautet ein Sprichwort in Afrika; Jürgen Thiesbonenkamp hat es als Titel für seinen Vergleich von Bestattung und Totengedenken in Kamerun und Deutschland gewählt.

Niemand weiß, was nach dem Tod sein wird. Ich weiß es auch nicht, auch wenn ich Pastor bin.

Und je genauer ich es mir vorstelle, desto größer sind die Widersprüche, in die ich mich dabei verwickle. Einfach so weitergehen wie hier auf der Erde kann es wohl nicht. Aber jede kleine Veränderung der Umstände führt dazu, dass ich es mir insgesamt doch nicht vorstellen kann. Es ist wohl besser, sich kein Bild davon zu machen.

Und wenn doch, dann nur unter der Voraussetzung, dass ich Bild und Realität des Lebens nach dem Tod immer sorgfältig unterscheide.

“Jetzt sehe ich nur durch einen Spiegel”, verschwommen und unscharf. Erst später einmal wird das Bild scharf werden. Wenn es dann noch so etwas wie Bilder gibt. Das ist das Risiko, das Glaubende eingehen. Es kann auch alles ganz anders sein.

Wenn ich mir das klar mache, kann ich viel leichter die Bilder auf mich wirken lassen, kann ich die Bilder ausmalen, kann ich mich davon trösten lassen.

Ursprünglich wollte ich Gegenstände hinein tun, die zu diesen Bildern passten. Bilder aus Psalm 23. Ein kleines Schaf vielleicht, einen Hirten…

Aber erstens war der Koffer, der dann eines Tages geliefert wurde, für einige der Gegenstände zu klein.

Und zweitens konnte ich nicht reale Dinge einzupacken, wo ich doch denke, dass ich über den Tod nur in Bildern sprechen und denken kann.

Also Bilder…

Und so entstand der Koffer.

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In der Mitte: Eine aufgeschlagene Bibel mit Psalm 23.

Dazu Bilder mit Assoziationen zu diesem Psalm.

Da findet sich ein Hirte. Eine “Biblische Erzählpuppe”, wie ich sie hin und wieder in Altenheimen verwende. Viele Menschen in den Gottesdiensten sind dement. Theoretische Gedanken verstehen sie nicht mehr besonders gut. Aber für Gefühle und  Stimmungen sind sie sehr aufgeschlossen. Mit “Biblischen Erzählpuppen” kann man Gefühle gut ausdrücken. So wurde eine dieser Puppen zum “Guten Hirten”, der seine Schafe weidet. Ein solches Schaf war als Handpuppe auch schon einmal im Gottesdienst dabei.

“Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln…” Ein schönes Bild für die Geborgenheit bei Gott. Ein schönes Bild für das Leben jetzt und nach dem Tod…

Es gibt jemanden, der aufpasst, der dabei ist, der mich hört. In guten und in schlechten Zeiten…

Die meisten der Gottesdienste in meinen Heimen sind Abendmahlsgottesdienste. So finden sich auf dem dritten Bild Kelch und Patene mit Oblaten und ein Gedeck mit unserem guten Geschirr. Ein herzliches Dankeschön an die Schwiegereltern, die uns nach der Hochzeit beim Kauf unterstützten.

“Du deckst vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkst mir voll ein.”

An vielen Stellen im Neuen Testament ist Jesus zu Gast, er trinkt und isst und hat Gemeinschaft. Er macht deutlich, wie nahe Gott ist. So wie die Gastfreundschaft auch im Alten Testament immer wieder eine wichtige Rolle spielt.

Gott lädt ein. Auch im Angesicht der Feinde. Auch im Angesicht des Todes.

Eines der schönsten Bilder der Bibel ist für mich das Gastmahl oder das Hochzeitsmahl am Ende der Zeiten.

Voller Genuss. Zusammen mit vielen anderen Gästen. Mit Gästen, die ich lange nicht gesehen habe. Mit Gästen, die ich noch nie gesehen habe, aber denen ich nun persönlich begegnen kann. Es gibt da einige, die ich noch sprechen würde, die aber leider nicht mehr leben. Auf dieses Festmahl freue ich mich schon.

Und feiere Abendmahl. Das kleine Stück Brot, der Schluck Wein (im Heim tauche ich immer die Oblate in den Wein), sie symbolisieren das große Gastmahl und nehmen uns jetzt schon mit dahin. Jesus Christus ist der Gastgeber, er stärkt uns auf eine ganz eigene Weise.

Und so fanden Kelch und Patene einerseits und das Gute Geschirr andererseits den Weg in den Koffer. Herzlichen Dank auch der Christuskirchengemeinde in Zülpich, die mir und den Gottesdienstbesucherinnen und -besuchern Kelch und Patene immer wieder ausleiht für die Gottesdienste in den vielen Heimen.

Die grünen Auen – ein Blick in unseren bunten Garten im Frühling. Ein Blick auch auf eine der Burgen aus dem letzten Sommerurlaub. Es sind schöne Bilder, die einladen zum Leben.

“Wenn ich auch wanderte im finsteren Tal…”

Ein Bild bleibt dunkel.

Immer wieder sagen mir Menschen, dass sie nun alt genug geworden sind. Nun würden sie gerne sterben, aber sie wissen nicht wann und wie.

Und andere sterben viel zu früh, wie das siebzehnjährige Mädchen, dessen Reanimierung fehlschlägt und dessen Freund und dessen Eltern  ich trösten musste.

Es gibt sie, diese finsteren Täler, und ich bin froh, dass die Bibel auch diese Bilder nicht verschweigt oder ignoriert. Das macht diese Bilder für mich so glaubwürdig.

Aber sie machen Mut. Jemand begleitet mich. Viele Menschen, aber auch sie sind Ebenbilder Gottes, auch sie repräsentieren den auferstandenen Christus; er selbst, der Auferstandene und in den Himmel Aufgefahrene (auch so ein schönes Bild) ist mit uns im Hier und Jetzt und begleitet uns…

“Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang und ich werde bleiben im Hause des Herrn immerdar.”

So manche und mancher musste sein eigenes Haus verlassen und lebt nun im Seniorenheim. Das Zimmer im Hause des Herrn wird niemand mehr verlassen müssen. Auch dafür stehen die Bilder vom Garten und von der Burg…

Ich freue mich, dass ich bei diesem Projekt mitmachen darf.

Koffer und ein Begleittext sind in der Ausstellung an verschiedenen Orten zu sehen, zusammen mit 102 anderen. Am 19. Mai 2006  wurden sie in Bergisch-Gladbach der Öffentlichkeit vorgestellt.

Manche sehr kunstvoll, manche ganz leer, manche witzig, manche abstoßend oder verärgernd.

Und man kann sie zuhause sehen. Der Katalog der Ausstellung ist unter dem Titel “Einmal Jenseits und zurück” im Gütersloher Verlagshaus erschienen.

Und ich würde mich freuen, mit Besucherinnen und Besuchern meiner Homepage darüber ins Gespräch zu kommen.

Vielleicht unterstützt mich ja auch der eine oder andere in den Heimen. Es tut gut.

Es tut gut, sich über Tod und Leben Gedanken zu machen.

Am meisten beeindruckt hat mich dabei Manfred Elzenheimer, ein Fleischermeister, der nichts in den Koffer nahm als Zettel mit vier Worten. “Nein”, “Entschuldigung”, “Danke” und “Liebe”. Bei jedem der Tiere, die er schlachtet, möchtet er für sich und das Tier die Würde bewahren. Phillip Engel hat ihn und die Designstudentin Joa begleitet, als sie ihren Koffer packten, und einen schönen Film gedreht: Einmal Jenseits und zurück. (Erstausstrahlung am 15. Januar 2006 in der ARD – Leider wegen des Rundfunkstaatsvertrags nicht mehr abrufbar).

Das Buch zur Ausstellung ist im Buchhandel für 19,95 Euro erhältlich.
Fritz Roth (Hrsg.), Einmal Jenseits und zurück. Ein Koffer für die letzte Reise.
2006 Güterloher Verlagshaus. ISBN 3-579-03251-8

Gott widersprüchlich?

In “Kurz gefragt” (Chrismon 02/2008) fragt ein Leser danach, warum Gott die bösen Menschen in der Sintflut mit dem Tode bestraft und sich damit selber nicht an das Tötungsverbot hält, dass er nun selber erlässt.

Burkhard Weitz beginnt seine Antwort darauf mit den Worten:

„Die Bibel ist voller Widersprüche. Sie ist eben nicht verbal inspiriert, sondern von Menschen geschrieben.“

Dieser Satz hat eine Voraussetzung: Gott ist ohne Widersprüche. Widersprüchliches muss dann vom Menschen kommen.

Was wäre eigentlich, wenn wir erkennen, dass Gott sehr wohl widersprüchlich sein kann? Unfassbar? Rätselhaft? Manchmal auch brutal?

Könnte diese Erkenntnis uns Menschen nicht vielleicht sogar entlasten, weil wir auch widersprüchlich sein dürfen? Eben: Von Gott geliebte Sünder?

Was wäre eigentlich, wenn in diesem Sinne die widersprüchliche, von Menschen geschriebene Bibel tatsächlich „verbal inspiriert“ ist, damit wir Menschen bescheiden werden, unserem Perfektheitswahn (an dem wohl jeder hin und wieder leidet) den Abschied geben und erkennen, wir können nur als Gemeinschaft der Unperfekten leben und lieben?

Du sollst dir von Gott kein Bildnis machen. Auch nicht das Bild des unfehlbaren und widerspruchsfreien Gottes. Glaube ich.

Bernd Kehren
03.02.2008

Passion 2016 in Deutschland

Passion 2016 in Deutschland

Gedanken am Montag nach den drei Landtagswahlen in Deutschland.

Erschrecken
Einfache Antworten
Abgrenzung, Ausgrenzung, Merkel muss weg
Man wird doch wohl noch sagen dürfen!
Oder sind Sie etwa gegen Demokratie?
Lügenpresse…
Früher riefen Sie:
Ans Kreuz mit ihm!
Zum Glück nicht alle
Aber die Mehrheiten waren gerade so
Die Mehrheiten und die Macht
Und dann hing er da oben
Am Kreuz
Der Friedensstifter
Der Versöhner
Der auch an die anderen im Blick hatte
Die da unten
Die Abgehängten

Sind wir wieder auf dem Weg dorthin?
Wer ist heute abgehängt?
Flüchtlinge?
Wer sucht Sicherheit?
Sicherheit vor einer komplexen Welt
Sicherheit vor den Globalisierungsverlieren
Sicherheit vor den Traumatisierten
Sicherheit vor den Bombardierten

Wer sagt laut und deutlich:
Es gibt keine Sicherheit
Wer sagt laut und deutlich:
Das Leben ist unsicher. Das Leben bleibt unsicher. Das Leben wird immer unsicher bleiben.
Nur eines bleibt sicher:
Es geht nicht
ohne Krankenhäuser und Friedhöfe
Zum Glück
werden viele gesund entlassen
Zum Glück gehen wir oft nur zu einem Besuch dorthin

Zum Glück glauben wir:
Der eine geht mit.
Der vom Kreuz.
Mit den Abgehängten.
Mit denen, die ihn aufhängten.

Zum Glück glauben wir:
Der eine geht mit
Mit uns
Mit denen
Mit Tätern
Mit Opfern

Einmal werden wir alle froh sein

Bis dahin
Hoffentlich sind es nur
Ganz wenige
Schläge
Schläge auf die Nägel
Im Kreuz

Darum bitten wir
Und um Versöhnung
Mit denen
Die wissen
Und denen
Die nicht wissen
Was sie tun.
Um Versöhnung
Bitten wir

Amen.

Bernd Kehren

Pfingsten & Angst

Und Pfingsten war die Angst weg?

“Pfingsten sprengt doch verschlossene Türen auf, reißt ängstliche Jünger von ihren Hockern und treibt sie hinaus in die Öffentlichkeit.” So lese ich es in einer Arbeitshilfe zu Pfingsten 2007, so ähnlich höre ich es im WDR-Fernsehen: Ein Priester erklärt darin, was Pfingsten ist, weil viele Menschen es nicht mehr wissen.

Nur:

Dass die Jüngerinnen und Jünger zu Pfingsten ängstlich in ihren Zimmern gehockt hätten, davon steht in der ganzen Bibel nichts.

Richtig ist: Zu Ostern hatten die Jüngerinnen und Jünger Angst vor dem, was kommt und Angst vor dem, was sie an unglaublichen Neuigkeiten gehört haben. In den Ostergeschichten schließen sie sich ein. In den Ostergeschichten kommt Jesus mit den Worten “Friede sei mit euch”. In der Thomasgeschichte im Johannesevangelium ist von den verschlossenen Türen die Rede.

Richtig ist aber auch: Diese Begegnung war ausgesprochen trostreich. So heißt es bei Lukas in der Himmelfahrtserzählung:

“Sie aber beteten ihn an und kehrten zurück nach Jerusalem mit großer Freude und waren allezeit im Tempel und priesen Gott.”

Da hört man nichts mehr davon, die Jüngerinnen und Jünger hätten sich eingeschlossen: Im Gegenteil, sie gehen öffentlich in den Tempel, sie wissen, dass Jesus Christus auferstanden ist, sie loben Gott und warten auf den versprochenen Heiligen Geist.

Bis zur Kindergottesdiensthelfer-Tagung in Duisburg vor einigen Jahren dachte ich auch noch, dass sich die Jünger bis Pfingsten erschrocken und verängstigt in ihren Räumen eingeschlossen hätten.

Es war die Jüdin Chana Safrai, die an diesem Pfingsttag davon erzählte, was Juden am ShWU’OTh-Fest tun, dem großen Fest nach Pessach. Pessach ist das Fest der Erinnerung an den Auszug aus Ägypten. Shawouth erinnert an die Verkündung der Gebote an Mose am Sinai. Und so lesen fromme Juden zu Shawouth den ganzen Tag in der Tora, in den fünf Büchern Mose. Das darf man nicht als fromme Pflicht verstehen, die man unter Mühen auf sich nimmt. Chana Safrai erzählte die Geschichte von den zwei frommen Juden, die mal “richtig einen draufmachen wollten”, und sie beschlossen – in der Tora zu lesen. Sie suchten sich eine Herberge, vertieften sich in die Schriften, sie lasen und diskutierten, sie wurden von Gottes Geist erfüllt und gerieten dabei so sehr in Extase, das es zu rauchen begann und Flammen aus dem Zimmer schlugen. “Haltet ein!”, rief der Wirt, “wollt ihr meine Herberge abbrennen?”

Flammen, war da Pfingsten nicht etwas mit Flammen? Auf dem Hintergrund dieser Anekdote, auf dem Hintergrund, dass fromme Juden zum Pfingstfest in der Bibel lesen, und dass Extase und Bibellesen keine Widersprüche sind, auf den Hintergrund der Himmelfahrtserzählung des Lukas kam Chana Safrai zu dem Schluss: Auch die Jüngerinnen und Jünger lasen als überzeugte Juden voller Erwartung auf den Heiligen Geist in der Tora. Nicht verzagt, sondern froh. Und wenn das Neue Testament vom Heiligen Geist in Form von Flammen erzählt, der sich auf die Männer und Frauen setze, die sich an diesem Tage alle in einem Raum versammelt hatten, dann wunderte das diese Jüdin aufgrund ihrer eigenen Tradition nicht.

Ich finde es immer wieder spannend, wie sich in der Begegnung mit dem Judentum überraschende Einsichten auftun. Immer wieder merke ich, dass sich in unseren Köpfen christliche Interpretationen festgesetzt haben, die im Widerspruch zu dem stehen, wie es in der Bibel steht.

So findet sich nirgends in der Bibel die Behauptung, in einem jener Länder, in denen die Gastfreundschaft sprichwörtlich ist, hätte ein böser Wirt (oder sogar zahlreiche Wirte) einer hochschwangeren Frau die Tür vor der Nase zugeschlagen. Wer die Häuser damals kennt, mit dem Eingangsbereich für Tiere und dem erhöhten Wohnbereich im hinteren Teil der Wohnung, der wundert sich nicht über eine Futterkrippe in diesen Räumen, und der wundert sich auch nicht darüber, dass das Kind in Windeln dort hinein gelegt wird, “weil es sonst keinen Platz in dieser Herberge gab”. Für mich ist das traditionelle Krippenspiel inzwischen Tradition gewordener Antijudaimus, eine Beleidigung des Volkes, in dem die Gastfreundschaft zum obersten Gebot gehörte, wie man es an Geschichten wie über Lot und seine Gäste in 1. Mose 19 nachlesen kann. Leider wird man die durch zahlreiche Krippenspiele verfestigte Auffassung in absehbarer Zeit nicht korrigieren können.

Und es findet sich eben nirgends ein Beleg dafür, dass die Jüngerinnen und Jünger vor Pfingsten verzagt gewesen seien…

Bibellesen ist spannend, und immer wieder überraschend. Wir Christen sollten uns mehr darauf besinnen…

Bernd Kehren

siehe auch: Pfingstpredigt 2001

Patientenverfügung

Patientenverfügung

Bis vor kurzem war ich noch der Meinung, jeder sollte eine Patientenverfügung haben: Der mündige Patient überlegt sich rechtzeitig, wie der Arzt handeln soll. Zu oft hat man gehört oder vielleicht auch selbst erlebt, dass Ärzte den letzten Lebensfunken aus jemanden heraus-reanimiert haben, weil sie nicht damit fertig werden, dass auf ihrer Station auch einmal ein Patient stirbt. Und es klingt verlockend, dass der Arzt sich in jedem Falle an die Patientenverfügung halten muss.

Inzwischen bin ich vorsichtiger geworden. Wann ist man ein mündiger Patient? Reicht es, wenn man einen Erste-Hilfe-Kursus absolviert hat, oder muss man nicht doch mit einer Krankenschwester oder einem Krankenpfleger verheiratet sein? Sollte man gar Medizin studiert haben? Ich meine: Wofür studiert der Arzt oder die Ärztin denn eigentlich noch Medizin, wenn er oder sie in den schwierigen Fällen von seinem Patienten genau (oder auch nur recht schwammig) vorgeschrieben bekommt, was nun in genau diesem Falle zu geschehen hat, um diesem Patienten am besten gerecht zu werden? Woher will der “mündige Patient” lange Zeit vor dem befürchteten Ereignis wissen, welche Überlebenschancen er noch hat, welche Nebenwirkungen zu befürchten sind, nach wie langer Zeit der Bewusstlosigkeit oder sogar des Komas eine Besserung erwartet werden könnte?

Man muss es ganz klar sagen: Niemand kann das vorhersagen, und niemand ist in der Lage, auch nur annähernd genau eine Patientenverfügung zu verfassen, die vernünftigen Anforderungen entspricht. Eine solche Patientenverfügung müsste so dick sein wie der “Pschyrembel” (ein medizinisches Standard-Wörterbuch mit über 1800 Seiten). Darüber darf auch nicht hinweg täuschen, dass die Zahl der Vordrucke möglicher Patientenverfügungen die 200 überschritten hat.

Eine Patientenverfügung, die den Arzt in jedem Fall bindet, macht aus dem Arzt den Erfüllungsgehilfen des Todes: Er müsste lebenserhaltende Maßnahmen auch dann abstellen, wenn er  eine Wiederherstellung des Patienten erwarten müsste – und obwohl er den Patienten darüber nicht belehren konnte. Ich meine: Das kann und darf nicht sein.

Patientenverfügungen müssen dem Arzt einen Spielraum lassen, in dem er zusammen mit Vertrauenspersonen des Kranken nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden kann, wenn der Betreffende dazu selber nicht mehr in der Lage ist. Dazu sollten die betreffenden Menschen mit ihrem Arzt und ihren Vertrauenspersonen gesprochen haben. Wer eine Patientenverfügung ausfüllt, sollte sich möglichst konkrete Gedanken gemacht haben und diese in eigenen Worten beschreiben. Welche Krankheit habe ich vor Augen? Habe ich selber bei Bekannten Behandlungen erlebt, die ich als unerträglich belastend empfinde?

Wichtiger als eine Patientenverfügung ist in meinen Augen heute eine Vorsorgevollmacht, in der eine oder mehrere Vertrauenspersonen bevollmächtigt werden, über die eigenen Belange zu entscheiden, wenn man selber dazu nicht mehr in der Lage ist. Sie müssen wissen, welche Wünsche man hat, und es sicher gut, wenn diese Wünsche auch schriftlich niedergelegt sind. Aber für die konkrete Situation brauchen sie – um der eigenen Menschenwürde und der Würde dessen, der seinen Willen geäußert hat – einen Interpretationsspielraum.

Inzwischen sollte es selbstverständlich sein, dass Schmerzen mit Morphin oder anderen Schmerzmitteln gelindert werden, und dass dem Schwerkranken mit der Würde begegnet wird, die jedem Menschen zusteht. Die Hospizbewegung und die Palliativmedizin brauchen unbedingt jede nötige Unterstützung. Damit ist klar: Es geht nicht um Medizin um jeden Preis und auch nicht um eine Lebensverlängerung um jeden Preis. Auch das Sterben gehört zum Leben, auch das Sterben muss menschenwürdig bleiben.
Der letzte Papst, Johannes Paul II, hat das für mein Empfinden sehr vorbildlich vorgelebt. Er hat lange um sein Leben gekämpft. Bis Ostern 2005 gab es Stimmtherapie, den Segen Urbi et Orbi wollte er noch sprechen. Aber nicht vom Krankenzimmer aus, sondern von zuhause. Als das nicht mehr ging, beschloss er – so habe ich es über die Medien vermittelt erlebt – dass nun die ärztliche Kunst an ihre Grenzen gekommen ist. Er lebte in der Hoffnung auf das Ewige Leben, auf ein erfülltes Leben in der Nähe Gottes im Hier und Jetzt, das mit dem Tod nicht endet. In dieser Hoffnung konnte er leben und sterben.

Wir müssen den Sterbeprozess wieder nach Hause holen. In die Familie, in die eigenen vier Wände. Dazu braucht es ehrenamtliches Engagement in Hospizinitiativen, um Sterbende und ihre Familien zu unterstützen. Dazu braucht es Hospize und Palliativmedizin, also Medizin, die Leiden lindert und Symptome behandelt, wenn es keine Aussicht auf Heilung mehr gibt. Dazu braucht es Hausärzte, die im Umgang mit Demenz und Schmerzbehandlung geschult sind. Und es braucht eine öffentliche Aufmerksamkeit für die Tatsache, dass immer mehr Menschen alleine alt werden, ohne Kinder und soziale Absicherung durch die Familie.

Dazu braucht es auch eine Patientenverfügung, in der man bestimmte Themen wie PEG-Sonde, also künstliche Ernährung, und weitere Themen, mit denen man sich intensiv auseinander gesetzt hat, anspricht.

Aber eine zu 100 Prozent bindende Patientenverfügung, die dem Arzt, den Angehörigen oder Vertrauenspersonen keinerlei Ermessensspielraum lässt, wie in der aktuellen, so nicht vorhersehbaren Situation konkret im Sinne des Patienten entschieden werden soll, darf es meiner Meinung nach nicht geben.

Nachtrag 27.05.2013:

Ich bin jetzt auf das Buch “Patientenverfügung” von Thomas Klie und Johann-Christoph Student getroffen. Es sei eine Quadratur des Kreises, eine rechtlich zu 100 Prozent bindende Vorausverfügung zu machen, wenn sich die Rahmenbedingungen dafür ständig ändern und ändern müssen. Sie schlagen daher eine “Dialogische Patientenverfügung” vor:

“Wirklich zu leben bedeutet, im Dialog zu bleiben – mit sich selbst und anderen. …

Eine Patientenverfügung, die wirkliches Leben bis zum Ende zulässt, muss diesem urmenschlichen Bedürfnis nach Kommunikation gerecht werden und sie fördern.

Die meisten der gängigen Patientenverfügungen haben eher eine Tendenz, Kommunikation zu stören. Häufig sind sie abschließend, ‘definitv’, also letztlich unkommunikativ formuliert. Damit gefährden sie gerade das, was den meisten Menschen am Lebensende so sehr am Herzen liegt: Sicherheit und Selbstbestimmung. Nur wenn Patientenverfügungen dazu anregen, ja dazu auffordern, sich in den Dialog mit dem Schwerkranken zu begeben, können sie auch sichern, dass seine Wünsche und Bedürfnisse wirklich erfüllt werden.” (S. 175 ff.)

Die Autoren schlagen vor, rechtzeitig Anlässe für das Gespräch zu suchen und zu finden und mit den Menschen zu sprechen und Wünsche zu formulieren: “Wer soll für mich medizinischen Entscheidungen treffen, wenn ich dazu nicht mehr in der Lage bin? … Welche Art von medizinischer Behandlung wünsche ich jetzt noch? Wie soll für mein Wohlergehen gesorgt werden? Wie sollen Menschen in meiner Umgebung mit mir umgehen?” Was möchte ich Menschen mitteilen, die mir besonders wichtig sind? (S. 179-191 mit detaillierten Vorschlägen, wie solche Wünsche aussehen könnten)

Bernd Kehren

Literatur:

Vorsorge für Unfall, Krankheit und Alter
durch Vollmacht, Betreuungsverfügung, Patientenverfügung
Herausgegeben vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz
Als Download (bitte nach “Vorsorge Unfall” suchen!)
4,90 Euro
Verlag C.H. Beck

Besonders wichtig erscheint mir der Hinweis dieses Heftes, dass eine Vollmacht keinerlei Bedingungen enthalten sollte. Also nicht: “Für den Fall, dass ich geistig nicht mehr in der Lage sein sollte” o.ä., sondern: “Ich, n.n., bevollmächtige n.n.”
Einzelheiten dazu in diesem Heft

Patientenverfügung. So gibt sie Ihnen Sicherheit.
Thomas Klie / Johann-Christoph Student. Kreuz Verlag 2011
www.kreuz-verlag.de

Die persönliche Patientenverfügung
Ein Arbeitsbuch zur Vorbereitung mit Bausteinen und Modellen

Rita Kielstein, Hans-Martin Sass
LitVerlag Münster
www.lit-verlag.de

Das Wichtigere hieran ist die Einladung, sich mit konkreten Situationen auseinander zu setzen, um im zweiten Schritt eine eigene Verfügung formulieren zu können.
(Update des Textes am 25.09.2006 und am 27.05.2013)